"Persilschein der Bundesregierung" – Breite Kritik an Armuts- und Reichtumsbericht

Der am Mittwoch beschlossene Armuts- und Reichtumsbericht ist nach Ansicht des Deutschen Instituts für Menschenrechte alarmierend. Die Ergebnisse zeigen laut Sozialverband, dass die Politik den sozialen Zusammenhalt gefährdet, wenn sie weiter keine wirksamen Maßnahmen ergreift.

Die Armut in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verfestigt. Das geht aus dem sechsten Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) hervor, der am Mittwoch das Kabinett passiert hat. Der Bericht, der die Entwicklung von Armut und Reichtum in der jeweiligen Legislaturperiode aufzeigen soll, enthält nach Ansicht von Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) sowohl Licht als auch Schatten.

Demnach haben vor der COVID-19-Pandemie alle Einkommensbereiche von der damals günstigen Wirtschaftsentwicklung profitiert, Löhne seien auch im unteren Bereich gestiegen und die Erwerbstätigkeit habe zugenommen. Der maßgeblich von der SPD vorgebrachte gesetzliche Mindestlohn habe gewirkt und ein Großteil der Bevölkerung lebe in stabilen Verhältnissen. Deutschland sei also keine Abstiegsgesellschaft.

Jedoch kommt auch die Regierungsmitteilung nicht umhin, zu erwähnen, dass sich die Armut in den vergangenen Jahrzehnten verfestigt hat und für einen nunmehr nicht unerheblichen Teil der Gesellschaft – Langzeitarbeitslose und Menschen, die in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten – zu wenige Aufstiegsmöglichkeiten existieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein in Armut lebender Mensch fünf Jahre später noch immer arm ist, stieg demnach seit Ende der 1980er Jahre von 40 auf 70 Prozent.

"Auch der Umstand, dass viele Menschen unsere Gesellschaft als sehr polarisiert wahrnehmen, zeigt, dass wir den sozialen Zusammenhalt stärken müssen," so Minister Heil.

Doch bezeugen diese "Wahrnehmung" längst zahlreiche Studien, darunter auch konservative Institute, als Wirklichkeit. Der Regierungsbericht zeigt ebenfalls, dass der Reichtum in Deutschland extrem ungleich verteilt ist: Die oberen zehn Prozent der Gesellschaft besitzen demnach fast 64 Prozent des Nettogesamtvermögens – noch mehr als bislang vermutet. Heil betont, dass schnellstmöglich ein gesetzlicher Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde nötig sei, die Tarifbindung gestärkt und die Grundsicherung für Arbeitsuchende reformiert werden müsse.

Die Opposition jedenfalls bewertet die Ergebnisse des Berichts mitunter deutlich schärfer als die Bundesregierung:

Auch Verbände und Forscher ziehen eine andere Schlussfolgerung als die Bundesregierung. Die Nationale Armutskonferenz – ein Bündnis von mehreren Organisationen und Initiativen – sieht durch die Schieflage den sozialen Frieden gefährdet und fordert "entschiedene Schritte zur Umverteilung". Das Deutsche Institut für Menschenrechte sieht selbige nicht ausreichend von der Bundesregierung gewährleistet:

"Armut verfestigt sich. Wer einmal arm ist, bleibt es auch. Das ist alarmierend und mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands nicht vereinbar. Armut hindert Menschen an der Wahrnehmung ihrer Rechte, wie der Rechte auf angemessenen Lebensstandard, auf Wohnen, auf Gesundheit, auf Teilhabe, auf Arbeit oder Bildung. Armutsbekämpfung ist eine menschenrechtliche Pflicht des Staates."

Armutsforscher spricht von Persilschein

Für den Politologen und Armutsforscher Christoph Butterwegge – selbst Mitglied im wissenschaftlichen Gutachtergremium für den Bericht – fungiert der ARB als "politischer Persilschein." In einem Interview mit der taz moniert er, dass Reichtum darin nur sehr ungenau erfasst und Vermögensungleichheit vorsätzlich verschleiert würden. Zwar sei nachgebessert worden, indem nun Lebenslagen betrachtet werden, und es sei deutlicher geworden, dass die Mittelschicht unter Druck geraten und dafür die Ränder am oberen und unteren Ende der Verteilung gewachsen sind.

Doch ist der 500 Seiten starke Bericht nach Ansicht des Armutsforschers eher ein riesiges Datengrab, in dem der Blick für die eigentlichen Problemlagen durch zu viele Statistiken verloren gehe. Zudem fehlt laut Butterwegge eine Analyse des strukturellen Zusammenhangs zwischen Armut und Reichtum, der Kausalzusammenhang zwischen niedrigen Löhnen und hohen Gewinnen.

Obwohl nun anders als in früheren Ausgaben des Berichts offiziell auch Hochvermögende besser analysiert werden, werde ausgerechnet das Ausmaß der extremen Vermögensungleichheit in Deutschland verschleiert, erklärt der ehemalige Professor. So seien in der obersten von acht Kategorien, jener euphemistisch "Wohlhabenheit" benannten, enorm unterschiedliche Vermögensklassen zusammengefasst worden, von "Dieter Schwarz, dem als Eigentümer von Lidl und Kaufland mit 41,8 Milliarden Euro Privatvermögen reichsten Deutschen, bis hin zum Stadtbewohner mit Eigentumswohnung und zum Gutverdiener mit einem Nettoeinkommen von 3.900 Euro monatlich fallen alle in dieselbe Kategorie", bemängelt Butterwegge.

