Gesellschaft

Jetzt wird's richtig gaga: Gauland soll beim Tagesspiegel und nicht bei Hitler abgeschrieben haben

Erst hieß es, Alexander Gauland habe für seinen Gastartikel in der FAZ bei Hitler geklaut. Nun soll er sich vielmehr beim Tagesspiegel bedient haben. Bedeutet das nun wiederum, dass der Tagesspiegel bei Hitler gemopst hat? RT Deutsch versucht, das Knäuel zu entwirren.
Jetzt wird's richtig gaga: Gauland soll beim Tagesspiegel und nicht bei Hitler abgeschrieben habenQuelle: Reuters © Stefanie Loos

von Timo Kirez

Wussten Sie, dass der vermutlich größte Dramatiker der Weltgeschichte ein Dieb war? William Shakespeare bediente sich hemmungslos bei anderen Autoren. Sein vielleicht berühmtestes Drama "Hamlet" geht auf den dänischen Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus (1140-1220) zurück. Shakespeare "inspirierte" sich aus der in den "Gesta Danorum" berichteten Sage von Amletus, als er die Tragödie "Hamlet" schrieb. Als wahrscheinlich gilt, dass ihm die Geschichte auch durch Vorläuferstücke des britischen Dramatikers Thomas Kyd und des Franzosen François de Belleforest bekannt war.

Allerdings hatte nicht nur Shakespeare ein Auge auf die "Gesta Danorum" geworfen: Die Sage enthält auch eine frühe Form der Apfelschuss-Szene, die später in die Sage von Wilhelm Tell und noch mal später in die Gestaltung durch Friedrich Schiller einfloss. Es ließen sich noch viele weitere Beispiele zitieren, die belegen, wer vermutlich bei wem was abgeschrieben hat. Manchmal geschah dies auch ohne Absicht. In der Literaturwissenschaft spricht man dann von "unbewusster Entlehnung". Doch nicht immer ist die Angelegenheit so klar wie bei dem erwähnten Beispiel mit Shakespeare. Wo hat Alexander Gauland seinen Gastbeitrag für die FAZ "entlehnt"? Und hat er überhaupt "entlehnt"?

Es geht bei dem Streit vor allem um diese Passage des Artikels, in der Gauland über eine neue globalisierte Elite schreibt:

Diese globalisierte Klasse sitzt in den international agierenden Unternehmen, in Organisationen wie der UN, in den Medien, Start-ups, Universitäten, NGOs, Stiftungen, in den Parteien und ihren Apparaten, und weil sie die Informationen kontrolliert, gibt sie kulturell und politisch den Takt vor. Ihre Mitglieder leben fast ausschließlich in Großstädten, sprechen fließend Englisch, und wenn sie zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur ziehen, finden sie überall ähnliche Appartements, Häuser, Restaurants, Geschäfte und Privatschulen. Dieses Milieu bleibt sozial unter sich, ist aber kulturell 'bunt'.

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Vor allem der Berliner Tagesspiegel empörte sich. In einem Artikel behauptete der Historiker Wolfgang Benz, dass Gaulands Beitrag so wirke, als ob der AfD-Chef den Text einer Hitler-Rede von 1933 auf den Schreibtisch gelegt habe, als er seinen Gastbeitrag schrieb. Sein Historikerkollege Michael Wolffsohn sprach von "Hitler light". In der Rede, auf die sich Benz bezieht, erwähnt Hitler eine "kleine wurzellose Clique, die die Völker gegeneinander hetzt". Ferner sagt Hitler:

Es sind das die Menschen, die überall und nirgends zuhause sind, sondern die heute in Berlin leben, morgen genauso in Brüssel sein können, übermorgen in Paris und dann wieder in Prag oder Wien oder in London, und die sich überall zu Hause fühlen. (Zuruf aus dem Publikum: "Juden!")

Doch nun ist ein Text aufgetaucht, der den Tagesspiegel in die Bredouille bringt. Es geht um einen Tagesspiegel-Beitrag zur "Elitenkritik" des Bloggers Michael Seemann, der im Jahr 2016 erschienen war. In dem mit "Eine andere Welt ist möglich – aber als Drohung" betitelten Artikel schreibt Seemann unter anderem:

Es gibt heute eine globalisierte Klasse der Informationsarbeiter, der die meisten von uns angehören und die viel homogener und mächtiger ist, als sie denkt. Es sind gut gebildete, tendenziell eher junge Menschen, die sich kulturell zunehmend global orientieren, die die New York Times lesen, statt die Tagesschau zu sehen, die viele ausländische Freunde und viele Freunde im Ausland haben, die viel reisen, aber nicht unbedingt, um in den Urlaub zu fahren. Es ist eine Klasse, die fast ausschließlich in Großstädten lebt, die so flüssig Englisch spricht wie ihre Muttersprache, für die Europa kein abstraktes Etwas ist, sondern eine gelebte Realität, wenn sie zum Jobwechsel von Madrid nach Stockholm zieht.

