Evergrande und die Ziele der KP Chinas
eine Analyse von Bernd Murawski
Die Lage um den chinesischen Immobiliengiganten Evergrande scheint sich seit Beginn des Jahres zuzuspitzen. Neben den offenkundigen Liquiditätsproblemen gesellte sich die Verpflichtung zum Abriss von 39 Luxuswohnungen auf der Urlaubsinsel Hainan. Bereits am 3. Januar hat der Konzern mit Verweis auf bevorstehende Insiderinformationen den Handel mit Aktien ausgesetzt. Ein paar Tage später wurde mitgeteilt, dass die für 8. Januar fälligen Anleihezinsen um ein halbes Jahr verschoben werden sollen. Hierzu werden die Gläubiger zu einer Online-Besprechung gebeten, während gleichzeitig der Anleihehandel unterbrochen wurde.
Wahrscheinlichkeit und Folgen eines Evergrande-Crashs
Aus Sicht zahlreicher Wirtschaftsexperten handelt es sich bei dem Evergrande-Debakel um die Spitze eines Eisbergs, unter der sich eine Schieflage des gesamten chinesischen Wohnungsmarkts verbirgt. Dass dem dortigen Immobiliensektor im Westen hohe Aufmerksamkeit gewidmet wird, erklärt sich aus der verbreiteten Auffassung, dass dessen Zusammenbruch die nächste globale Krise einläuten würde. Diesem Urteil schließt sich der Finanzspezialist Dirk Müller in einem Interview für das Rubikon-Portal an. Zwar möchte er sich auf keinen Zeitpunkt festlegen, wann die vermutete Blase platzt. Dass es aber dazu kommen wird und die Folgen gravierender sein werden als zur Finanzkrise 2008, hält er für sehr wahrscheinlich.
Indessen betrachtet Mirko Wormuth vom deutsch-chinesischen Fonds Awesome Capital die Position von Analysten, dass ein Evergrande-Konkurs mit der Lehman-Pleite vergleichbar sei, als unzutreffend. Nicht nur würden sich die entstehenden Verluste zu etwa 90 Prozent auf China beschränken, sondern die dortige Regierung hätte wie auch der Westen aus den Fehlern vor und während der Finanzkrise gelernt. Eine ähnlich dramatische Berichterstattung wie hierzulande sei in chinesischen Medien jedenfalls nicht anzutreffen.
Wormuth verweist darauf, dass den zwei Billionen Renminbi Schulden von Evergrande etwa 2,3 Billionen Assets gegenüberstehen. Jedoch könnte ein Sell-Off deren Wert senken und zugleich andere Akteure auf dem Immobilienmarkt nach unten ziehen. Damit es nicht dazu kommt, hat die chinesische Regierung erste Schritte unternommen und stützend eingegriffen: Aktuell pumpt Peking mehr Geld in den Markt als während der 15 Monate zuvor.
Dass die Absicht besteht, Evergrande mithilfe staatlicher Maßnahmen zu retten, dürfte dennoch zu bezweifeln sein. Vielmehr gibt es Hinweise auf eine schrittweise Abwicklung des Konzerns. Wie diese konkret vonstattengehen könnte, dokumentiert der kürzlich erfolgte Verkauf eines 20-prozentigen Anteils der Shengjing-Bank an die staatliche Vermögensgesellschaft Shenyang Shengjing: Mit dem erhaltenen Betrag von 1,3 Milliarden US-Dollar begleicht Evergrande die Schulden bei der Bank. Auf ähnliche Weise agierte die isländische Regierung zur Zeit der Finanzkrise, als sie mit den Verbindlichkeiten der Banken Glitnir und Landsbankinn zugleich entsprechende Anteile übernahm.
Pekings neue politische Zielvorgaben
Der Transfer von Vermögenswerten an staatliche Akteure lässt sich als Schritt zu einem ''Sozialismus chinesischer Prägung'' deuten, wie er in der Resolution des Zentralkomitees der KP Chinas als Ziel proklamiert wird. Die herausragende Bedeutung dieses im letzten November verabschiedeten Dokuments erklärt sich dadurch, dass es das dritte dieser Art ist. Das erste wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 verfasst, das zweite diente als Grundlage für die wirtschaftliche Neuorientierung seit 1981.
Gemäß der ''Resolution'' soll der Staat seinen Einfluss auf die Wirtschaft vergrößern, jedoch nicht mit dem Ziel einer Planwirtschaft. Vielmehr werden die staatlichen Unternehmen aufgefordert, sich an Marktgesetzen und Rentabilitätskriterien zu orientieren. Sie sollen eine Vorbildfunktion bei der Fortbildung wie auch der Teilhabe der Beschäftigten an betrieblichen Entscheidungen erfüllen. Als weitere Aufgabe wird ihnen die Vorreiterrolle bei der Anwendung technologischer Erneuerungen zugedacht. Parallel dazu soll die Privatwirtschaft verstärkt staatlicher Lenkung unterworfen werden. Dies dürfte desto leichter umzusetzen sein, je effektiver Staatsbetriebe als volkswirtschaftliches Gerüst fungieren.
Für größere Privatunternehmen wird eine Beteiligung der Belegschaft am Betriebsvermögen als erstrebenswert deklariert. Als Vorbild gilt der Huawei-Konzern, in dem 99 Prozent der Anteile im Besitz der Beschäftigten sind. Da eine Streuung des Eigentums vielfach mit einer Schwächung der Entscheidungsinstanzen einhergeht, verbessern sich die Bedingungen für eine staatliche Einflussnahme. Offiziell heißt es gemäß dem ideologischen Anspruch der Kommunistischen Partei, dass die Produktionsmittel in die Verfügungsgewalt des Volkes übergehen sollen. Mit dem gleichen Argument werden die Bürger zum Erwerb von Wohneigentum angespornt.
