Meinung

Amtsenthebung von Trump könnte "Dolchstoßlegende" wie 1918 in Deutschland fördern

Bei dem überstürzten Absetzungsverfahren gegen Trump geht es nicht um Rechenschaftspflicht, sondern um einen politisierten Theaterakt. Dieser wird die ideologische Kluft in den USA vertiefen und den Selbstmord der Union immer näher bringen. Ein Kommentar von Scott Ritter.
Amtsenthebung von Trump könnte "Dolchstoßlegende" wie 1918 in Deutschland fördernQuelle: AFP © Brendan Smialowski

von Scott Ritter

Nach einer Stunde der zweistündigen Impeachment-Debatte im US-Repräsentantenhaus wurde überdeutlich, dass Präsident Donald Trump dazu bestimmt ist, der erste US-Präsident zu werden, der sich zweimal einem Impeachment-Verfahren gegenübersieht. Von der Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi abwärts wurde dieser Punkt immer wieder betont, so als ob die politische Schmach, die sich aus dieser Tatsache ergibt, das Schlimmste wäre, was einem Menschen passieren könnte. Aber dieses Getue wurde durch die rhetorischen Antworten der Republikaner mehr als konterkariert, die den Präsidenten nicht so sehr verteidigten, sondern den Prozess im Repräsentantenhaus vielmehr als einen heuchlerischen Akt politisierter Punktemacherei attackierten.

Die Republikaner, so weit klar, sahen schon in dem ersten erfolglosen Versuch keine legitime Ausübung von Machtkontrolle – und wie die Dinge stehen, sieht es so aus, als ob die überwiegende Mehrheit von ihnen das Gleiche über den aktuellen Versuch denkt. Anstatt die Bemühungen der Demokraten im Repräsentantenhaus als den Versuch zu betrachten, den Präsidenten mit scharlachroten Buchstaben der Schande zu bepinseln, behandeln die Republikaner den Angriff auf Trump als einen Angriff auf sich selbst und diejenigen, die sie repräsentieren – deswegen geht es ihnen nun um ein Zeichen des Mutes.

Die gegen Trump ins Feld geführten "Articles of Impeachment" sind schwerwiegende Vorwürfe, die sich aus einem der schwärzesten Tage in der US-Politikgeschichte ableiten – der Stürmung und anschließenden Besetzung des US-Kapitols durch Tausende von Pro-Trump-Demonstranten am 6. Januar 2020. Diese hatten sich in Washington versammelt, um gegen das zu protestieren, was sie und der Präsident für die Bestätigung eines Wahlbetrugs durch den US-Kongress hielten, der Trump eine zweite vierjährige Amtszeit verwehre. Zum Zeitpunkt der Erstürmung tagte der Kongress in einer gemeinsamen Sitzung unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten Mike Pence, um die vom 12. Zusatzartikel der US-Verfassung vorgeschriebenen Aufgaben bezüglich der Auszählung der Stimmen des Wahlmännerkollegiums zu erfüllen. Es gibt wenige Zweifel daran, dass der Zeitpunkt der Aktion so gewählt wurde, um diese Zählung zu stören, sodass es per Definition ein Akt des Aufruhr war.

Ein Akt der Aufwiegelung an und für sich ist eine der schwersten Verbrechen, derer ein US-Bürger angeklagt werden kann. Obwohl dieser Vorwurf nicht der verfassungsrechtlichen Definition von Hochverrat entspricht, betrifft er eine verräterische Handlung, die eine entschiedene Antwort erfordert. Dies gilt umso mehr, wenn die der Aufwiegelung beschuldigte Person ein amtierender Präsident der Vereinigten Staaten ist. Die Verfassung der Vereinigten Staaten gibt dem Kongress ein Mittel für ein solches Verbrechen an die Hand – das Amtsenthebungsverfahren. Die Amtsenthebungsanhörung, die von Sprecherin Pelosi einberufen wurde, dient vordergründig diesem Zweck – den Präsidenten für seine Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen.