"Die Einkommensungleichheit soll ausgerechnet seit 2005, als Hartz IV in Kraft trat und der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer mit 42 Prozent auf den niedrigsten Stand seit 1949 sank, nicht mehr ­zugenommen haben", gibt Butterwegge zu Bedenken. So zeige der Mikrozensus, dass Armut und Einkommensungleichheit sehr wohl angestiegen seien. 

Auswirkungen der Corona-Pandemie spielen zentrale Rolle

Bei der sechsten Auflage des Armuts- und Reichtumsberichts spielten auch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie eine zentrale Rolle. Von den wirtschaftlichen Auswirkungen seien vor allem Geringverdiener und befristet Beschäftigte betroffen. Der Bericht hebt aber hervor, dass staatliche Maßnahmen wie Hilfspakete und Kurzarbeitergeld die negativen Folgen abgemildert hätten: "Diese Hilfen haben (...) die wirtschaftlichen Härten besonders für die untere Einkommensmitte abgefedert."

Doch auch in diesem Punkt kommt beispielsweise der Sozialverband VDK zu einem anderen Schluss: "Die Bundesregierung schaut zu, wie sich für viele Menschen Armut immer weiter verfestigt. Wenn sie nicht endlich wirksame Maßnahmen ergreift, werden diejenigen, die arm sind, arm bleiben. Das gefährdet den sozialen Zusammenhalt. Es reicht nicht aus, Milliarden in die Wirtschaft zu pumpen. Diese Hilfen kommen bei denjenigen, die wenig haben, kaum an", kritisiert VdK-Präsidentin Verena Bentele.

Der Sozialverband VdK warnt auch, da die Mittelschicht schrumpfe und zu viele Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen gefangen seien, dass es nicht ausreiche, "hier oder dort kleine Schräubchen zu drehen":

"Was wir brauchen, ist eine gerechte Steuerpolitik. Steuerhinterziehung muss gestoppt, die Erbschafts- und Vermögenssteuer reformiert werden. Und wer an der Börse oder als digitales Unternehmen ordentlich verdient, muss über die Finanztransaktionssteuer oder die Digitalsteuer seinen Beitrag leisten. Es kann nicht sein, dass sich manch Superreicher der gesellschaftlichen Verantwortung entzieht."

Zudem dürften nicht ausgerechnet jene, die wenig haben, "die Corona-Zeche zahlen". Sozialleistungen dürfen nicht gekürzt und Verbrauchssteuern nicht erhöht werden, da solche Maßnahmen jene, die wenig haben, besonders hart treffen. Der Sozialverband plädiert daher für eine Vermögensabgabe für all jene, die mehr als eine Million Einkommen oder Vermögen besitzen, ausgenommen selbst genutztes Wohneigentum, um die Corona-Hilfen teils zu refinanzieren.

Doch just angesichts der bevorstehenden Refinanzierung der Schulden, von dessen Aufnahme große Unternehmen profitiert haben, sowie angesichts der Problematik einer zunehmenden sozialen Spaltung, die nach Ansicht von Sozialverbänden und Forschern in nicht unerheblichem Maße auf die gewachsenen sozioökonomischen Unterschiede zurückzuführen sind, drohen konservative Stimmen, dass jegliche Besteuerung von Vermögen zur Abwanderung führe.

Dabei liegen bisher recht unterschiedliche Vorschläge zur Änderung der – laut Butterwegge – bisherigen Entlastung von Vermögen vor. Gesellschafter von Familienunternehmen äußern nunmehr entsprechende Sorgen und Ängste. Laut einer Umfrage unter Gesellschaftern großer und mittelgroßer Familienunternehmen des Magazins für Unternehmerfamilien Wir sehen Firmeneigentümer steigende Steuern und Abgaben als größte Bedrohung für ihr Vermögen. Nach Einschätzung des Linken-Abgeordneten Victor Perli sind solche Sorgen unbegründet, die BMW-Dividende mache allein "heute die Erben und CDU-Spender Klatten und Quandt wieder 500 Millionen Euro reicher".

Jüngst hatten zahlreiche, nicht nur linke Stimmen eine gerechtere Verteilung von Vermögen gefordert. Auch die Industriestaaten-Organisation OECD spricht sich für eine Wiedereinführung der Vermögensteuer in Deutschland aus, jüngst hatte sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) eine zeitlich befristete Abgabe der "oberen Zehntausend" durch höhere Einkommens- und Vermögenssteuern gefordert. Insbesondere Unternehmen, die während der Pandemie "überschießende Profite" erzielt haben, etwa subventionierte Pharmakonzerne und Online-Giganten wie Amazon, stünden nun in der Pflicht, der gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen.

Doch am Mittwoch kippte ein EU-Gericht Steuernachforderungen der EU-Kommission in Höhe mehrerer hundert Millionen Euro, die Luxemburg vom US-Konzern Amazon hätte nachfordern sollen. 2020 erzielte Amazon allein in Deutschland knapp 29,6 Milliarden US-Dollar Umsatz (24,4 Mrd. Euro). Weltweit waren es rund 386 Milliarden Dollar. Amazon-Gründer Jeff Bezos hat ebenfalls am Mittwoch erneut Amazon-Aktien verkauft und im Mai nun schon Anteile im Wert von 6,7 Milliarden Dollar (5,5 Mrd. Euro) zu Geld gemacht. Amazons Aktien waren im vergangenen Jahr, als das Unternehmen durch den Online-Shopping-Boom stark von der Pandemie profitierte, um 76 Prozent gestiegen. Seit Ende April fiel der Kurs jedoch um sieben Prozent.

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