Europa

Sieg der Gelbwesten: Eine historische Bewegung

Es geht nicht nur um eine Spritsteuer. Seit Wochen trägt die Bewegung der "Gelben Westen" den Unmut der Franzosen mit der Regierung auf die Straße. Diese Bewegung könnte ganz Frankreich nachhaltig verändern. Ein Kommentar zur Lage im Nachbarland.
Sieg der Gelbwesten: Eine historische BewegungQuelle: Reuters

von Pierre Lévy, Paris

Gewiss, es sind Bilder von Zerstörung und Chaos um die Welt gegangen. Sie dürfen aber nicht vom entscheidenden Punkt ablenken: Die Mobilisierung der "gelben Westen", bei der am 17. November in Frankreich landesweit Hunderttausende Bürger auf die Straße gegangen sind und die immer noch fortgesetzt wird, hat ein in der französischen Geschichte einmaliges Ausmaß für eine Bewegung erreicht, die keinen etablierten Organisatoren hat.

Man kann bereits aufzeigen, wie sich dieser gelbe Zorn zusammensetzt, der von Akteuren getragen wird, die in großer Zahl zum ersten Mal an einer Demonstration teilgenommen haben, und der eine überwältigende Unterstützung in der Bevölkerung genießt.

Der Auslöser des Zorns verdient Beachtung: Die Regierung war entschlossen, die auf Kraftstoff, insbesondere auf Diesel erhobenen Steuern zu erhöhen. Sie wollte den Menschen damit ausdrücklich eine Änderung des Verhaltens und der Lebensweise verordnen – "Energiewende" nennt sich das. Dass zwei von drei Befragten der Meinung sind, dass die Kaufkraft Vorrang vor Umweltbelangen haben muss, ist ein beispiellos heftiger Schlag gegen das Trommelfeuer, mit dem viele Tageszeitungen die Verpflichtung "den Planeten zu retten" beschwören. Das sogenannte, freiwillig gewählte und glücklich machende "einfache Leben" stellt sich langsam als das heraus, was es ist: ein Fake-Account der aufgezwungenen Sparmaßnahmen.

Natürlich, jenseits vom Benzin hat die Kaufkraft die Menschen auf die Straße getrieben. Lebensmittel, Kraftstoff, Strom, Gas, Versicherungen, Miete: Millionen von Haushalten steht das Wasser bis zum Hals. Die Protestierenden stammen zum größten Teil aus Arbeiterkreisen, während die städtische Bourgeoisie der Bewegung bestenfalls mit Vorbehalt begegnet.

Noch ein Faktor kommt hinzu: Die Wut darüber, sich von "denen da oben" ignoriert zu fühlen. Das gilt sowohl in sozialer Hinsicht – denn man kann so hart arbeiten, wie man will, es reicht einfach nicht mehr – aber auch in politischer, man kann die alte Regierung zwar abwählen, aber die Orientierung bleibt doch die gleiche. Die Erinnerung an die Volksabstimmung vom Mai 2005 über die Annahme des Vertragsentwurfs für eine europäische Verfassung, letztendlich mit Füßen getreten, ist noch sehr lebendig. Emmanuel Macrons Mantra von der sogenannten "europäischen Souveränität" hat die Dinge objektiv noch verschlimmert: Sie ist mit der Souveränität des Volkes nicht vereinbar.

Sicher, man hat am 17. November keine europäischen Fahnen verbrannt. Aber die sich an den Kohlebecken wärmenden Frauen und Männer rekrutieren sich nicht gerade aus den Reihen glühender Anhänger der Europäischen Union. Bei ihnen steht die Tricolore und die mit Inbrunst gesungene Marseillaise im Mittelpunkt. 

Und wenn die mobilisierten Bürger ihr Misstrauen in Bezug auf die Politiker zum Ausdruck bringen, die auf nationaler Ebene verantwortlich und dabei sind, ihre Legitimität zu verlieren, dann trifft das auf die übernationalen Institutionen, die einer solchen Legitimität von Natur aus entbehren, noch viel mehr zu.

Das Versagen der Gewerkschaften

Auch die Gewerkschaften gehen aus dieser Prüfung nicht unbeschadet hervor. Die Vorsitzenden der Gewerkschaftsbünde CFDT und CGC haben sich beschwert, dass solch eine Bewegung den „sozialen Dialog“ ausschließt, weil sie sich über die "Mittlerorganisationen" hinwegsetzt. Die Führung des CGT hat ihrerseits zunächst bemängelt, dass es sich um eine unterschwellig von der „extremen Rechten“ gesteuerte Bewegung handle (doch eine Reihe seiner Mitglieder haben sich der Bewegung angeschlossen). Eines Tages wird man sich der Rolle des sogenannten "Antifaschismus" widmen müssen, als Vorwand, die "Klassen"-Grundsätze aufzugeben: Ob beim Thema Europa, den Migrationsfragen oder sogar dem Aufruf, im zweiten Durchgang bei den Präsidentschaftswahlen für Macron zu stimmen. Verleugnung und Lossagung werden systematisch mit der Angst begründet, sich „neben Marine Le Pen“ wiederzufinden. Damit macht man in einem Ausmaß Werbung für sie, wie sie es wohl kaum verdient hat und räumt ihr den Platz ein, von dem sie träumt.

