Nord Stream 2: Geopolitik, Wirtschaft oder Emotionen?
von Dr. Karin Kneissl, ehemalige Außenministerin Österreichs, Buchautorin und Energie-Expertin
"Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich", lautet ein schönes Zitat, das dem großen amerikanischen Schriftsteller Mark Twain zugeschrieben wird. Gaspipelines berühren nur selten die Herzen und Gedanken der Menschen, doch die Nord Stream hat diese Wirkung zweifellos erzielt. Politiker, Journalisten und Analysten werden bei dieser 1.224 Kilometer langen Gaspipeline, die sich von Russland nach Deutschland erstreckt, sehr emotional. Ihre Geschichte geht auf die Energiegespräche zwischen der Europäischen Union und Russland in den 2000er-Jahren zurück.
Seit dem offiziellen Projektstart im Sommer 2005 überschlagen sich die Emotionen. In meinen Vorträgen beziehe ich mich oft auf die Aussage des ehemaligen polnischen Verteidigungsministers Radoslaw Sikorski. Er verglich die Nord Stream-Pipeline mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich aus dem Jahr 1939.
Diese Reaktion veranschaulicht die geopolitischen und historischen Spannungen, die das Projekt von Anfang an auslöste. Wir beobachten derzeit eine Wiederholung ähnlicher Gefühle, die uns an das Zitat von Twain erinnert.
Hitzige Debatte
Anfang der 2000er-Jahre nahm ich an vielen Energiedebatten in Deutschland teil. Im Schatten der ersten Gaskrise im Januar 2006, als die russischen Gasexporte über die Ukraine nach Mitteleuropa aus verschiedenen Gründen gestoppt wurden, löste das Konzept einer direkten Verbindung von Russland nach Deutschland heftige Kontroversen und hitzige Debatten aus.
Einige Stimmen behaupteten, dass ein solches Projekt, wenn es gebaut würde, eine "Implosion der EU-Energiepolitik" hervorrufen würde (wenn es so etwas überhaupt gab, muss ich hinzufügen). Der Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009 sah eher einen zwischenstaatlichen als einen überstaatlichen Ansatz vor.
Doch trotz politischer und emotionaler Überlegungen, nachdem rechtliche und technische Lösungen für den Bau in der Ostsee gefunden worden waren, wurde der erste Strang der Nord Stream im November 2011 verlegt und in Betrieb genommen; der zweite folgte im Oktober 2012.
Angesichts der in Deutschland steigenden Nachfrage nach Erdgas und der Entscheidung zum schrittweisen Ausstieg aus der Kernkraft hat man beschlossen, die Arbeiten auszuweiten. So wurden im Frühjahr 2017 Vereinbarungen zum Start von Nord Stream 2 unterzeichnet.
Auf russischer Seite wickelte Gazprom die Verhandlungen über die Nord Stream 2 AG ab. Auf europäischer Seite haben sich fünf europäische Energieunternehmen, darunter Royal Dutch Shell, ENGIE und OMV, verpflichtet, 50 Prozent der Gesamtkosten des Projekts zu finanzieren.
Ängste um die Nord Stream 2
Und wieder einmal kommen die Worte von Mark Twain in Erinnerung: Es folgte eine weitere Debatte über die "mangelnde Diversifizierung" und die "geopolitische Gefährdung der EU". Die Argumente der Kritiker von Nord Stream 2 ähnelten denen aus den Jahren 2005 und 2006. Der grundlegende Unterschied diesmal war aber die Rolle des nordamerikanischen Schiefergases auf dem globalen Gasmarkt.
Nord Stream 2 wurde nicht nur aus geopolitischen, historischen und ökologischen Gründen angefochten, wie sein Vorgänger bereits 15 Jahre zuvor. Man fragte sich auch, ob Europa Erdgas über eine Pipeline aus dem Osten oder Flüssiggas über Schiffe aus dem Westen kaufen sollte.
Aufgrund antirussischer Sanktionen hatten die Europäer seit dem Jahr 2014 über eine Umstellung auf das US-Schiefergas nachgedacht. Doch erst seit 2017, mit dem Amtsantritt der Regierung von Donald Trump, wurden amerikanisches Schieferöl und Schiefergas ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt.
Washington vermittelte seinen EU-Partnern bei vielen Gelegenheiten, dass man Terminals für Flüssigerdgas (LNG) für den Import von Schiefergas bauen müsse. Nach dem NATO-Gipfel im Juli 2018 gab es kein einziges bilaterales Treffen mit EU-Außenministern, deren Länder auch NATO-Mitglieder sind, ohne dass dieses Thema angesprochen wurde.
