Ende eines Mythos? Die Luftfahrt in der größten Krise ihrer Geschichte
von Dr. Karin Kneissl
Lange galt die Fliegerei als die Branche der Superstars. Pilot oder Stewardess zu werden, ist für viele Menschen der Traumberuf schlechthin. Exzellentes Image und gut bezahlt, immer auf Reisen. Vieles hat sich aber nicht erst mit dem Aufkommen von Billigairlines, Dumpinglöhnen für das Flugpersonal und intensiven Arbeitszeiten radikal gewandelt. Die goldenen Jahre dieser Branche gingen meines Erachtens bereits vor 50 Jahren zu Ende. Als die Charterflüge starteten, war das spezielle Flair dahin. Touristen in Sandalen und Shorts lösten das einst elegante Publikum auf den Linienflügen ab. Prominenz, ob aus Politik oder Kultur, ging zum Bedarfsflieger über.
Die Ölkrisen der 1970er-Jahre wirbelten einiges auf. Ich erinnere mich an meinen Vater, einen ehrgeizigen jungen Piloten, der plötzlich arbeitslos zu Hause saß, da im Jahr 1973 auch die Luftfahrt unter der Explosion der Erdölpreise litt. Flugpersonal wurde im großen Stil entlassen, die Stimmung war eine der Niedergeschlagenheit.
Übernachtete die Crew einst noch in Paris oder im lebenslustigen Beirut der 1960er-Jahre, bevor es retour ging, so ist bereits seit Jahrzehnten der Rhythmus ein völlig anderer. Tempi passati sind jene Zeiten, als Fliegen etwas Besonderes war. Auf vielen Busbahnhöfen ist die Stimmung entspannter als auf den meisten Flughäfen, wo wir seit den Anschlägen vom 11. September 2001 einen Parforceritt durch Sicherheitskontrollen machen. Mit der Klimaschutzbewegung kam dann in einigen europäischen Staaten ab dem Jahr 2017 die sogenannte "Flugscham" hinzu. Laut diesem Trend aus Schweden möge es also jedem, der sich für eine Flugreise entscheidet, infolge der Emissionen peinlich sein, überhaupt in ein Flugzeug zu steigen. Die Reisebranche bekam in einigen Staaten diese neue Tendenz schnell zu spüren.
Es drohen Konkurse und Monopolisierung
Nun aber ist seit März dieses Jahres die Luftfahrt mit der größten Krise ihrer Geschichte konfrontiert. Hunderttausende Mitarbeiter wurden entlassen, staatliche Rettungspakete geschnürt und über allem schwebt die Unsicherheit, wie es wohl weitergehen mag. Der Sommer, als die Hochsaison der Fliegerei, ist mager, denn die Pandemie zieht sich hin, das Virus mutiert, und die befürchtete zweite Welle hält die Menschen davon ab, überhaupt zu reisen. Mit erhöhter Temperatur an Bord erscheinen und dann womöglich nicht mitfliegen zu dürfen, schreckt zu Recht ab. Wir wandeln lieber im Umkreis unserer Wohnorte, irgendwie hat so mancher den Lockdown sehr verinnerlicht. Eine gewisse "Kirchturmmentalität" greift um sich. Vorbei scheint die Zeit des so leichten und mühelosen Reisens, das in Supermarkt-Reisekatalogen oder eben per Internet allgemein zugänglich war.
Die Pandemie 2020 hat uns zur Immobilität verpflichtet. Weltweit mussten Konzerne ihre Flugzeuge "grounden", sie blieben am Boden – und das für drei Monate. Es war ein 99-prozentiger Ausfall, denn nur rund ein Prozent der Maschinen blieb für den Transport von Schutzmasken et cetera in der Luft. Darauf konnte sich keine Firma vorbereiten. Und dennoch hieß es seitens mancher Regierung gegenüber Einzelpersonenunternehmen sowie auch Mittelständlern: Man muss Reserven für drei Monate haben.
Ab Mai 2020 wurden Airlines weltweit durch staatliche Maßnahmen gerettet, wobei der Staat so manche Auflage aushandelte oder verordnete. Besonders weit reicht vorerst der staatliche Arm Frankreichs, wenn es um die zukünftige Konzernpolitik von Air France-KLM geht. So sitzt der Staat im Cockpit bei der Gestaltung der Streckenpläne wie auch zukünftiger Treibstoffnutzung.
Nunmehr gleicht die Zukunft der Luftfahrt aufgrund der Achterbahn der Aktientitel fast einem Kasino, denn so mancher Investmentfonds wie US Global Jets ETF unternimmt Wetten auf eine rasche Erholung der Branche. Doch wie viele Menschen wollen und können rein wirtschaftlich ihr gewohntes Flugverhalten wiederaufnehmen? Die Businessflüge werden weiter einbrechen, denn die während des Lockdowns stark genutzten Videokonferenzen werden die Praxis der Geschäftsreisen nachhaltig verändern. Hinzu kommt möglicherweise ein verändertes Urlaubsverhalten aufgrund anhaltender oder wiederkehrender Gesundheitsrisiken. Andererseits liegt auch in der Luftfahrt der Wachstumsmarkt in Asien, wo unter anderem in China die Binnenflüge stark zugenommen haben. Ebenso bestehen in einem Land wie Indien aufgrund der schieren Größe und der Mobilität der Menschen auf der Suche nach Arbeit noch Wachstumsmöglichkeiten in der Branche. Dennoch vollführten in beiden Ländern ausgerechnet in diesem Wirtschaftszweig einige schillernde Firmenchefs wie jene der chinesischen HNA Group eine Bruchlandung mit Konkurs.
