Experte zu Wahlen in Weißrussland: "Lukaschenko hat das Copyright am heutigen Belarus"

Keiner der aktuell amtierenden Staatschefs regiert so lange wie der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko – er ist bereits seit 1994 an der Macht. Seine Wiederwahl scheint nun aber nicht mehr so sicher zu sein. Stürzt das System Lukaschenko in eine Krise?

Am 9. August findet in Weißrussland die Wahl des Präsidenten statt. Die Vorwahlsituation wird derzeit von einem schweren Skandal überschattet – der Verhaftung einer großen Gruppe russischer Staatsbürger. Im Land wächst die Proteststimmung, mehrere Oppositionskandidaten sind von der Wahl ausgeschlossen oder verhaftet worden. Was Alexander Lukaschenko umtreibt und wie sich die weißrussisch-russischen Beziehungen wohl entwickeln werden, erzählt RT Deutsch der russische Experte Oleg Nemenski. In Russland ist er ein gefragter Politwissenschaftler und Osteuropa-Spezialist. Nemenski ist führender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Russischen Instituts für Strategische Studien (RISI). Das Gespräch führte der RT-Online-Redakteur Wladislaw Sankin.

RT: Was denken Sie, wie wird die Situation mit der Verhaftung russischer Staatsbürger in Weißrussland geregelt? Ihre Auslieferung an die Ukraine wird in Russland von vielen Experten und Journalisten als "rote Linie" in den Beziehungen zum Nachbarstaat eingeschätzt.

Nemenski: Wenn es Minsk und Moskau gelingt, sich über die Rückkehr der festgenommenen Russen nach Moskau zu einigen, dann wird der Skandal keine ernsthaften politischen Folgen haben. Das sieht man vor allem an der Reaktion Moskaus. Obwohl man in Moskau ziemlich verblüfft war über die Situation, gibt es bis jetzt in der russischen Führung meiner Meinung nach keine einheitliche Position dazu, wie man auf diesen Skandal reagieren sollte.

Was feststeht, ist, dass um die Verhafteten zwischen Minsk und Moskau gefeilscht wird. Sie sind Geiseln der Westpolitik Lukaschenkos. Ihm ist es wichtig, vor allem den USA zu zeigen, dass Weißrussland Russland in eine Konfliktsituation bringen kann, dass das Land kein Verbündeter Russlands ist, sondern eine eigene Politik verfolgt.

Überraschend ist das Datum der Verhaftung. Am 7. August läuft die Frist aus, bis zu der sie nach weißrussischen Gesetzen offiziell beschuldigt werden können. Das Datum liegt vor den Wahlen, und sie wurden bislang nicht beschuldigt, auch in den Medien hat man keinen einzigen Beleg für ihre Schuld angeführt.

RT: Wie sehen die Beziehungen zwischen Russland und Weißrussland künftig aus? Die Länder entfernen sich immer mehr voneinander. Ist das für Russland ein Problem? Viele glauben, Minsk sei für Russland wie Aleppo für Syrien, man dürfe es nicht verlieren.

Nemenski: Man überschätzt oft die Rolle Weißrusslands für Moskau. Auf der einen Seite ist Moskau sehr an maximaler Integration mit Weißrussland interessiert. Vom Ende der Nullerjahre bis zum Jahr 2014 war Russlands außenpolitische Priorität im postsowjetischen Raum, eine Integrationsgemeinschaft zu bilden, und Weißrussland sollte da ein wichtiges Bindeglied sein. Seit 2014 hat sich die Situation geändert, mit Beginn der Ukraine-Krise. Das hat damit zu tun, dass die Ukraine aus den Integrationsprozessen herausgefallen ist. Ohne sie kann es keine vollständige regionale Integration geben, das ist die Realität, mit der man es seit 2014 zu tun hat. Dementsprechend müsste auch die außenpolitische Zielsetzung geändert werden.

