von Wladislaw Sankin
Es brodelt in Weißrussland, Demonstranten liefern sich Kämpfe mit der Polizei, die breiten Straßen der Hauptstadt sind von Blend- und Gasgranaten verqualmt, es werden Barrikaden errichtet. Die Behörden melden auch schon den ersten Toten – eine selbstgebaute Granate sei in seiner Hand explodiert. Dazu gibt es eine gehörige Portion Fake News, die sich über die Messenger wie Lauffeuer verbreiten, und Bilder von Polizisten, die auf die Protestler mit Schlagstöcken einprügeln.
Was passiert in dem osteuropäischen Land? Versucht ein Volk, sich eines Tyrannen zu entledigen? Oder ist es ein weiterer "Maidan", bei dem es nicht vorrangig, wie verkündet, um Menschenrechte und Meinungsfreiheit, sondern um den Gewinn weiteren geopolitischen und wirtschaftlichen Terrains geht? Die russische Denkfabrik Social Engineering Agency (SEA) stellt in einer Analyse fest, dass die aktuellen Proteste von langer Hand geplant seien und derzeit detailgetreu nach einem klassischen Drehbuch für Farbrevolutionen ausgeführt würden.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat es mehr Revolutionen gegeben als im gesamten 20. Jahrhundert. Die Methoden der Informationskriegsführung, aber auch der Proteste werden ständig vervollkommnet. Gleichzeitig hat die Programmierung der Gesellschaft für die politischen Interessen an überragender Bedeutung gewonnen. In dieser Hinsicht ist das Social Engineering zum Hauptinstrument der Außenpolitik der Global Players geworden", schreibt SEA auf ihrer Webseite.
Die Aufgabe der Denkfabrik sei es deshalb, die "soziale Kodierung" zu entziffern. RT Deutsch sprach mit dem SEA-Chef Anton Dawydchenko. Er stammt aus Odessa in der Ukraine und lebt im politischen Exil in Moskau. Als einer der Aktivisten des Odessaer Anti-Maidans kennt er die Arbeit von Protestgruppen, nun liefert er mit seinen Mitarbeitern Analysen und organisiert Runde Tische, um die Ergebnisse seiner Arbeit zu besprechen.
Bereits im Jahr 2018 stellte SEA für Weißrussland eine hohe Wahrscheinlichkeit fest, dass in den nächsten zwei Jahren eine klassische Farbrevolution – nach der Methodik des US-Publizisten und Theoretikers der "gewaltlosen Proteste" Gene Sharp – stattfinden könne. Das entsprechende Instrumentarium sei bereits vorhanden – ein dichtes Netz aus mehreren Dutzend NGOs, Thinktanks, Medien und Hunderten von Bloggern und Meinungsführern. Alles hauptsächlich westlich (USAID, Open-Society von George Soros und ähnliche Strukturen) über "Polster-Firmen" in Polen und Litauen mit einem zweistelligen Millionen-Budget (US-Dollar) finanziert.
Diese Strukturen hätten es vermocht, die aktivsten und talentiertesten unter den jüngeren Weißrussen zu rekrutieren. Hauptziel ihrer Arbeit sei die systematische Diskreditierung des Lukaschenko-Systems, Russlands und der Sowjetunion sowie die Pflege und Popularisierung der nationalistischen Narrative unter dem Deckmantel einer demokratischen Bewegung.
Zwei Wochen vor der Präsidentenwahl am 9. August analysierte SEA die Vorwahlsituation in Weißrussland und stellte fest, dass die Farbrevolution (Maidan) im osteuropäischen Land bereits im vollen Gange sei. So habe sich in den ersten Monaten des Jahres 2020 die Anzahl der oppositionellen Medien-Aktivisten vor allem durch den Anstieg der Telegram-Accounts drastisch erhöht. Die Abonnentenzahl allein bei den fünf größten oppositionellen Telegram-Accounts sei von 317.000 am 1. Januar auf 672.00 Abonnenten am 20. Juni gestiegen.
Laut dem Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation, Maxim Grigorjew, der die Studie kommentierte, zeige sie eine signifikante Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Belarus durch die Gründung und Arbeit verschiedener Organisationen.
