Wenn Weißrussland fällt, ist Russland dran – Lukaschenko im Interview mit russischen Medien
Alexander Lukaschenko, am 9. August in einer umstrittenen Wahl zum sechsten Mal wiedergewählt, wird derzeit mit einer andauernden Protestbewegung in seinem Land konfrontiert. In der weißrussischen Hauptstadt gehen jedes Wochenende zehntausende Menschen auf die Straße, darunter sehr viele junge Leute. Sie wollen Alexander Lukaschenko als Präsidenten nicht mehr anerkennen.
Die Staatsmacht geht zwar nicht mehr so brutal gegen Demonstranten vor, wie noch in der ersten Protestwoche nach den Wahlen. Sie setzt jedoch nach wie vor auf repressive Maßnahmen, die Festnahmen gehen weiter. Die letzte Protestanführerin – Marija Kolesnikowa –, die noch im Land geblieben ist, wurde gerade wegen ihrer "Aufrufe zur Machtergreifung" festgenommen.
Die EU und Nachbarstaaten wie Polen und Litauen haben den Wahlsieg von Lukaschenko nicht anerkannt und die Polizeigewalt scharf verurteilt. Vor diesem Hintergrund lebt derzeit das Verhältnis zwischen Russland und Weißrussland wieder auf. Nach dem Besuch des russischen Premierministers Dmitri Mischustin in Minsk wird Lukaschenko nächste Woche zum Gegenbesuch in Moskau erwartet. In einem Interview für die Vertreter der vier größten russischen staatlichen Fernsehkanäle, darunter auch RT, erwähnte Lukaschenko mehrmals "meinen Freund", den russischen Präsidenten. Das Interview dauerte fast zwei Stunden und ist auf Youtube mit der deutschen Simultanübersetzung zugänglich. Im Folgenden werden die wichtigsten Gesprächspassagen mit dem für seine Redelustigkeit bekannten Präsidenten zusammengefasst:
Was tun mit der Opposition?
Auf die Frage eines Journalisten, ob er bereit wäre, mit "jemanden aus der Opposition" zu sprechen, sagte Lukaschenko, dass er derzeit keine ausgereifte politische Opposition im Land sieht.
Präsidenten verhandeln nicht mit Irgendwem", sagte er.
Die im Internet veröffentlichten Programme aus dem Kreis derjenigen Reformer um die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, kritisierte er erneut. Aus seiner Sicht seien die Forderungen nach Abkehr vom Russischen als Staatssprache sowie nach dem Austritt Weißrusslands aus allen Integrationsprojekten mit Russland völlig undenkbar.
Wenn fremde Kampfverbände vor Smolensk stehen, wird es in Belarus Krieg geben", sagte er zu möglichen Folgen eines von einigen Oppositionsparteien angestrebten NATO-Beitritts.
Auch Privatisierungsvorhaben der Reformer kritisierte Lukaschenko. Er habe das Land bisher bereits davor bewahrt. Die staatlichen Betriebe würden dann zerschlagen, was Arbeitslosigkeit und Verlust des industriellen Potenzials des Landes zur Folge hätte.
Aus seiner Sicht müsse eine politische Reform durch eine neue Verfassung eingeleitet werden. Er sei bereit, die Befugnisse des Präsidenten partiell an die Gouverneure und das Oberste Gericht zu übertragen. Dennoch plädiert Lukaschenko nach wie vor für eine starke Rolle des Präsidenten. Dies sei besser für Staaten wie Russland, Weißrussland und die Ukraine. Ein Dialog über die Verfassung müsse zwischen dem Staat und etablierten Vertretungen der Bürger in der Gesellschaft stattfinden.
Wir haben Veteranenverbände, Gewerkschaften, Frauenvereine, Jugendvereine, Parteien – sie können mit Präsidenten reden.
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Die Fristen für eine Verfassungsänderung könnten auf dem Allweißrussischen Volkskongress im Winter dieses Jahres gesetzt werden. Dieser findet alle fünf Jahre statt. Lukaschenko schloss nicht aus, dass auch die Präsidentschaftswahlen vorgezogen werden können.
"Vielleicht war ich zu lange auf diesem Posten"
Für eine "Lukaschenko-Müdigkeit" vieler Bürger zeigte der Präsident, der im Jahr 1994 zum ersten Mal gewählt worden war, großes Verständnis.
Selbst wenn man das Bügeleisen einschaltet, hört man trotzdem Lukaschenko sprechen, geschweige denn im Fernsehen", scherzte er. "Einem Teil der Menschen war das zu viel."
