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Die schleichende Verstrickung des Westens in den Ukraine-Krieg

Mit der Erlaubnis für Kiew, Ziele tief im russischen Staatsgebiet anzugreifen, drehen etliche europäische NATO-Länder weiter an der Eskalationsspirale. Wenn es so weitergeht, werden sie sich als direkte Teilnehmer an einem Krieg wiederfinden, der zum Verlust ihrer Souveränität führen könnte.
Die schleichende Verstrickung des Westens in den Ukraine-Krieg© AP Photo/Libkos

Von Dmitri Jewstafjew

Man könnte den Monatswechsel vom Mai in den Juni im Jahr 2024 als "Eskalationsparade" der NATO-Mitgliedstaaten bezeichnen, die Kiew massiv das Recht einräumten, Waffen westlicher Produktion gegen Objekte in den russischen Regionen einzusetzen, die vom Westen als Teil Russlands anerkannt werden. Kanadas Außenministerin Melanie Joly war die Erste, die sich zu Wort meldete und die NATO-Mitgliedstaaten aufforderte, in dieser Frage "fortschrittlicher" zu sein. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach sich ebenfalls für eine solche Politik aus, wenn auch mit Einschränkungen (nur die Objekte, von denen aus Angriffe auf das ukrainische Hoheitsgebiet durchgeführt werden, sollten Ziele von Angriffen sein). Laut dem britischen Außenminister David Cameron hat das Vereinigte Königreich Kiew nie derartige Beschränkungen auferlegt. Das anfängliche Fehlen solcher Einschränkungen wurde auch in den Niederlanden hervorgehoben. Auch Finnland unterstützte die Angriffe auf russisches Territorium, obwohl Präsident Alexander Stubb forderte, dass die Angriffe im Rahmen des "internationalen Rechts" durchgeführt werden müssten. Es bleibt unklar, was er damit meinte.

Die Idee der Eskalation wurde vorhersehbar von Polen und den baltischen Grenzstaaten unterstützt. Von der Tschechischen Republik gelieferte Waffen werden seit Langem für Angriffe auf das Territorium des Gebietes Belgorod verwendet. Spanien und Italien widersetzen sich bisher, versorgen Kiew aber auch nicht mit Langstreckenwaffen, sondern nur mit Luftabwehrraketen. Die Position Deutschlands ist nach wie vor unklar, aber es gibt immer weniger Zweifel daran, dass Bundeskanzler Olaf Scholz noch umgestimmt wird und Taurus-Marschflugkörper geliefert werden, die gegen Ziele tief im russischen Staatsgebiet eingesetzt werden sollen.

Die Position Washingtons, wie sie von Medien, die dem Weißen Haus ideologisch nahestehen, dargestellt wird, ist bemerkenswert. Die Regierung des US-Präsidenten Joe Biden versucht, es Kiew recht zu machen, ohne zu viele Risiken einzugehen. Angeblich darf Kiew im Grenzgebiet einen Abwehrkampf gegen Artillerie führen, US-Luftabwehrsysteme über russischem Territorium einsetzen, russische Flugzeuge angreifen, die "Bomben in Richtung ukrainisches Territorium abwerfen", und russische Truppenaufstellungen und Munitionsdepots zerstören. Angeblich ist es der Ukraine jedoch untersagt, ATACMS-Raketen einzusetzen, auch um militärische Ziele tief im russischen Hoheitsgebiet, Flugzeuge der russischen Luftwaffe am Boden und zivile Infrastruktur zu zerstören.

Parade der Ermächtigungen

Daraus ergeben sich zwei Erkenntnisse: Zum einen haben die USA im Gegensatz zu Europa echte Angst vor einer Eskalation, die auch US-amerikanische Einrichtungen – nicht bloß in der Ukraine – betreffen könnte. Zum anderen – und das ist viel wichtiger – kann die Einhaltung bestimmter Beschränkungen für Angriffe nur und ausschließlich dann gewährleistet werden, wenn US-amerikanische Soldaten den Kampfeinsatz der von den USA gelieferten Waffensysteme direkt kontrollieren.

Die "Parade der Ermächtigungen" weist zwei Besonderheiten auf: Erstens erfolgen die Äußerungen – oder besser gesagt Kommentare – in möglichst vager Form (und hier haben natürlich die USA die Nase vorn) und kommen nicht immer von höchster Ebene. Und zweitens überlassen praktisch alle, die sich für die Ausweitung der "Todeszone" für westliche Waffen auf russischem Territorium ausgesprochen haben, Kiew die endgültige Entscheidung.

Mit anderen Worten: Die "Parade der Ermächtigungen", die zweifellos koordiniert und choreografisch inszeniert war, war ursprünglich so angelegt, dass die abgegebenen Erklärungen im Ernstfall leicht dementiert und Kiew angelastet werden können.

Diese Eskalationswelle war eindeutig auf die "Friedenskonferenz" in der Schweiz am 15. und 16. Juni 2024 abgestimmt, auf der nicht nur Wladimir Selenskijs aktualisierte, ansprechendere "Friedensformel" vorgestellt werden sollte, die keine undurchführbaren Extremforderungen mehr enthielt, sondern auch Kiews anhaltende Fähigkeit zur Aufrechterhaltung einer Stellungsverteidigung und zu Offensivmaßnahmen gegen Russland demonstrieren sollte. Die Erklärungen über Kiews Recht, Langstreckenwaffen gegen Russlands Territorien einzusetzen, wurden zu dem Zeitpunkt abgegeben, als die Illegitimität von Selenskijs Regime feststand. Somit war die "Eskalationsparade" eine Form der politischen Unterstützung für Kiew.