Die Besonderheiten ihrer Aktivitäten zeigen ein hohes Maß an Koordination und die Existenz eines einzigen Zentrums für die Entscheidungsfindung", sagte er in einem Interview.
Entmenschlichung des Gegners
Laut der Studie habe man bereits im Vorfeld der Wahlen im Unterbewusstsein der Weißrussen eine aggressive Haltung und Bereitschaft zum Kampf gegen den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko "bis zum Sieg" stimuliert. Dazu diente das Bild einer "Kakerlake" ("Tarakan"), die mit dem amtierenden Präsidenten assoziiert wird. Das Logo "Stop Tarakan" benutzte der populäre oppositionelle Blogger Sergej Tichanowski in seinen Videos und machte diesen Spruch damit zu einem Meme.
Das Bild einer Kakerlake bezog sich offenbar assoziativ auf den berühmten frühsowjetischen Kinderreim "Kakerlake" des Schriftstellers Kornej Tschukowski, der auch als Spott über einen nicht namentlich genannten Diktator mit einem Schnauzbart (Stalin) interpretiert wird. Mit diesem Meme soll der "lästige und größenwahnsinnige" weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko entmenschlicht werden. Er regiert das Land seit 26 Jahren autoritär und lässt keine politische Konkurrenz zu. Mit ihm seien auch keine Kompromisse möglich, die Weißrussen hätten den schädlichen Hausparasiten mit einem Pantoffel zu bekämpfen (erschlagen), und das sei die Semantik der neuen "Pantoffelrevolution".
Zahlreiche Flashmobs und Performances wie der "Fahrrad-Maidan" oder das Einschalten von Handy-Lichtern, das Hupen von Autos, gedruckte T-Shirts mit Anti-Lukaschenko-Memes, Graffitis oder Protestzeichen wie weiße Bändchen um die Hand oder die weiß-rot-weiße Flagge – eines der Symbole der belarussischen Nationalisten – seien Teile eines durchdachten Protest-Marketings. Auch die erhobene Faust, das Hauptsymbol des weißrussischen "Maidans", sei nichts anderes als die Übernahme der Symbole aus den verschiedenen Umstürzen der letzten Jahrzehnte – in Serbien, Georgien, Ägypten usw.
Die Autoren der Studie zeichnen auch die Medienstrategie der Protestplaner nach, wonach alle Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Weißrussland wie Sportler oder Künstler, die Sympathie zum amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko zeigen, vor allem in den sozialen Medien angegriffen und geschmäht werden, was dazu führt, dass im Meer des Internets nur die Kritik des Präsidenten als konform und gesellschaftsfähig gilt. Diese Ausgrenzungsstrategie heißt "Schweigespirale".
Obwohl für Lukaschenko offenbar tatsächlich der Großteil der Wähler – auch unter Berücksichtigung mutmaßlicher Wahlfälschungen – gestimmt hat, ist es für seine Unterstützer nicht mehr möglich, dies zuzugeben, denn sie werden in diesem Fall geächtet. Das bestätigen russische Journalisten, die im Land arbeiten, oder Blogger-Umfragen vor der weißrussischen Botschaft in Moskau.
Laut der Studie bezeichnete die Opposition die Wahlen bereits im Vorfeld als illegitim. Dieses Herangehen fällt nun aber umso leichter, da die Regierung und die Justizbehörden Repressalien gegen die Oppositionskandidaten einsetzten und drei von ihnen vom Rennen ausschlossen, was die gesamte Opposition hinter die Kandidatin Swetlana Tichanowskaja brachte, so Dawydchenko. Diese Erklärung sei die Schlüsselkomponente für eine klassische Farbrevolution – die Anfechtung der Wahlergebnisse.
"Nimm der Polizei die Sicht"
Dawydchenko postete auf seinem Facebook-Profil die Auszüge einer Protestanleitung, die tausendfach über die Telegram-Kanäle NEXTA und Belorussija golownogo mozga, die die Proteste anfeuern und koordinieren, verbreitet werden.