Der internationale Branchenverband IATA erwartet für das Jahr 2020 einen Einbruch von 50 Prozent beim Passagieraufkommen und kumulierte Verluste von mehr als 250 Milliarden US-Dollar. Zum Vergleich: Die Einbußen für US-Fluggesellschaften infolge der Anschläge vom 11. September wurden auf fünf bis 15 Milliarden US-Dollar geschätzt. Hinzu kommen die ohnehin schon hohen Schuldenstände in vielen Unternehmen, die aufgrund der geringen Margen schon seit Jahren nicht mehr in der Lage sind, ihre Kapitalkosten zu decken. Billigairlines wie Ryanair hingegen haben viel weniger Fremdkapital.
Die Flugzeughersteller Airbus und Boeing, und damit die gesamte Zulieferindustrie wie hoch spezialisierte Nischenunternehmen im Stahl- und Informatik-Bereich, sind von den Einschnitten betroffen. Es mangelt nicht an Superlativen, wenn von der schwersten Krise, welche die Luftfahrt je erlebt hat, die Rede ist, so Airbus-Konzernchef Guillaume Faury. Auch hier werden rund 15.000 von 135.000 Arbeitsplätzen gestrichen. Konkurrent Boeing entlässt 16.000 Mitarbeiter. Beide Unternehmen haben dank staatlicher Subventionen ihre Probleme in der Vergangenheit mehr kosmetisch als grundsätzlich gelöst. Der Abschwung war schon vor der Corona-Krise präsent. Für die Zulieferer wird mit Folgen für mehr als 160.000 Arbeitsplätze gerechnet. Schwer betroffen sind auch österreichische Vorzeigebetriebe wie FACC, deren Hauptkunden Boeing und Airbus sind. Da sich in dieser Umbruchphase manches neu ordnet, könnte der chinesische Flugzeugbauer Comac profitieren. China hatte sich wie viele andere Staaten von Boeing abgewandt, nachdem offensichtliche Konstruktionsfehler für Abstürze ursächlich waren. Zur Kapitalkrise dieser Unternehmen hatte sich eine Vertrauenskrise hinzugesellt.
Für den US-Investor Warren Buffett, Jahrgang 1930, hat die Luftfahrt keine Zukunft. Seine Investmentgesellschaft Berkshire Hathaway hat im Mai 2020 sämtliche Beteiligungen an den vier größten US-amerikanischen Fluggesellschaften Delta Air Lines, United Airlines, Southwest Airlines und American Airlines mit Verlust verkauft, was deren Sinkflug in der Bewertung trotz der niedrigen Kerosinpreise beschleunigte. Nun mag man Buffett für eigenwillig halten, aber er handelt stets mit viel Gespür für bestimmte Entwicklungen. Als Nächstes will er in die Erdgasbranche einsteigen – offenbar hält er diesen fossilen Energieträger langfristig für sicherer als die Luftfahrt.
Marktbeobachter verweisen auf eine raschere Erholung der Luftfahrtindustrie als im Automobilsektor, der möglicherweise erst im Jahr 2030 wieder auf das Vorkrisenniveau zurückkehrt. So soll ab dem Jahr 2023 die Nachfrage nach Flugreisen wieder steigen, was die Verfügbarkeit neuer Flotten erfordern würde. Derzeit sieht es aber nach einem Kahlschlag in den US-amerikanischen und europäischen Unternehmen aus. Dies wird auch die Ausbildung von Nachwuchs unter Ingenieuren und Mechanikern belasten. Es besteht daher die Möglichkeit, dass der chinesische Staatskonzern Comac diese Phase nützen könnte, um sich als neue Führungsmacht auch in diesem Bereich zu etablieren. Im Jahr 2017, nach acht Jahren Entwicklung, ging das erste chinesische Passagierflugzeug C919 auf Jungfernflug. Gemeinsam mit Russland entwickelte China die Ambitionen in diesem wichtigen Bereich der Mobilität weiter. In den vergangenen Jahren haben Käufer aus China Patente und Unternehmen im großen Stil zugekauft. Wir Europäer sehen dabei zu und klatschten bei den stundenlangen Vertragsunterzeichnungen mit.
Die Luftfahrt hat in deutschen und später US-amerikanischen Hangars im 20. Jahrhundert ihren Anfang genommen und ihre Blütezeit erlebt. Es waren Pioniere wie Otto Lilienthal und die Brüder Wright, die ihre Flugapparate "schwerer als Luft" zum Fliegen brachten. Die Rekorde und spätere Kommerzialisierung setzten viele weitere Abenteurer und Geschäftsleute. Doch die Mobilität in der Luft werden wohl zukünftig asiatische Konzerne und asiatische Kunden bestimmen. Ob dann mit Wasserstoff geflogen wird, Kerosin doch besteuert werden soll, so mancher neue Flughafen westlich von Istanbul, wo erst im Jahr 2019 der größte der Welt eröffnet wurde, sich erübrigt – all das wird sich bis ins Jahr 2023 erweisen. Vorausgesetzt, es passiert dazwischen keine dramatische politische Veränderung wie etwa eine Serie sozialer Revolten.
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