Meinung

Absurd: Schuldgefühle wegen kolonialer Vergangenheit – aber Verbrechen in Irak und Libyen ignorieren

Der vor allem im angelsächsischen Teil westlicher Länder manifeste Fokus auf Verbrechen der Kolonialzeit ist nicht an sich falsch – jedoch wird mit Erinnerung an historische Untaten von den heutigen Verbrechen des Westens abgelenkt. Wie am Beispiel Großbritanniens zu sehen ist.
Absurd: Schuldgefühle wegen kolonialer Vergangenheit – aber Verbrechen in Irak und Libyen ignorierenQuelle: AFP © Adrian DENNIS / AFP

von Neil Clark

Wer sich auf die historischen Verbrechen des westlichen Imperialismus konzentriert, läuft Gefahr zu vergessen, dass bei den von den USA geführten Operationen für einen "Regimewechsel" in jüngster Zeit ebenso schreckliches Unrecht begangen wurde (und wird, Anm. d. Red.), für das sich bisher noch niemand entschuldigt hat.

Wir leben schon in einer seltsamen Zeit. Gewöhnliche Menschen werden zu Schuldgefühlen ermuntert – manche würden sagen, mit psychischem Druck dahingehend manipuliert –, und zwar zu Schuldgefühlen für üble Verbrechen, die von westlichen Mächten teils vor Hunderten von Jahren begangen wurden und über die nicht einmal mehr ihre Urgroßeltern zu Lebzeiten noch ein Quäntchen Kontrolle hätten ausüben können. Doch gleichzeitig wird von ihnen erwartet, dass sie ebenso schreckliche Dinge heute ignorieren oder vergessen, die zu ihren eigenen Lebzeiten geschehen. Das vorherrschende hegemoniale Narrativ besagt, dass der ausbeuterische "Imperialismus" – und die damit einhergehende Haltung der rassischen Überlegenheit – mit dem Untergang der alten europäischen Imperien schlichtweg endete. Doch das ist leider völlig absurd.

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In den letzten Jahrzehnten hat sich eine wohl eher noch schlimmere Form dessen herausgebildet – eine Spielart, in welcher der Imperialismus weltweit in ungeheurerem Maßstab Tod und Zerstörung verursacht hat. Doch während der "alte" Imperialismus und alle damit in Verbindung stehenden Menschen und Mittel mittlerweile absolut indiskutabel wurden, geradezu jenseits von Gut und Böse stehen, kommt der neue, "politisch korrekte" Turbo-Imperialismus, der nur zu oft unter der fremden Flagge des angeblichen "Fortschrittes" oder gar des "Humanismus" segelt, allzu glimpflich davon. Erinnern wir uns daran, was nur in den letzten 30 Jahren geschehen ist.

Zerstörung des Irak und Libyens

Im Jahr 2003 wurde der Irak, der schon davor seit Jahren mit drakonischen Sanktionen überzogen wurde, die seiner Zivilbevölkerung größtmöglichen Schaden zufügten und so unter anderem auch den Tod vieler Kinder mit sich brachten, einem umfassenden militärischen Angriff ausgesetzt.

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Die betrügerische Begründung war, dass Iraks Staatschef Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besäße, die innerhalb von 45 Minuten abschussbereit zusammengebaut werden könnten. Im Ergebnis wurde der Irak in Schutt und Asche gelegt. Hunderttausende starben während oder nach der Invasion der vom Westen angeführten "Koalition der Willigen". Das durch die "Operation Iraqi Freedom" verursachte Chaos führte unmittelbar zum Aufstieg des Totenkults der Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

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Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, wurde im Jahr 2011 mehr oder weniger dasselbe in Libyen veranstaltet. Dieses Land mit dem damals höchsten Index für menschliche Entwicklung in ganz Afrika (Stand 2009) wurde von den NATO-"Menschenrechts"-Kreuzrittern (Anm.: unter dem Deckmantel eines UN-Mandats zur Errichtung einer Flugverbotszone) in die Steinzeit zurückgebombt. Der Vorwand für den Angriff lautete hier, dass Staatschef Muammar al-Gaddafi im Begriff sei, die Einwohner der Stadt Bengasi abzuschlachten. Doch fünf Jahre später, nachdem das Land längst in Trümmern lag, kam der Bericht des Sonderausschusses für auswärtige Angelegenheiten des britischen Parlament-Unterhauses zu folgendem Schluss:

... die Behauptung, Muammar Gaddafi hätte das Massaker an der Zivilbevölkerung in Benghazi angeordnet, wurde durch die verfügbaren Beweise nicht gestützt.