Jetzt hat Russland andere Prioritäten. Sie gehen aus dem neuen Status Russlands hervor, aus dem Status einer Weltmacht. Russland musste unfreiwillig den Status einer Regionalmacht zugunsten des Status einer Weltmacht aufgeben. Früher war es nicht möglich, dass ein Land Weltmacht wird, ohne Regionalmacht zu sein. Jetzt hat sich der territoriale Faktor in der Weltpolitik geändert, und man kann beobachten, dass der jetzige Kurs Russlands erfolgreich ist.

Aus diesem Grund hat die Stellung Weißrusslands als Partner wesentlich an Bedeutung verloren. Mehr noch, die Weigerung Weißrusslands, die wirtschaftliche und politische Integration voranzutreiben, macht die Partnerschaft mit Weißrussland schwierig. Kosten und Nutzen stehen jedenfalls in dieser Partnerschaft nicht mehr im Verhältnis zueinander. In der Tat, sein System hat Lukaschenko auf der indirekten Subventionierung der weißrussischen Wirtschaft durch Russland aufgebaut. Dabei vermochte er die Unabhängigkeit Weißrusslands zu bewahren. Die Republik Belarus ist eines der unabhängigsten Länder der heutigen Welt.

Das ist im Wesentlichen der Tatsache zu verdanken, dass Lukaschenko ein sehr starker Politiker ist, einer der markantesten Politiker seiner Zeit. Er hat noch in den 1990er-Jahren in Weißrussland ein staatliches System geschaffen und es bis jetzt in einem funktionsfähigen Zustand gehalten. Er hat das Copyright am heutigen Belarus. Im Vergleich mit den anderen postsowjetischen Staaten schneidet Weißrussland sehr gut ab. Man darf Lukaschenko also nicht unterschätzen, er ist erfahren und führungsstark.

Sehr lange hat Moskau dieses System mitgetragen, ohne direkten politischen Nutzen davon zu haben, außer dass Weißrussland bei den westlichen antirussischen Kampagnen nicht mitgemacht hat. Im November 2018 hat Moskau Minsk signalisiert, dass es so nicht mehr weitergeht. Minsk will das alte System beibehalten.

Jetzt steht hinter dem ganzen Komplex der russisch-weißrussischen Beziehungen ein Fragezeichen. Es kommt hart auf hart. Während Moskau das alte Modell nicht mehr will, will Minsk kein neues Modell.

RT: Versucht Russland, Lukaschenko zu ersetzen, wenn die Beziehungen in der Sackgasse sind?

Nemenski: Russland ist nicht in die weißrussische Innenpolitik involviert. Es hat in Weißrussland keine eigenen "Protegés" oder Gruppen innerhalb der politischen Elite, auf die es sich stützen kann. Russland hat signalisiert, dass es Lukaschenko unterstützt.

Lukaschenkos Priorität liegt keineswegs auf einem russisch-weißrussischen Unionsstaat, einem Projekt, das noch in den 1990er-Jahren beschlossen wurde. Seit Mitte der 2000er verfolgt er konsequent eine multivektorale Politik und versucht, den neutralen Status seines Landes zu bekräftigen. Neutralität ist in der Verfassung festgeschrieben, und Lukaschenko realisiert sie konsequent, auch wenn er behauptet, er sei der letzte Verbündete Russlands. Dies ist jedoch sehr zweifelhaft. Russlands Verbündeter ist Weißrussland nur formal.

Man muss sagen, dass große Teile der weißrussischen Eliten prowestlich eingestellt ist – zu nennen ist zum Beispiel die sogenannte Makej-Gruppe um Außenmister Wladimir Makej, aber auch die anderen Gruppen. Das ist auch vor allem Lukaschenkos Positionierung geschuldet. Er hat alles dafür getan, dass in der weißrussischen Politik niemanden außer ihm gibt, der ihm die Position als einzig möglicher Verhandlungspartner Russlands streitig machen kann. Nun gibt es in Weißrussland keine starke politische Figur, die "prorussischer" sein kann als er selbst.