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Während die offiziellen Stimmen vorgaben, die Gefahr einer "Rückkehr zu den 1930er Jahren" dämmern zu sehen und die "Gilets jaunes" sich darauf vorbereiteten, auf die Straße zu gehen, plädierte der französische Wirtschaftsminister im Handelsblatt dafür, dass Europa ein "Empire" werden müsse. Ein "friedliches" Empire, so präzisierte er (aber immerhin mit einer "richtigen europäischen Armee" ausgerüstet, von der der französische Staatschef träumt), das aber dann endlich seine Macht gegenüber den anderen großen Akteuren auf der Welt durchsetzen könnte.

Zumindest muss man Bruno Le Maire zugute halten, dass er den wahren Sinn der Globalisierung unverblümt beim Namen nennt – der Globalisierung, die letztendlich am 17. November die eigentliche Angeklagte war: Eine Dynamik von Vormachtstellungen und Rivalitäten, die den "Pöbel" niedertrampelt und die Völker unterwirft. Und die sie eines Tages wohl gegeneinander aufbringen könnte. Denn ist das nicht die eigentliche Natur von Imperien, von Einheiten, die per Definition für sich keine Grenzen kennen?

Zugegeben, die Verbindung zwischen dem Dieselpreis und den gefährlichen geopolitischen Ambitionen liegt nicht unbedingt auf der Hand. Doch der französische Präsident sollte vorsichtig sein. Denn Gelbwesten... reflektieren.

Das ist ja genau ihre Besonderheit.

Die umfassenden Forderungen der Gelbwesten

Forderungen der "Gelbwesten" gehen nun offiziell über die bloße Frage der Treibstoffpreise hinaus. In einem langen, der Presse und den Abgeordneten übermittelten Kommuniqué, das in den französischen Medien breite Beachtung fand, listen sie eine Reihe von Forderungen auf, die sie erfüllt haben möchten:

"Abgeordnete Frankreichs, wir übermitteln Ihnen die Direktiven des Volkes, damit Sie diese in Gesetze umsetzen.

Abgeordnete, verschaffen Sie unserer Stimme Gehör in der Nationalversammlung! Folgen Sie dem Willen des Volkes! Setzen Sie diese Direktiven durch:

• Null Obdachlosigkeit: DRINGEND.

• Mehr Progression bei der Einkommenssteuer, das heißt mehr Stufen.

• Mindestlohn von 1.300 Euro netto.

• Förderung der kleinen Geschäfte in den Dörfern und Stadtzentren. Einstellung des Baus großer Einkaufszentren um die Großstädte herum, die den Einzelhandel abwürgen, und mehr kostenlose Parkplätze in den Stadtzentren.

• Isolierung von Wohnungen im großen Maßstab, um die Ökologie mit Einsparungen in den Haushalten voranzubringen.

• Steuern: die GROSSEN (MacDonalds, Google, Amazon, Carrefour, ...) sollen GROSSES GELD zahlen, und die Kleinen (Handwerker, Klein- und Mittelbetriebe) zahlen KLEINES GELD.

• Ein einheitliches System der Sozialversicherung für alle (Handwerker und kleine Selbständige eingeschlossen). Abschaffung der Selbständigen-Sozialversicherung (RSI).

• Das Rentensystem muss solidarisch bleiben und demzufolge vergesellschaftet werden. Keine Rente nach Punkten.

• Schluss mit der Erhöhung der Treibstoffsteuer.

• Keine Rente unter 1.200 Euro.

• Jeder gewählte Abgeordnete hat das Recht auf den Durchschnittslohn. Seine Reisekosten werden überprüft und, soweit begründet, erstattet. Recht auf Restaurant- und Urlaubsgutscheine.

• Die Löhne aller Franzosen sowie die Renten und Leistungen sind entsprechend der Inflation zu indexieren.

• Schutz der französischen Industrie: Verbot von Verlagerungen. Schutz unserer Industrie bedeutet Schutz unseres Know-how und unserer Arbeitsplätze.

• Schluss mit der Arbeitnehmerentsendung. Es ist nicht normal, dass jemand, der auf französischem Territorium arbeitet, nicht den gleichen Lohn und die gleichen Rechte erhält. Jede Person, die autorisiert ist, auf französischem Territorium zu arbeiten, ist einem französischen Staatsbürger gleichzustellen, und ihr Arbeitgeber muss für sie die gleichen Abgaben entrichten wie ein französischer Arbeitgeber.

