Wie die Ukraine versucht, die NATO-Strategie zu beeinflussen
Eine Analyse von Polina Duchanova und Aljona Medwedewa
Kiew forderte die Nordatlantische Allianz dazu auf, bei der Diskussion über die neue NATO-Strategie die Schlüsselrolle der Ukraine im europäischen Sicherheitsraum anzuerkennen und in den Dokumenten zu bekräftigen. Igor Zhovkva, stellvertretender Leiter des Büros des ukrainischen Präsidenten, sagte dies in einem Interview mit der Zeitung Financial Times:
"Wir möchten, dass (in der NATO - RT) verstanden wird, dass die Ukraine der Grundstein der europäischen Sicherheit ist."
Sollte die "wahre Situation" in Europa und der Ukraine in dem Konzept der Allianz, das in Ausarbeitung ist, nicht beschrieben werden, so wird dieses Dokument "nur ein weiteres Stück Papier sein, das absolut unwichtig ist", sagte er.
Zhovkva äußerte auch die Erwartung Kiews, dass jeder Hinweis auf Russland als Partner des Blocks aus der Strategie ausgeklammert werde. Er räumte dabei ein, dass einige NATO-Mitgliedsstaaten sich dafür einsetzen, dass die Möglichkeit eines Dialogs mit Moskau erhalten bleibt.
Zudem sagte der ukrainische Beamte:
"(Wir erwarten, dass das strategische Konzept der NATO - RT) strengere und schärfere Warnungen enthält... Ich rufe die NATO-Mitglieder auf: Seien Sie nicht schüchtern, wenn es darum geht, Bestimmungen für Russland zu formulieren. Es genügt nicht, das Wort 'Partner' zu streichen."
Es darf nicht vergessen werden, dass die noch gültige NATO-Strategie, welche auf dem Lissabonner Gipfel 2010 verabschiedet wurde, die Zusammenarbeit mit Russland als "strategisch wichtig" bezeichnet, da dies zur Schaffung eines gemeinsamen Raums des Friedens, der Stabilität und der Sicherheit beiträgt. Darin wird auch betont, dass trotz der Differenzen in bestimmten Fragen die Allianz davon überzeugt ist, ihre Sicherheit sei eng mit derjenigen Russlands verbunden. Darum entspricht "eine konstruktive Partnerschaft auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen, Transparenz und Berechenbarkeit" den Interessen der NATO, heißt es in dem Dokument.
In der Zwischenzeit wird in Kiew erwartet, dass die Mitglieder des Militärblocks auf ihrem Gipfeltreffen in Madrid vom 28. bis 30. Juni ihre Partnerschaft mit der Ukraine bekräftigen werden, sagte Igor Zhovkva. Ihm zufolge erwartet die Ukraine diesen Schritt, ohne mehr zu erhoffen, da man die fehlende Aussicht auf einen NATO-Beitritt in naher Zukunft anerkennt.
Der Politiker fügte hinzu:
"Die NATO-Mitglieder haben unseren Wunsch, (Mitglied der Allianz zu werden - RT), abgelehnt. In dieser Richtung werden wir von jeglichen Schritten absehen."
Antirussische Stimmungen
Unterdessen hat die Nordatlantische Allianz, so Experten, schon lange vor der Ankündigung des Beginns der Spezialoperation in der Ukraine den Kurs für eine Eskalation der Beziehungen zu Russland eingeschlagen.
Alexei Podberyozkin, Direktor des Zentrums für politisch-militärische Studien am MGIMO, erklärte in einem Gespräch mit RT:
"Leider entwickelt sich die Situation nach dem Szenario der Eskalation, das der Westen nach 2014 in Gang gesetzt hat. Dieses Szenario wird von einer Imitation diplomatischer Bemühungen begleitet, zur Entschärfung der Situation, doch leider ohne Erfolg."
So wurde Russland bereits im November 2020 von der NATO als größte militärische Bedrohung für die kommenden Jahre bezeichnet. Diese These wurde im Bericht "NATO 2030" zur Reformierung des Bündnisses verankert. In dem Dokument wird ein "zweigleisiger Ansatz der Eindämmung und des Dialogs" gegenüber Russland vorgeschlagen.
Dem Dokument ist zu entnehmen:
"Die NATO sollte weiterhin bereit sein, die Fragen der friedlichen Koexistenz zu erörtern und positiv auf konstruktive Veränderungen in Russlands Position und Haltung zu reagieren. Um einen solchen Dialog fruchtbar zu gestalten, sollte er auf festen Prinzipien gründen und aus der Position der Einigkeit und Stärke heraus geführt werden."