Die Pflicht eines jeden Bürgers der Republik Belarus ist es, am Widerstand gegen das verfassungswidrige Regime teilzunehmen", steht als erste Präambel.
Dann folgen Handlungsanweisungen für einen professionellen Protest. Man sollte am besten ein Atemschutzgerät, eine Maske oder einen Helm anhaben. Ein wichtiger Punkt sei die Blockade oder Beschädigung von Polizeitransportern mit Spray: "Nimm ihnen die Sicht!" Beobachter erinnern daran, dass diese Strategie der Transportblockade zum Erfolg der "samtenen Revolution" in Armenien im Sommer 2018 entscheidend beigetragen habe.
Eine wichtige Rolle kommt in der Anweisung den Autofahrern zu. Diese könnten mit ihren Autos ebenso die Straßen für Polizeiwagen blockieren, Patrouillen durchführen und die Mitstreiter über Bewegungen der Polizei informieren: "Es ist wichtig, koordiniert zu handeln", schreiben die Protest-Coaches. Am zweiten Tag der Proteste tauchten immer mehr Videos auf, die zeigen, wie einzelne Autofahrer Polizeikorsos durch gefährliche Manöver durchbrechen und Polizisten rammten:
Besonders wichtig sei Koordination und Disziplin, wenn es zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei kommt. Hier gilt es immer wieder, mit den Händen und untergehakten Armen eine Kette zu bilden, um die Polizei abzuschrecken und den Durchbruch zu verhindern. Protestaktionen sollten über die App bringefy abgestimmt werden, die auch ohne Internetverbindung funktioniert.
Die ersten Protesttage zeigten, dass die Speerspitze der Protestler den meisten dieser Anweisungen genau folgte. Das sind junge, sportliche Männer, vermutlich aus dem Milieu der Ultras, die für ihre nationalistischen Ansichten bekannt sind. Dass sie, wenn sie in Überzahl sind, die Polizisten gerne angreifen, zeigen mehrere Videos. So postete ein deutscher Journalist ein Video aus einer weißrussischen Kleinstadt und vermutete, dass die örtliche Polizei wegen des Abzugs von Kräften in die Hauptstadt unterbesetzt sei.
Aber nicht nur der Straßenkampf ist wichtig. Seit Tagen ruft die Opposition zu landesweiten Streiks auf. Das Lukaschenko-System stützt sich auf Beschäftigte im noch vorhandenen industriellen Sektor der Wirtschaft. Für die Ordnungskräfte soll es extrem schwer sein, gegen die Arbeiter vorzugehen, schreiben die Anführer der Proteste. Am 11. August posteten zahlreiche Twitter- und Telegram-Kanäle kurze Videos aus mehreren Werken in der Republik mit spontanen Kundgebungen der Arbeiter auf den Betriebshöfen und meldeten frohlockend, die Streiks hätten begonnen. Es stellte sich heraus: Diese Werke gehörten zu keinem der zahlreichen staatlichen Unternehmen, offenbar gelang es jedoch den Werksleitungen, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Jedenfalls gibt es seit dem 12. August keine Streiks mehr.
Am Morgen des 12. August scheint auch die Hauptstadt langsam zur Normalität zurückzukehren. Die Polizei meldet die Festnahme einer der Koordinierungszellen der Proteste, das Internet funktioniert im ganzen Land wieder, die Barrikaden werden weggeräumt. Die Lukaschenko-Rivalin Swetlana Tichanowskaja hat sich nach Litauen abgesetzt und gab – vermutlich unter dem Druck der weißrussischen Behörden – den Kampf auf. Doch der zähe Kampf um die politische Zukunft des Landes steht noch bevor.
Unionsstaat und Russland im Visier
Falls es der Staatsmacht doch gelingt, die Protestwelle zu unterdrücken, könnte die nächste Welle der Proteste laut SEA-Analyse in November kommen. Für diesen Monat sei die Unterzeichnung der Dokumente für die weitere Integration innerhalb des Staatenbundes Weißrussland/Russland vorgesehen. Es ist zu erwarten, dass die Opposition, die sich nach der ersten Kampferfahrung gestärkt und für diesen Moment neu aufstellen wird, gegen diese politischen Schritte protestieren wird, sagt Dawydchenko.