Der Präsident erkannte auch an, dass das Land – seitdem er an der Macht sei – sich sehr verändert hat. "Wir haben ein Bürgertum, eine Art Kleinbourgeoisie entwickelt, das sind vor allem IT-Spezialisten. Und jetzt wollen sie Macht. Das ist der Grund für die Ursachen des Konfliktes", sagte der Präsident. Damit deutete Lukaschenko auf die Entstehung der sogenannten kosmopolitischen Kreativen in der inzwischen weltweit beachteten weißrussischen IT-Branche. Lukaschenko sieht vor allem sich selbst als Gründer dieser Branche, weil er im Jahr 2006 die Entstehung des Technologischen Parks – des "Silicon Valley von Minsk" beschlossen hatte und dies mit Steuervergünstigungen förderte.
Nun protestieren vor allem die IT-Profis gegen Lukaschenko und drohen, wegen Repressionen das Land zu verlassen. Viele von ihnen sammeln Geld für gekündigte Protestler aus den Staatsbetrieben.
Ich war natürlich enttäuscht. Ja, das ist nicht erfreulich. Es ist wie bei eigenem Kind, das du großgezogen hast", sagte Lukaschenko dazu.
Weißrussland ist nur Sprungbrett
Seine eigene Analyse spricht dafür, dass Lukaschenko die Proteste sehr ernst nimmt. Er will das Krisenpotenzial auch wegen der Einwirkung äußerer Akteure nicht unterschätzen. "Wenn Weißrussland zusammenbricht, ist Russland dran", sagte er.
Der Westen braucht Russland, Weißrussland ist nur das Sprungbrett. Man darf Weißrussland nicht an die Vereinigten Staaten oder den Westen übergeben, man bezeichnet es als Botenlinie, "Piłsudski-Gebiet". Mitte der 1990er kam Clinton sofort nach Belarus. Es war schon alles unterschrieben und vorbereitet. Wer hat das verhindert? Ich!
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Lukaschenko sieht sich nach wie vor als den einzigen Politiker im eigenen Land, der mit Russland verhandeln kann und darf. Im letzten Jahrzehnt setzte die weißrussische Regierung zunehmend auf die sogenannte "multivektorale Politik", wonach der souveräne Staat Republik Belarus trotz seiner Mitgliedschaft in einer Union mit Russland auf gute bis sehr gute Beziehungen mit seinen restlichen Nachbarn, EU, USA und China setzen wollte. Ob nun infolge der politischen Krise ein grundsätzliches Umdenken bezüglich dieser Politik stattfinden wird, ist noch ungewiss. Die EU hat trotz Kritik an Lukaschenko keine personenbezogenen Sanktionen gegen ihn beschossen – um den Autokraten "nicht in die Hände Putins zu treiben" – wie EU-Politiker diese Taktik selbst beschreiben.
Vor dem "Blitzkrieg" bewahrt
Die russischen Journalisten sprachen auch das schwierige Thema der Polizeigewalt an. Diese war in der ersten Woche nach der Wahl ausufernd und hat infolge viele weitere Menschen für Straßenproteste motiviert. Mindestens drei Personen verloren im Zusammenhang mit Protesten ihr Leben.
Die Polizisten haben sich aggressiv verhalten. Wir haben viele verprügelte Menschen gesehen. Sind Sie nicht schockiert? War das angemessen? Viele haben wegen der Brutalität demonstriert", fragte einer der Journalisten.
Die RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan fügte hinzu, dass auch russische Journalisten, darunter RT-Mitarbeiter, von den Ordnungskräften "etwas abbekamen".
An dieser Stelle wurde der Präsident sichtlich nervös. Er war nicht gewillt, die Ordnungskräfte für die Gewalt zu kritisieren. Diese spielte sich nicht nur auf den Straßen, sondern auch im Polizeigewahrsam ab. Dennoch gab Lukaschenko zu, dass es nicht gut sei, "die Leute, die auf dem Boden liegen", zu verprügeln. "Wenn die Leute am Boden liegen, wird nicht geschlagen".
Ansonsten nahm der Staatschef die Polizei und ihre Sondereinheit OMON in Schutz. "Ihre Aufgabe ist es, das Land unter Kontrolle zu halten." Er wies darauf hin, dass viele von ihnen während der Straßenunruhen selbst angegriffen und verletzt wurden.
39 junge Männer mit Knochenbüchen liegen noch im Krankenhaus. Das schmerzt mich. Sie haben uns vor dem Blitzkrieg bewahrt und damit das Land gerettet", sagte Alexander Lukaschenko.
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