Belarus-Expertin zu Protesten in Weißrussland: Neue Größenordnung der Repression

Am letzten Sonntag wurde der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko mit mehr als 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt. In Minsk und anderen Städten gingen tausende Demonstranten auf die Straße, die von Wahlfälschung sprechen. Die Polizei ging hart gegen sie vor.

Für Olga Dryndova, Redakteurin der "Belarus-Analysen", sind die staatliche Repressionen nicht neu, aber die jüngst angewandte Gewalt sei beispiellos in der belarussischen Geschichte.

Alexander Lukaschenko wurde in Belarus mit etwa 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Wie schätzen Sie dieses Ergebnis ein?

Das Ergebnis an sich hat mich nicht überrascht: Alle haben erwartet, dass er offiziell gewinnt. In Belarus gibt es schon seit 1994 keine international anerkannten freien Wahlen mehr. Die einzigen freien Wahlen waren die erste Wahl von Lukaschenko, bei der er tatsächlich gewonnen hatte. Seitdem werden die Wahlen gefälscht. Was mich überrascht hat, ist, dass er sich getraut hat, wieder 80 Prozent zu schreiben, nachdem man offensichtlich eine beispiellose Welle der Unzufriedenheit seitens der Gesellschaft seit dem Ausbruch der Pandemie gesehen hat.

80 Prozent hat er auf keinen Fall – ich würde sogar sagen: nicht einmal über 50 Prozent. Die letzten offiziellen Zahlen, die wir haben, stammen aus einer Telefonumfrage von der Nationalen Akademie der Wissenschaft, die im April und nur in Minsk durchgeführt wurde. Die Fragen gingen nicht um das Rating von Lukaschenko, sondern um das Vertrauen zu ihm. Und selbst bei dieser staatlichen Umfrage bekam er 24 Prozent.

Bei der letzten unabhängigen Umfrage vom Institut für Sozialforschung (das wurde 2016 geschlossen, seitdem gibt es keine unabhängige Sozialforschung in Belarus) lagen die Zahlen bei ungefähr 30 Prozent. Seit 2016 hat sich die wirtschaftliche Situation noch ziemlich verschlechtert, und dazu kam noch die Pandemie. Die Menschen waren unzufrieden mit der Informationspolitik während der Pandemie und auch mit Lukaschenko als Person, weil er die Opfer der Pandemie dafür verantwortlich machte, dass sie chronische Krankheiten haben. Die Menschen waren also wütend auf ihn; das ist in die politische Kampagne mit eingeflossen.

Dass er eine so breite Unterstützung hat, wird niemand mehr glauben in Belarus. Das ist politisch ein sehr schlechter Schritt, glaube ich. Er hätte zumindest zeigen können, dass er wahrgenommen hat, dass er nicht mehr so beliebt ist. Das ist nun für die Belarussen eine Beleidigung, eine Erniedrigung. Nachdem so viele Menschen Tichanowskaja unterstützt haben, hat er trotzdem solche Zahlen angegeben und damit gezeigt, dass für ihn das, was die Menschen denken, nicht relevant ist. Deswegen ist womöglich die Mehrheit der Belarussen jetzt extrem geärgert.

Laut dem Innenministerium wurden mehr als 3.000 Demonstranten festgenommen, 50 verletzt und ein Mensch sogar getötet. Bedeutet dies einen Wendepunkt in der Politik von Lukaschenko?

Repressionen sind auf keinen Fall etwas Neues für Belarus, wir beobachten das schon seit über 20 Jahren. Was neu ist, ist die Größenordnung der Repressionen. So etwas gab es nie vor den Wahlen – und die Proteste hatten ja schon vor den Wahlen angefangen. 

Früher fanden die Proteste nur in Minsk statt, und zwar nach den Wahlen. Die letzte war 2010, danach kamen die EU-Sanktionen. Damals wurden die Menschen sozusagen "einfach" nur geschlagen – natürlich gab es auch Blut – aber keine Toten –, die Protestierenden wurden mit Knüppeln von den Polizisten geschlagen. Dieses Mal sehen wir Tränengas, Wasserwerfer, Blendgranaten und sogar Gummigeschosse: Das ist wirklich beispiellos, Belarus hat sowas noch nie erlebt! Die Belarussen sind schockiert, dass gegen friedliche Demonstranten sofort Gewalt angewendet wurde. Das ist wirklich etwas Neues in der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft in Belarus.

Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja hat sich geweigert, ihre Niederlage anzuerkennen und sich nach Litauen abgesetzt. Müssen Lukaschenkos Kritiker Angst um ihre Sicherheit haben?

Tichanowskaja ist nicht Teil einer klassischen Parteiopposition. Sie ist keine Politikerin: Sie ist eine ehemalige Hausfrau und hat keinerlei Erfahrung mit der Politik oder mit Protesten. Diese ganze Bewegung besteht einfach aus Menschen, die sich spontan entschieden haben weiterzumachen, nachdem alle populären Kandidaten nicht zugelassen wurden, also auch dann noch weiterzumachen. Viele Aktivisten, Blogger, Journalisten – also Menschen, die irgendwie Erfahrung mit Protesten hatten – wurden schon vor den Wahlen verhaftet und nichtsdestotrotz gingen und gehen Menschen auf die Straße.

Tichanowskaja wurde von Lukaschenko als schwach angesehen – und sie war es auch. Aber mit der Unterstützung von anderen Teams wurde sie stärker und populärer. Sie ist eigentlich nicht geflohen: Sie wurde nach meinen heutigen Informationen von belarussischen Behörden nach Litauen transportiert. Das heißt, dass Ziel der Behörden war, sie von dem Rest der Demonstranten abzutrennen, sodass die Menschen keine führende Persönlichkeit mehr haben. Das haben sie geschafft. Aber so wichtig ist es auch wieder nicht, weil Swetlana Tichanowskaja nie zu Protesten aufgerufen hat.