Das Problem, mit dem sich Pelosi und ihre demokratischen Kollegen konfrontiert sehen, ist jedoch, dass sie selbst die politischen Gewässer um Präsident Trump so vernebelt haben, dass jedes legitime Amtsenthebungsverfahren kaum mehr als ein politischer Racheakt zu sein scheint. Wie ihre republikanischen Kollegen in ihren leidenschaftlichen Antworten auf die vehementen Anschuldigungen der Demokraten wiederholt feststellten, wurden die Probleme, die die USA befallen haben, nicht an einem einzigen Tag – dem 6. Januar – geschaffen, sondern hatten ihre Wurzeln in einem politisierten Prozess der Delegitimierung der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016, der 19 Minuten nach seiner Vereidigung als Präsident begann.

Die meisten, wenn nicht alle Republikaner wurden von einer Wählerschaft ins Amt gewählt, die von führenden Demokraten wiederholt verunglimpft worden war. Ob Barack Obama 2008 die US-Amerikaner aus der Arbeiterklasse als "verbitterte" Menschen abtat, die "sich an Waffen oder Religion oder Antipathie gegenüber Menschen klammern, die nicht so sind wie sie (...) als eine Möglichkeit, ihre Frustrationen zu erklären" oder Hillary Clintons berüchtigter Fauxpas 2016, als sie erklärte, "sie können die Hälfte der Trump-Anhänger in den Korb der Erbärmlichen legen". Sie nannte diese Leute "rassistisch, sexistisch, homophob, fremdenfeindlich, islamophob – und so weiter" und stellte fest, dass Trump "sie aufgewertet habe".

Die Demokraten im Repräsentantenhaus, die zum zweiten Mal nach der Amtsenthebung Trumps rufen, gehen mit einem ähnlich groben Pinsel auf alle US-Amerikaner los, die 2020 für Trump stimmten – nach der letzten Zählung über 75 Millionen. Sie ignorieren auf eigene Gefahr die zweite Hälfte von Clintons Aussage, in der sie darauf hinwies, dass die andere Hälfte von Trumps Unterstützern das Gefühl habe, "dass die Regierung sie im Stich gelassen hat" und sie "verzweifelt für den Wandel" seien. "Das sind Menschen", erklärte sie weiter, "die wir auch verstehen und mit denen wir mitfühlen müssen."

Für viele republikanische Wähler war Trump der erste Politiker, der bei ihnen Resonanz auslöste, aus welchem Grund auch immer. Ihre Stimme für ihn war eher eine Ablehnung von Clintons Demokratischer Partei und dem Mainstream-Establishment der Republikaner denn eine gut durchdachte Entscheidung, die mit einer bestimmten Politik verbunden war. Trump "fühlte" sich richtig an, und sie "fühlten" sich besser, indem sie ihn unterstützten. Die Vorstellung, dass sich diese Wähler nach vier Jahren ungleichmäßiger Regierungsführung irgendwie von Trump abgewandt hätten, wurde durch die Tatsache widerlegt, dass im Jahr 2020 zwölf Millionen mehr US-Amerikaner für ihn stimmten als im Jahr 2016. Das Phänomen Trump war und ist real.

Trump verdient ein ordentliches Verfahren. Die Verfassung, die die Demokraten gegen ihn ins Feld führen, verlangt es. Das aktuelle Verfahren, das so, wie es ist, auf politischem Zwang aufbaut (Pelosis Bemühung, Vizepräsident Pence zur Anwendung des 25. Zusatzartikel zu zwingen), ist ein rein politischer Akt, der darauf aus ist, die politische Lebensfähigkeit Trumps und der Bewegung, die er führte, zu zerstören. Weil die Demokraten eher Rache als Gerechtigkeit suchen, sind ihre Bemühungen zum Scheitern verurteilt.