Nach Wormuth halten aktuell 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung Immobilien. Dieser Besitzstand ist ein zentrales Element des ''allgemeinen Wohlstands'', den die ''Resolution'' zum Hauptziel erhebt. Die Zukunftsvisionen der chinesischen Führung würden jedoch einen Rückschlag erleiden, wenn Evergrande unkontrolliert in einen Konkurs schlittert. Nicht nur dürften die direkt Betroffenen ihre Unzufriedenheit artikulieren, sondern in großen Teilen der Bevölkerung könnte sich Verunsicherung ausbreiten.
Gründe für eine staatliche Evergrande-Übernahme
Problematisch ist vor allem, dass die künftigen Wohneigentümer die Kaufsumme – wie in China allgemein üblich – im Voraus bezahlt haben. Obwohl der Immobilienkonzern die Gelder größtenteils verbaut hat, sind viele Projekte unvollendet und wurden manchmal nicht einmal begonnen. Die Konkursmasse würde vermutlich für die Löhne und Sozialabgaben der Beschäftigten reichen. Anders als in Deutschland stehen deren Ansprüche in der Rangfolge ganz oben. Der verbleibende Rest dürfte kaum genügen, um die Gläubiger in vollem Umfang zu entschädigen. Betroffen wären neben Banken und Zulieferern die Immobilienkäufer, die einen Teil der eingezahlten Vorkasse-Beträge verlieren würden.
Wormuth ist überzeugt, dass zuvor staatseigene Akteure einspringen und sich um die ca. 1,4 Millionen ausstehenden Wohnungen kümmern würden. Nicht nur könnte die chinesische Führung ihr sozialideologisches Programm retten, sondern es würden auch die Verluste in Grenzen gehalten und die Kapitalmärkte beruhigt werden. Sogar die gesamte Übernahme der Verbindlichkeiten wäre angesichts der aktuellen Währungsreserven von 3,24 Billionen US-Dollar möglich, ohne dass die Bonität der Volksrepublik essenziell beeinträchtigt würde.
Obwohl durch die Verlagerung der Unternehmenstätigkeit in staatliche Obhut finanzielle Belastungen entstehen, dürfte ein Bailout von Evergrande der politischen Führung letztlich in die Hände spielen. Zum einen würde sie eine stärkere Kontrolle über einen relevanten Wirtschaftssektor erlangen. Zum anderen könnte sie daraus ideologischen Nutzen ziehen, indem sie sich als Garant der privaten Vermögensbildung präsentiert, die als Akkumulation von Eigentum in Volkshand glorifiziert wird.
Gleichwohl ließe sich der Fall als Lehrstück für die schädliche Wirkung einer auf Eigennutz orientierten Handlungsweise darstellen, deren Ursprung in westlich-liberalem Denken lokalisiert wird. Dem werden – in Anlehnung an die Zielsetzungen der ''Resolution'' – konfuzianische Werte entgegengesetzt, die von Harmonie und gesellschaftlicher Verantwortung geprägt sind.
Hoffnungen trotz schwieriger Ausgangslage
Allerdings dürfte das Problem größer sein als öffentlich eingestanden wird. Evergrande ist bekanntlich nicht der einzige Immobilienkonzern, der Finanzierungsprobleme hat. So kann nur ein frühzeitiges und konsequentes Eingreifen verhindern, dass die ganze Branche mit in den Strudel gerissen wird. Letzteres befürchten Finanzexperten, die einen noch nie dagewesenen wirtschaftlichen Kollaps voraussagen. Tatsächlich dürfte es kaum gelingen, mit dem geldpolitischen Instrumentarium einen Zusammenbruch des gesamten Immobiliensektors aufzufangen. Zwar ist die Bilanz der Chinesischen Volksbank gemessen am BIP noch um etwa ein Drittel kleiner als jene von EZB und Federal Reserve, sie erreicht aber mit 6,1 Billionen US-Dollar eine stattliche Summe.
Voraussagen eines Crashs der chinesischen Wirtschaft gab es in der Vergangenheit immer wieder, ohne dass es dazu gekommen ist. Ein Anziehen der wirtschaftspolitischen Zügel durch die Pekinger Führung mag von Verteidigern unternehmerischer Freiheiten kritisiert werden. Doch zugleich stärkt eine solche Handlungsweise die Zuversicht, dass es auch diesmal gelingen wird, eine drohende Krise abzuwenden.
Die große Machtfülle der politischen Zentrale ist offenbar ein Garant für die vergleichsweise hohe Stabilität der chinesischen Volkswirtschaft. Parallelen bestehen zu Kapitalgesellschaften, die ihren Erfolg einer straffen Organisation, der Anwendung meritokratischer Prinzipien und einer fundierten, langfristig angelegten Konzernstrategie verdanken. Die ''China AG'' unterscheidet sich dadurch, dass ihr Zweck nicht die Erwirtschaftung von Gewinnen, sondern die Anhebung und Sicherung des Volkswohlstands ist.
Doch wie eine Unternehmensleitung steht ebenso die Pekinger Führung unter hohem Erwartungsdruck. Dass sie bislang die gesetzten Ziele erreichen konnte und ihre Versprechen einzulösen vermochte, belegen sowohl die wirtschaftlichen Kennziffern als auch die hohe Zufriedenheit der Bürger. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob die chinesischen Staatslenker gleichfalls den aktuellen Herausforderungen gewachsen sind. Deren größte dürfte das knappe Zeitfenster für eine nachhaltige Lösung sein, die in einer staatlichen Übernahme der Geschäftstätigkeit des Evergrande-Konzerns bestehen dürfte.
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