Es scheint, dass der Plan darin bestand, gewaltigen militärisch-politischen Druck auf Moskau auszuüben, vor allem, wenn einige militärische Erfolge erzielt werden könnten, insbesondere in der Gegend von Charkow, und wenn Vertreter bedeutender Länder des globalen Südens an der Konferenz teilnehmen könnten. Weder das eine noch das andere wurde erreicht, sodass die "Friedenskonferenz" immer mehr zu einem unwichtigen Event verkommt.

Kein Schuss ins Blaue

Bedeutet dies, dass die politischen Erklärungen über das Recht Kiews, vom Westen gelieferte NATO-Waffen auf russisches Territorium abzufeuern, als "Schuss ins Blaue" betrachtet werden können? Ganz und gar nicht.

Die Erlaubnis, mit NATO-Waffen tief in russisches Hoheitsgebiet einzudringen, erweitert sicherlich die Möglichkeiten des Kiewer Regimes, terroristische Einschüchterungsversuche durchzuführen. Es ist bezeichnend, dass der erste Schlag im Rahmen des neuen politischen Paradigmas der ukrainischen Streitkräfte zivile Einrichtungen in Belgorod getroffen hat.

Die NATO-Staaten, die den Einsatz ihrer Waffen auf russischem Staatsgebiet genehmigt haben, machen sich also mitschuldig an den terroristischen Aktivitäten Kiews.

Es gibt noch drei weitere wichtige Umstände, die bisher geschickt durch politische Heuchelei verdeckt wurden.

Erstens: Es liegt auf der Hand, dass die Billigung des Terrors bis tief ins russische Hoheitsgebiet hinein ein wichtiger Schritt zur Legalisierung der Präsenz von NATO-Militärpersonal auf ukrainischem Gebiet ist. Und zwar nicht nur von Beratern, sondern auch von Spezialisten, die hochentwickelte militärische Ausrüstung betreuen. Von hier aus ist es nur noch ein halber Schritt, um anzuerkennen, dass westliche Spezialisten, die so tun, als ob sie außerhalb des formellen und rechtlichen Rahmens der NATO agieren, die gelieferte Ausrüstung nicht nur warten, sondern zumindest deren Verwendung überwachen.

Es besteht der Eindruck, dass die Erlaubnis zum Einsatz von Langstreckenwaffen tief im russischen Hoheitsgebiet nur Teil eines "großen Plans" ist und dass es weitere geplante Schritte gibt.

Medienberichten zufolge wurde zum Beispiel ein griechischer Pilot bereits "außerplanmäßig" in der Ukraine entdeckt.

Zweitens: Für die europäischen Eliten, die in den letzten Wochen zur treibenden Kraft hinter der Eskalation des Konflikts in der Ukraine geworden sind, war es von entscheidender Bedeutung, von den Vereinigten Staaten eine relativ klare Entscheidung zu erhalten. Dies wäre ein wichtiger Hinweis darauf gewesen, dass die USA ihre Unterstützung für Kiew in naher Zukunft nicht zurückziehen und die europäischen Verbündeten mit Moskau nicht alleinlassen werden. Dies ist ihnen bisher nicht in vollem Umfang gelungen. Und dies wird die europäischen Versuche, die USA auf eine höhere Eskalationsstufe zu ziehen, weiter beflügeln. Die Interessen vieler europäischer Länder, insbesondere Frankreichs, das seine Führungsrolle in Europa festigen will, werden sich mit den Interessen Kiews und Großbritanniens decken. Dies ist eine perfekte Kombination für eine weitere Eskalation des Konflikts.

Drittens: In den bisher recht monolithischen Reihen des "geeinten Westens" zeigen sich allmählich deutliche Risse. Zu Ungarn und der Slowakei hat sich Italien gesellt, und es ist schwierig, Deutschland endlich zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern zu überreden. Und je offensichtlicher die Unfähigkeit des Kiewer Regimes wird, nicht nur die Front zu halten, sondern auch politisch angemessen zu agieren, desto schwieriger wird es sein, diese Einheit aufrechtzuerhalten. Daher ist die Erlaubnis von Angriffen auf Russlands Territorien eine Art Ausdruck kollektiver Loyalität gegenüber der gemeinsamen euroatlantischen Sache, die Ukraine als ein "Anti-Russland" zu bewahren. Und hier kommen die Euro-Atlantiker nicht gut weg: Ein großer Teil der NATO-Mitgliedstaaten hat sich entschieden, vorerst Stillschweigen zu bewahren.

Insgesamt erleben wir eine der gefährlichsten Varianten der Eskalation des Konflikts um die Ukraine: eine schleichende Verstrickung, bei der die meisten europäischen NATO-Staaten allmählich die Fähigkeit verlieren, die Eskalation zu kontrollieren. Und früher oder später werden sie sich in der tragischen Realität wiederfinden, in einen Krieg hineingezogen zu werden, an dem sie keine wirklichen Interessen haben und haben können.

Dies wird für diese Staaten den schrecklichen Preis des Verlustes an Souveränität mit sich bringen.

Dmitri Jewstafjew ist ein russischer Politikwissenschaftler.

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