Außerdem ist dort erkennbar, dass die Allianz den NATO-Russland-Rat als "die wichtigste Plattform zur Ansprache Russlands mit politischen Erklärungen" betrachten sollte. Dabei unternahm die Führung des Blocks in der Folge bestimmte Schritte, die die Arbeit des NATO-Russland-Rates erschwerten. So entzog die NATO im Oktober 2021 einer Reihe von Mitarbeitern des russischen Gesandten bei der Organisation die Akkreditierung und reduzierte ihre Zahl auf zehn Personen. Daraufhin beschloss Russland, die Arbeit seiner Vertretung ab dem 1. November 2021 einzustellen.
Unterdessen hat der Generalsekretär des Bündnisses, Jens Stoltenberg, in einem Interview mit der Bild am Sonntag vom 19. Juni die Positionierung Russlands als Bedrohung für die NATO bestätigt. Er fügte auch hinzu, dass Russland nicht mehr als Partner angesehen wird.
Des Weiteren sei die NATO jetzt bereit, sich "auf ein schnelles Wettrüsten einzulassen, um den östlichen Teil Europas in eine Festung mit Tausenden von Soldaten und einer großen Menge an militärischer Ausrüstung zu verwandeln", berichtete die spanische Zeitung El País am 26. Juni unter Berufung auf Quellen. Nach Angaben ungenannter Gesprächspartner wollen einige Länder, dass die militärische Präsenz im Osten des Blocks, die zurzeit aus Kampftruppen besteht, in Brigaden umgewandelt wird. Die Formationen umfassen jetzt 1.000 bis 1.600 Soldaten, während die Umwandlung zu Brigaden diese Zahl verdoppeln könnte.
Insgesamt, so die Quellen der Zeitung, werden mit dem Konzept, das in Madrid zur Verabschiedung geplant ist, faktisch "die Beziehungen, die bis vor kurzem noch zu Moskau bestanden, begraben", da Russland als "direkte und unmittelbare Bedrohung" bezeichnet werden soll.
Inadäquate Begierden
Laut Andrei Koschkin, einem Experten der Vereinigung militärischer Politologen, versucht Kiew aus eigennützigen Gründen, die Tagesordnung des NATO-Gipfels zu beeinflussen.
Koschkin erklärte:
"Die Ukraine erklärt sich selbst zu einem Schlüssel-Element der europäischen Sicherheit in der Hoffnung, ihre Position als Empfänger entsprechender Dividenden zu festigen: Finanzierung, Waffenlieferungen, politische Anerkennung. Das heißt, "wir sind jetzt ein Vorposten, deshalb unterstützt uns, bewaffnet uns und gebt uns Geld für die Entwicklung". Genau in dieses Schema passen die Vorschläge, die Kiew gemacht hat."
Der führende Experte des RISI-Zentrums für Forschungskoordinierung, Sergej Jermakow, teilt ebenfalls diese Ansicht und stellt fest, dass die Ukraine mit ihren Forderungen gewisse Grenzen überschreitet.
In einem Kommentar an RT sagte Jermakow:
"Die Ambitionen Kiews und seine Wünsche überschreiten den Rahmen der Realität und sind im Moment absolut unzureichend. Insbesondere vor dem Hintergrund der erfolgreichen russischen Spezialoperation zieht es die NATO vor, immer vorsichtigere Erklärungen abzugeben."
In naher Zukunft rechnet Alexei Podberyozkin gleichzeitig mit einer Zunahme russophober Stimmungen, die sich zwangsläufig in der neuen Strategie des Nordatlantischen Bündnisses niederschlagen werden.
Der Analyst argumentiert:
"Ich bin überzeugt, dass es Klauseln zur Konfrontation mit Russland und zum Aufbau von Streitkräften in Osteuropa und im Baltikum geben wird. Schließlich wurde die Russische Föderation in letzter Zeit wiederholt als Gegner und fast schon als Feind bezeichnet."
Sergej Jermakow sieht die Situation ein wenig anders. Er glaubt, dass die Politik und die Strategie der NATO eine Chance haben, den ihr innewohnenden Dualismus trotz der gegenwärtigen Umstände zu bewahren.
Jermakow resümiert:
"In der NATO gibt es weiterhin vernünftige Leute, die es verstehen, dass ein Abbruch von Kommunikationskanälen mit einer Atommacht wie Russland kontraproduktiv ist. Selbst während des Kalten Krieges wurden sie beibehalten. Zudem wird die aktuelle Verschärfung der Beziehungen zwischen der Allianz und Moskau früher oder später nachlassen, und dann werden alle Mechanismen benötigt, um einen Dialog zu etablieren."
Mehr zum Thema - NATO will Zahl ihrer schnellen Eingreifkräfte von 40.000 auf 300.000 erhöhen
Übersetzt aus dem Russischen
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.
Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.