Die Logik diktiert, dass das politische Äquivalent zu Newtons drittem Gesetz der Physik – für jede Aktion gibt es eine gleiche und entgegengesetzte Reaktion – hier in voller Wirkung gilt. Das einzige Ergebnis dieser Übung wird mehr Rückschlag und Spaltung sein, Glaube und Wunsch schließen sich nicht gegenseitig aus; die Demokraten sind durch ihren Hass auf Trump und seine "Erbärmlichen" in einem solchen Ausmaß geblendet, dass auf eine normale Kausalanalyse verzichtet wird. Die Demokraten riechen Blut und machen sich bereit "zu töten", erkennen jedoch nicht, dass sie in eine Falle tappen, die sie selbst installiert haben.

Um die Natur dieser Falle besser zu verstehen, muss man nur in die Geschichte blicken. Im Jahr 1918 wurde die deutsche Armee auf dem Schlachtfeld besiegt. Zensur und die Verbreitung falscher und irreführender Informationen machten die deutsche Bevölkerung blind für diese Realität. Sie traute den Worten ihrer gewählten Vertreter nicht, weil keine brauchbaren Beweise für diese Niederlage präsentiert wurden, was zu einer kognitiven Dissonanz führte, die eine völlige Leugnung des militärischen Debakels zur Folge hatte. Diese Denkweise wurde durch Aussagen deutscher Führer gegenüber heimkehrenden Soldaten verstärkt, dass "kein Feind Sie besiegt hat". So entstand die "Dolchstoßlegende", aus der die Nazi-Partei von Adolf Hitler ihre Motivation und Stärke bezog.

2020 scheiterte Trump mit seiner Wiederwahl. Vier Jahre Anti-Trump-Widerstand durch die Demokraten im Kongress, kombiniert mit einer Anti-Trump-Einstellung in den Mainstream-Medien, hatten die Trump-Anhänger darauf konditioniert, diesen Wahlergebnissen zu misstrauen. Die Zensur nach der Wahl, die jede Diskussion über die Legitimität des Wahlergebnisses 2020 unterbindet, schürt nur das Misstrauen und die Bedenken der Trump-Anhänger. Dieses Misstrauen wurde durch die wiederholten Äußerungen des Präsidenten und seiner Anhänger noch verstärkt, dass ihnen die Wahl gestohlen worden sei.

Die USA taumeln am Rande eines politischen Abgrunds, von dem es, einmal überquert, kein Zurück mehr geben wird. Wenn 75 Millionen US-Amerikaner glauben, dass ihre politische Zukunft von rachsüchtigen Politikern im Kongress zunichte gemacht wird, dann wird das ideologische Fundament für die Geburt einer US-amerikanischen "Dolchstoßlegende" gelegt, die eine geteilte Nation hervorbringen wird, die unfähig sein wird, sich jemals wieder zu vereinen.

Die Demokraten im Repräsentantenhaus haben die Möglichkeit zur Vereinigung ignoriert, zum Schaden der Nation. Nachdem das Repräsentantenhaus den Vorsitz über ein "Gericht des kurzen Prozesses" geführt hat, das ein politisiertes Eilurteil anstrebt, wird es die Angelegenheit nun dem US-Senat zur weiteren Durchführung der Angelegenheit übergeben. Chuck Schumer, der demokratische Minderheitenführer im Senat, fordert, dass das Verfahren und die Verurteilung noch vor der Amtseinführung von Joe Biden am 20. Januar 2021 stattfinden sollen. Der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, täte gut daran, diesem Aufruf zu widerstehen.

Sobald der Präsident sein Amt regulär verlassen hat, kann der Senat die Art von evidenzbasierten Untersuchung durchführen, die das Repräsentantenhaus unterlassen hat. Eine solche Untersuchung sollte jeden Aspekt der Bedingungen untersuchen, die zu den Ereignissen des 6. Januar 2020 führten. Nur so können die Vereinigten Staaten die Falle vermeiden, einer "Dolchstoßlegende" Leben einzuhauchen, die im Laufe der Zeit nur wachsen wird und das US-Experiment der repräsentativen Demokratie zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung seines eigenen Untergangs verdammt.

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Übersetzt aus dem Englischen. Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie. Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, und war während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf tätig. Von 1991 bis 1998 war er als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Als Autor schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Auf Twitter findet man ihn unter @RealScottRitter.

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