Nanu – klingt das nicht verdächtig nach Hitler? Oder nach Gauland? Oder vielleicht sogar nach Jens Spahn? Der schrieb nämlich 2017 in einem Gastbeitrag für die Zeit Folgendes:

Es ist doch absurd: Wir verlangen von Migranten mit Recht, dass sie Deutschkurse absolvieren, um sich zu integrieren. Währenddessen verlegen sich die Großstädte hipsterhaft aufs Englische und schotten sich so von Otto Normalverbraucher ab. In vielen Berliner Kiezen ist so eine bunt schillernde Blase entstanden, in der sich alle betont weltoffen fühlen – dabei wird hier nur eine verschärfte Form des elitär-globalisierten Tourismus gelebt. Alle, die nicht mithalten können bei der Generation easyJet, bleiben außen vor. 

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Zu erwähnen lohnt sich auch der 2000 erschienene Aufsatz "Globale Eliten und die neue Ungleichheit" des Soziologen Ralf Dahrendorf. In einem weiteren Aufsatz, "Der Wiederbeginn der Geschichte: Vom Mauerfall zum Krieg im Irak", schreibt Dahrendorf unter anderem:

Die globale Klasse verteidigt ihre eigene Freiheit eifersüchtig und macht vollen Gebrauch von den neuen ökonomischen und sozialen Kräften, die ihre Existenzgrundlage bilden, aber sie wendet wenig Zeit und Kraft an die traditionelle Verfassung der Freiheit. Heute wissen wir, dass die Demokratie im Sinne der repräsentativen Regierung eng mit dem verknüpft war, was John Stuart Mill "Nationalität" nannte, also dem Nationalstaat und dem unausgesprochen vorausgesetzten Vertrauen, der diesen zusammenhielt. Es gibt keinerlei Beispiele für wirksame demokratische Institutionen jenseits des Nationalstaates. Doch operiert die globale Klasse eben dort, also jenseits des Nationalstaates.

Mit anderen Worten: die globalen Eliten als Bedrohung für Demokratie und Nationalstaat. Die Liste ließe sich vermutlich endlos fortführen. Im Prinzip geht es hier nicht um Hitler, Gauland oder Dahrendorf, sondern darum, wie Jacob Augstein in einem klugen Kommentar zu Gauland im Spiegel schreibt, dass es gewisse Schwerkräfte gibt, die an den westlichen Gesellschaften zerren. Der Soziologe Michael Hartmann bringt es in einem Interview aus dem Jahr 2017 gut auf den Punkt, als er feststellt, dass Eliten die Hauptschuld für Rechtsruck und Fremdenhass trügen.

Das liege daran, so Hartmann, dass die sogenannten Eliten seit den 1980er-Jahren immer nur verkündet hätten, dass die Globalisierung für alle von Vorteil sei. Und das diese Politik alternativlos sei. Diese Behauptung ziehe sich durch die zurückliegenden Jahrzehnte. Wenn Teile der Bevölkerung diesem politischen Mantra jetzt nicht mehr glauben würden, weil sie die Vorteile für sich nicht erkennen können, dann komme eben irgendwann der Punkt, an dem man jenen auf den Leim gehe, die Alternativen anbieten, auch wenn diese unsinnig seien.

Laut Hartmann gehe die Enttäuschung über die Etablierten einher mit der leisen Hoffnung, dass "die Neuen" vielleicht doch etwas besser machen. Dazu käme dann bei einem Teil auch noch die Neigung, die Schuld bei Schwächeren wie Migranten oder Flüchtlingen zu suchen. Doch eine vergleichbare inhaltliche Auseinandersetzung mit Gaulands Elitenkritik findet in der aktuellen Diskussion leider kaum statt. So wäre es zum Beispiel auch durchaus möglich, dem AfD-Chef mit einer dezidiert linken Elitenkritik den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dazu muss man nur die AfD-Terminologie dekonstruieren, wie es zum Beispiel der Politikwissenschaftler Christoph Butterwege tut.

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Laut Butterwege konstruiert die AfD eine typische "Mittelschichtideologie", indem sie einen Gegensatz zwischen "korrupten Eliten" und "arbeitsscheuen Unterschichten" schafft. Diese würden dann dem "fleißigen (deutschen) Volk" gegenübergestellt. Daraus resultiere ein Großteil ihrer Überzeugungskraft, weil heute scheinbar nicht mehr der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit als Triebkraft der Geschichte wirke, sondern die Symbiose zwischen einer politischen Klasse, deren Handeln sich nur an ihrem eigenen Nutzen orientiert, und einer mächtigen Finanzoligarchie, die nötigenfalls zum Hilfsmittel des Lobbyismus greife, um sich den Staat untertan zu machen. Auch die Migration erleichtere der AfD die "rechtspopulistische Ansprache" von Mittelschichtangehörigen und bestätige scheinbar rassistische Ressentiments.

Doch warum über Inhalte streiten, wenn es das Totschlagargument Hitler gibt?

 

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