...Wie schon bei den unauffindbaren irakischen "Massenvernichtungswaffen".

Überhaupt ist Libyen das Sinnbild für den Gipfel westlicher Rassismus-Heuchelei schlechthin: Schließlich stellte sich im Jahr 2017 heraus, dass im "befreiten" Libyen Schwarzafrikaner auf Sklavenmärkten gehandelt wurden – teilweise zu Preisen von nur 400 US-Dollar.

Fast die gesamte britische Politik- und Medienkaste – einschließlich der Labour-Abgeordneten, die sich jetzt Haltung bewahrend in den Kniefall begeben, um gegen Rassismus zu protestieren – unterstützte seinerzeit mit der Bombardierung Libyens eine Regimewechsel-Operation, die vor Ort von rassistischen Pogromen gegen Schwarzafrikaner durch die von der NATO unterstützten Rebellen" gekennzeichnet war. Um hier die Doppelmoral zu erkennen, ist nun wirklich kein Genie vom Kaliber Einsteins erforderlich.

Krieg in Syrien und im Jemen

Nach Libyen kam die nächste imperialistische Regimewechsel-Operation in Syrien. Auch sie brachte wieder einmal die Finanzierung gewalttätiger Extremisten mit sich. Zeitnah folgte die britische Beteiligung am Krieg im Jemen – der von der UNICEF aktuell als die größte humanitäre Krise der Welt gewertet wurde. Sicherlich sollten wir uns doch durch all solche Operationen stärker betroffen fühlen, als wegen jener Verbrechen, die vor Jahrhunderten stattfanden, oder? Doch das ist keineswegs der Fall. Stellen Sie sich diese Frage: Falls der neokonservative Kriegshetzer John Bolton, der die oben genannten "Interventionen" voll unterstützte – und sogar anfeuerte – zur Universität Oxford kommt, um sein neues Buch vorzustellen, in welchem er gegen Donald Trump wettert, würden dann mehr Menschen gegen seinen Besuch protestieren als für gegen die Statue von Cecil Rhodes bei der Aktion "Rhodes Must Go" letzte Woche? Oder etwa weniger?

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Oder falls David Cameron, der im Jahre 2001 auch Großbritannien mit nach Libyen führte und im Jahr 2013 Syrien bombardieren wollte, zu einem Vortrag käme? Um es klar zu sagen: Es geht nicht darum, etwa Cecil Rhodes heute als unschuldig darzustellen.

Meine Frau und ich besuchten vor einigen Jahren das Museum der Kimberley-Mine in Südafrika. Und wir waren entsetzt über die Art und Weise, wie vollends skrupellose Menschen die einheimische schwarze Bevölkerung behandelten, die Menschen, die mit den Bodenschätzen Afrikas (und damit mit den Bodenschätzen dieser Bevölkerung – Anm. d. Red.) riesige Vermögen anhäuften. Doch ist es nicht seltsam, dass die Menschen sich mehr über die Statue eines vor 120 Jahren verstorbenen Mannes aufregen als über die heute noch lebenden Akteure, die eine Schlüsselrolle in den heutigen blutbesudelten imperialen Projekten spielten – und die sich nie für das Elend, das sie verursacht haben, auch nur entschuldigt haben? Wenn man ganz zynisch sein wollte, könnte man sagen: Es ist für die heutigen Machteliten viel besser, dass wir uns tatsächlich mehr auf historische Figuren in komischer altmodischer Kleidung aus vergangenen Jahrhunderten konzentrieren, die zu ihrer Zeit schlimme Dinge taten – und nicht auf diejenigen, die heute in ihre Fußstapfen treten. Denn wenn wir uns mehr auf den gegenwärtigen Imperialismus konzentrieren würden, könnten die Machteliten tatsächlich ihre Macht verlieren.

Übersetzt aus dem Englischen

Neil Clark ist Journalist, Autor, Rundfunksprecher und Blogger. Sein preisgekrönter Blog ist unter www.neilclark66.blogspot.com zu finden. Er twittert über Politik und Weltgeschehen @NeilClark66.

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