Ich argumentierte dagegen, und zwar auf der Grundlage wirtschaftlicher Kriterien, die auf Angebot und Nachfrage basieren, welche der ausschlaggebende Faktor für den Bau der Terminals sein sollten. Jedoch musste ich erkennen, dass politische und emotionale Überlegungen für diejenigen, die die Diskussion begonnen hatten, weitaus wichtiger waren. Infolgedessen stand Nord Stream 2 vor immer größeren Herausforderungen.
Auswirkungen der Corona-Krise
Die Corona-Krise brachte eine neue Marktsituation zum Vorschein. Der Öl- und Gaspreis ist infolge des globalen Lockdowns enorm gesunken. Man kann kaum noch ein Explorationsprojekt finden, das bei so niedrigen Preisen (sogar negativen Preisen, wie dies Mitte April kurz der Fall war) noch die grundlegenden Kosten- und Gewinnkriterien erfüllen kann.
Hätte es kein Coronavirus gegeben, hätten die USA laut Schätzungen des World Energy Outlook 2019 bis ins Jahr 2025 rund 40 Prozent des gesamten globalen Wachstums der Gasproduktion ausgemacht. Bei einem solchen Szenario erwartete die Internationale Energieagentur (IEA) erst ab 2025 und bis 2040 eine Rückkehr zu konventionellem Erdgas.
Doch bei der derzeitigen Marktvolatilität und dem Chaos steckt die Fracking-Branche in einem Dilemma, weil ihre Produktionskosten einfach zu hoch sind. US-Kollegen warnen seit Jahren vor einer sehr harten Landung der US-Schieferindustrie. Ihre größte Sorge galt der beträchtlichen Verschuldung, die viele dieser Unternehmen während der wirtschaftlichen Blütezeit der steigenden Gaspreise und der Nachfrage nach mehr LNG eingegangen waren.
Zum Beispiel stellte Continental Resources, um nur ein Unternehmen zu nennen, den Großteil seiner Schieferproduktion auf dem Bakken-Ölfeld in North Dakota ein. Das Unternehmen hatte seine Rohölproduktion in den vergangenen Jahren nicht abgesichert, wodurch es der Marktvolatilität ausgesetzt war.
Für viele LNG-Terminals, ob in Kroatien oder in Polen, stellt sich die Frage, ob sie angesichts der derzeit niedrigen Gaspreise und der daraus folgenden Unsicherheit bei der US-Gasversorgung gerechtfertigt werden können. Immer mehr Fracking-Unternehmen aus den USA gehen bankrott oder stehen vor großen finanziellen Schwierigkeiten. Kann die Versorgung mit US-Schieferöl und -gas als sicher betrachtet werden, und sind die geplanten LNG-Terminals heute wirtschaftlich gerechtfertigt?
Grüner Deal und Schiefergas, geht das?
Darüber hinaus fällt es mir schwer zu verstehen, wie Europa erwägen kann, Gas aus einer Quelle zu beziehen, die weitaus umweltschädlicher ist als die konventionelle Erdgasexploration. Wie kann diese Entscheidung mit dem Grünen Deal der EU in Einklang gebracht werden?
Da viele US-amerikanische Fracking-Unternehmen diesen schweren Niedergang nicht überleben werden, ergibt es Sinn, sich die US-Ölindustrie vor einem Jahrhundert anzusehen: Eine Telegrammkorrespondenz zwischen der Bohrinselanlage und dem Firmenbüro könnte nach dem Motto lauten: "Wir haben gute und schlechte Nachrichten. Die schlechte Nachricht: Es wurde kein Öl gefunden. Die gute Nachricht: Es wurde auch kein Gas gefunden."
Erdgas als unerwünschtes Nebenprodukt bei der Erdölförderung wird seit Jahrzehnten bis heute abgefackelt. Dies kann zu noch höheren Kosten führen. Die heutige Situation zwingt Unternehmen allerdings dazu, ihre Kosten mehr denn je zu senken.
Die Planung des zukünftigen Bedarfs ist momentan noch mühsamer als in den vergangenen Jahrzehnten. Während nichts sicher ist, ist eins unbestreitbar: Das Angebot kann immer geschaffen werden, die Nachfrage aber nicht. Die Ökonomen innerhalb der OPEC, der IEA und in jedem einzelnen Energieunternehmen versuchen, dies zu ergründen. "Höhere Gewalt" oder "Act of God", wie die Amerikaner es nennen, hat die Nachfrage auf eine noch nie dagewesene Weise getroffen.
Bei den Verhandlungen über den Kauf von Öl und Gas und deren Transitrouten sollte man die Emotionen zu Hause lassen. Der Fokus sollte ausschließlich auf Angebot und Nachfrage liegen. Eine Pipeline sollte nicht gebaut werden, um jemanden zufriedenzustellen oder zu ärgern, sondern weil sie wirtschaftlich sinnvoll ist und weil es für die von ihr transportierte Ware Angebot und Nachfrage gibt.
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