• Zur Sicherung der Beschäftigung: Befristete Arbeitsverträge in großen Unternehmen stärker begrenzen. Wir wollen mehr unbefristete Verträge.

• Abschaffung der "Steuergutschrift für die Förderung des Wettbewerbs und der Beschäftigung" (CICE)*. Nutzung dieser Gelder zur Förderung einer französischen Wasserstoffauto-Industrie (wirklich ökologisch, anders als Elektroautos).

• Ende der Austeritätspolitik. Einstellung von Zinszahlungen auf illegitim eingeschätzte Schulden und Beginn der Schuldentilgung, ohne auf das Geld der Armen und weniger Armen zurückzugreifen, sondern durch Aufspüren der 80 Milliarden hinterzogenen Steuern.

• Beseitigung der Ursachen erzwungener Migration.

• Korrekte Behandlung von Asylbewerbern. Wir schulden ihnen Wohnraum, Sicherheit, Ernährung sowie Bildung für die Minderjährigen. Zusammenarbeit mit der UNO zur Einrichtung von Empfangslagern in zahlreichen Ländern der Welt in Erwartung des Ergebnisses des Asylverfahrens.

• Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihr Ursprungsland.

• Umsetzung einer tatsächlichen Integrationspolitik. In Frankreich zu leben heißt, Franzose/Französin zu werden (Französisch-Kurse, Kurse in französischer Geschichte und in staatsbürgerlicher Bildung mit Abschlusszeugnis am Ende der Kurse).

• Festlegung eines Maximallohns von 15.000 Euro.

• Schaffung von Arbeitsplätzen für Arbeitslose.

• Erhöhung der Leistungen für Personen mit Behinderungen.

• Begrenzung der Mietpreise. Mehr Wohnungen mit geringen Mietpreisen (insbesondere für Studenten und prekär Beschäftigte).

• Verbot des Verkaufs von Grundstücken und Einrichtungen, die sich im Eigentum Frankreichs befinden (Talsperren, Flughäfen, …).

• Konsequente Zurverfügungstellung von Mitteln für Justiz, Polizei, Gendarmerie und Armee. Bezahlung oder Freizeitausgleich von Überstunden der Ordnungskräfte.

• Einsatz aller Mauteinnahmen für den Unterhalt der Autobahnen und Landstraßen Frankreichs sowie für die Straßenverkehrssicherheit.

• Da die Gas- und Strompreise seit der Privatisierung gestiegen sind, wünschen wir, dass beides wieder in die öffentliche Hand kommt und die Preise entsprechend gesenkt werden.

• Sofortiger Stopp der Einstellung kleiner Bahnstrecken, der Abschaffung von Postämtern und der Schließung von Schulen und Entbindungsstationen.

• Wohlergehen für ältere Menschen. Verbot der Gewinnerzielung auf Kosten älterer Menschen. "Graues Wohlergehen" statt "Graues Gold".

• Maximal 25 Schüler pro Klasse von der Vorschule bis zur Abschlussklasse.

• Bereitstellung notwendiger Mittel für die Psychiatrie.

• Volksentscheide sind in die Verfassung aufzunehmen. Schaffung einer lesbaren und effizienten Webseite, überwacht durch ein unabhängiges Kontrollorgan, auf der Menschen Gesetzesvorschläge einbringen können. Wenn ein solcher Vorschlag 700.000 Unterschriften erhält, ist er von der Nationalversammlung zu diskutieren, zu ergänzen und ggf. mit Änderungsvorschlägen zu versehen. Die Nationalversammlung ist zu verpflichten, ihn (ein Jahr nach dem Stichtag der Erlangung der 700.000 Unterschriften) der Gesamtheit der Franzosen zur Abstimmung vorzulegen.

• Rückkehr zu einem Sieben-Jahres-Mandat für den Präsidenten der Republik. Die Wahl der Abgeordneten zwei Jahre nach der Wahl des Präsidenten wird dem Präsidenten der Republik ein positives oder negatives Signal hinsichtlich seiner Politik übermitteln. Dies wird dazu beitragen, der Stimme des Volkes Gehör zu verschaffen.

• Rente mit 60 Jahren. Recht auf Rente mit 55 Jahren für alle Personen, die körperlich schwer arbeiten (beispielsweise Maurer oder Schlachthausarbeiter).

• Verlängerung des Systems der Zuschüsse für Kinderbetreuung (Pajemploi) über das sechste Lebensjahr hinaus bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes.

• Förderung des Schienengütertransports.

• Kein Quellensteuerabzug.

• Schluss mit den lebenslangen Bezügen für Altpräsidenten.

• Verbot der Erhebung einer Gebühr von Händlern für die Zahlung per Kreditkarte durch deren Kunden.

• Besteuerung von Schiffsdiesel und Kerosin".

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