Er erinnert noch einmal daran, dass auch Proteste gegen außenpolitische Vereinbarungen am Anfang des sogenannten ukrainischen Euromaidans in November 2013 standen, als Tausende Menschen auf den Straßen Kiews gegen die Weigerung des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch protestierten, das EU-Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen. Das war der Auftakt zu blutigen Auseinandersetzungen im Zentrum der Stadt, die in drei Monaten zur endgültigen Machtübernahme durch radikal-nationalistische Kräfte der Opposition führten.
Diesmal werde die Opposition Lukaschenko das Aufgeben der weißrussischen Unabhängigkeit vorwerfen, zumal er aus ihrer Sicht keine Legimitation mehr hat, über die Zukunft des Landes zu entscheiden, so Dawydtschenko. Spätestens dann werden nationalistische und antirussische Parolen der Protestler in den Vordergrund treten. Bislang waren die Proteste "nur" auf die Figur Lukaschenko fokussiert. Lukaschenko würde wahrscheinlich dem Druck der Proteste weichen und die Unterzeichnung der Dokumente verweigern, zumal er selbst seit vielen Jahren nichts mehr für die Intergration beider Länder getan hat.
#RegimeChange
Zu erwarten sei auch die Erhöhung des diplomatischen Drucks auf Lukaschenko – die EU erwägt Sanktionen gegen weißrussische Spitzenbeamte. Die Rhetorik ähnelt sich auch jener zu Zeiten des ukrainischen Maidans.
Volk von Belarus, gestern habt ihr Eure Wahl getroffen: Demokratie, Freiheit und das Ende der Diktatur. Wir bewundern Euren Mut und Eure Entschlossenheit. Alle Menschen in Europa und in der ganzen Welt stehen zu Euch", sagte der Ex-Vorsitzende des EU-Parlaments Donald Tusk am 10. August.
Im Westen gibt es diejenigen, die im Freudentaumel mit dem Beginn eines neuen Umsturzes Lukaschenko unverhohlen drohen, wie ein Bild-Mitarbeiter und seines Zeichens "Twitter-Feldherr des Tages":
Die einzige Sprache, die Diktatoren verstehen. War immer so. Wird immer so bleiben. #RegimeChange
Es wird auch nach einem ikonischem Bild für Proteste gesucht, das weltweit vermarktet werden könnte. So wertet ein deutscher Journalist eine Szene aus der ersten Protestnacht aus, ob sie zu einem Symbol nach Muster der bekannten "Tankman-Fotos" vom Tian'anmen-Platz im Jahr 1989 taugen kann:
Aus der Sicht des SEA-Gründers Anton Dawydchenko werden die Farbrevolutionen zwar künstlich mit Zuhilfenahme der immer gleichen Techniken entfacht. Dennoch sprechen diejenigen, die hinter den Protesten stehen, die wahren Gefühle der Menschen an:
Sie handeln geschickt nach den Gesetzen der Massenpsychologie, und dafür wird eine ganze Propaganda-Maschinerie eingesetzt.
Die Polizeigewalt, die man in den ersten Protesttagen beobachtete, sei nicht nur übermäßig, sondern auch unnötig gewesen.
Damit bringt der Präsident, der die Wahl eigentlich gewonnen hat, auch viele unbeteiligte Menschen gegen sich auf. Damit wird die spätere Spaltung der Gesellschaft und die Entfremdung der Bürger von ihrer Regierung erleichtert, und das spielt den Interventionisten in die Hände.
Diese seien vor allem in Warschau, in den USA, aber auch in der EU zu finden. Sie würden mittels der Proteststimmung und den Oppositionsfiguren, die zunehmend aus dem Ausland agieren werden, das Land weiter in ihre Einflusssphäre ziehen, bis letztendlich alle Bündnisverträge mit Russland aufgekündigt werden – von denjenigen, die nach Lukaschenko an die Macht kommen. Sollte Lukaschenko weiterhin so viele Fehler machen wie in den letzten Monaten, sei es unwahrscheinlich, dass er bis zum Ende seiner neuen Legislaturperiode im Amt bleibt.
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