Diese Proteste, die wir jetzt seit drei Nächten sehen, sind "grass-roots"-Proteste, auf keinen Fall von irgendeiner Opposition gesteuert. Sie werden teilweise durch soziale Netzwerke wie in Telegram organisiert – für diejenigen die noch eine Internetverbindung haben, denn die meisten haben gar keine. Das heißt, dass sich ohne Internetverbindung, ohne Führungskraft, Menschen landesweit sammeln. Es gibt keine zentrale Organisation, die das organisiert, und das macht es für die Behörden schwieriger, das zu kontrollieren. Nach den letzten Informationen gibt es schon staatliche Unternehmen, die einen Streik begonnen haben; sowas gab es in Belarus zum letzten Mal in den neunziger Jahren.

Natürlich werden einige Menschen demotiviert, dass Tichanowskaja sie verlassen hat, und nicht sagt, was zu tun sei. Aber das Positive ist, dass Menschen lernen, sich selbst zu organisieren, und das ist für die Belarussen sehr neu: Belarussen sind normalerweise nicht so selbstorganisierend und solidarisch. Das hat wirklich mit der Pandemie angefangen. Und es geht jetzt weiter. Was passiert, ist eine sehr interessante historische Entwicklung.

Halten Sie es für möglich, dass Lukaschenko Kompromisse mit den Demonstranten eingeht?

Ich glaube es nicht, dass Lukaschenko kompromissbereit ist. Er hat das ganz klar mit diesen 80 Prozent gezeigt: Es ist ihm egal, ob die Mehrheit auf seiner Seite steht, er will einfach an der Macht bleiben. In den staatlichen Medien – Internet gibt es nicht mehr, aber dafür Fernsehen – wird das Ganze als kleinere Widerstände, mit viel Gewalt, vom Ausland finanziert usw. dargestellt. Ich denke also nicht, dass er zu einem Dialog bereit ist. Er wird versuchen, diese Bewegungen mit Repressionen zu ersticken. Was soll er sonst tun? Über 100 Wahllokale haben – wahrscheinlich zum ersten Mal in der belarussischen Geschichte seit 1994 – die Stimmen wirklich ausgezählt und offiziell veröffentlicht. Es gibt mehr als 100 Fotos von Protokollen, die zeigen, dass Lukaschenko verloren hat.

Manchmal hatte Tichanowskaja nur ein paar Prozent mehr, an manchen Stellen aber sogar fast 90 Prozent, das unterscheidet sich von Stadt zu Stadt. Aber die Tatsache, dass die Mitglieder der Wahlkommissionen mutig genug waren, so etwas zu machen, zeigt doch, dass dieses lange herausgebildete Fälschungssystem in Belarus nicht mehr funktioniert. Wenn die Protestbewegung nicht weitergeht und unterdrückt wird, könnten sie ihre Arbeitsstellen verlieren; und trotzdem haben sie es gemacht. 

Sie haben es erwähnt: Journalisten wurden festgenommen, in den Staatsmedien wurde kaum über die Proteste berichtet. Wie sieht die Presselandschaft in Belarus aus? Kann man von Pressefreiheit reden?

Es gibt nicht-staatliche Medien, vor allem Onlinemedien. Es gab die letzten zwei Tage Streams von Belsat und Radio Free Europe, aber Journalisten werden mit beispielloser Gewalt behandelt: Die Polizisten schießen sogar auf die Journalisten mit den Gummigeschossen. Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass das System wirklich Angst bekommen hat.

Die sozialen Netzwerke haben in der letzten Wahlkampagne – aber auch in der Pandemie – eine riesengroße Rolle gespielt: Sie haben die Menschen politisiert, mobilisiert, alternative Informationen verbreitet. Die Behörden haben zu spät verstanden, welchen politischen Einfluss diese sozialen Netzwerke auf die Gesellschaft haben. Sie haben dann angefangen, Administratoren von Telegram-Kanälen zu verhaften, aber da war es schon zu spät: Die Menschen waren schon politisiert. Jetzt sind die meisten Nachrichtenportale in Belarus sogar für mich aus Berlin nicht mehr verfügbar, sie funktionieren einfach nicht. Es gibt aber Telegram-Kanäle, dort werden regelmäßig Nachrichten gepostet. Meine Freunde und Verwandten aus Belarus haben das Internet vielleicht einmal am Tag oder jeden zweiten Tag. Sie schreiben mir ab und zu etwas auf Facebook oder auf Telegram, aber dann verschwinden sie wieder. 

Es ist eine kuriose Situation, weil ich in Berlin viel besser informiert bin über all das, was überall im Land passiert, als diejenigen, die in Belarus sind. Eine Freundin hat mich gestern angerufen und mich gebeten, ihr zu erzählen, was in Belarus passiert – weil sie kein Internet hat. Das Ziel von Lukaschenko war, die Menschen ohne Internet zu demobilisieren – das hat einigermaßen funktioniert. Aber gleichzeitig hat es eine neue Mobilisierungsfunktion: Die Menschen wissen nicht, was passiert, sie haben Angst, sie hören Explosionen, sie haben keine Nachricht von Tichanowskaja, sie haben kein Internet. Aber dadurch haben sie mehr horizontale Kontakte miteinander. Sie können immer noch miteinander telefonieren, so werden die Informationen weitergegeben. Sie versuchen, sich hundertprozentig selbst zu organisieren.

Danke für das Gespräch!

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