In Wahrheit ist er gar nicht prorussisch, aber es ist ihm gelungen, das entsprechende Image aufzubauen. Er hat auch Russland keine Chance gegeben, mit jemand anderem in Weißrussland im Gespräch zu sein außer mit ihm selbst. Das hatte zur Folge, dass fast alle Vertreter der weißrussischen politischen Eliten um ihn herum prowestlich eingestellt sind, jedenfalls prowestlicher als er selbst.  

RT: Die Hinwendung zum Westen ist nun nicht zu übersehen. Glaubt der Westen die Geschichte mit der Verhaftung? Das ist zu bezweifeln, denn es ist keine Unterstützung zu beobachten, weder von den Medien noch aus der Politik. Wird diese Geschichte Lukaschenko dabei helfen, dass seine mögliche Wiederwahl anerkannt wird?

Nemenski: Offenbar lässt sich der Westen sich nicht so leicht täuschen. Die Tatsache, dass die Verhaftung der russischen Bürger eine Provokation der weißrussischen Geheimdienste ist, ist auch für den Westen offensichtlich. Lukaschenko ist für den Westen keine akzeptable Figur. Während sich die Beziehungen zu den USA in den letzten zwei Jahren verbesserten, verschlechtern sich die Beziehungen zur EU nach einer kurzen Pause in den Jahren 2015/2016 wieder kontinuierlich. Die westlichen Partner sind enttäuscht von der eigenen Strategie, der zufolge Lukaschenko im Gegenzug für die Verbesserung der Beziehungen einen Transformationsprozess in seinem Land in Gang setzen und Zugeständnisse im Demokratisierungsprozess machen sollte. Lukaschenko ist kein Partner des Westens und kein Mann, den der Westen gerne als Präsident dieses Landes sehen will.   

Sehr wahrscheinlich werden diese Wahlen nicht als demokratische Wahlen anerkannt. Zumal Lukaschenko selbst alles dafür getan hat. Wir wissen, auf welche Weise seine Mitbewerber von den Präsidentschaftswahlen ferngehalten wurden. Außerdem wird die Opposition versuchen, nach den Wahlen gegen die Ergebnisse zu protestieren, und dem Westen bleibt nichts anderes übrig, als diese Proteste und nicht die offizielle Regierung in Minsk zu unterstützen.

Die Verhaftung der russischen Staatsbürger ist am ehesten der Versuch Lukaschenkos, seine repressive Politik in den Augen des Westens zu rechtfertigen. Denn dann erscheint er nicht als jemand, der seine Macht um jeden Preis erhalten will, sondern kann sich als jemand inszenieren, der aus der Notwendigkeit heraus handelt, sich Russland zu widersetzen. Aber die Sprengung jeglicher Vorstellungen davon, wie ein demokratischer Wahlprozess auszusehen hat, ist in Weißrussland so augenscheinlich, dass es dem Westen beim besten Willen nicht möglich ist, diesen normativen Rahmen zugunsten eines angeblichen politischen Nutzens zu verlassen.

Es ist jetzt also offensichtlich, dass diese Verhaftungen, die wohl eine Inszenierung sind, Lukaschenko keinen Nutzen gebracht haben. Das ist ein großer Fehler der weißrussischen Politik. Sie haben die Beziehungen zu Russland schwer belastet und in der Westpolitik keinen Erfolg gebracht.

RT: Wie ist dann das System Lukaschenko zu verändern, wenn immer offensichtlicher wird, dass der Präsident, der seit 26 Jahren regiert, das Land in eine Sackgasse manövriert? Vor allem, was passiert mit den Protesten, die mittlerweile Züge einer klassischen Farbrevolution tragen? Dabei ist die entstandene Situation durchaus Lukaschenko anzulasten, denn er hat es fertiggebracht, alle ernst zu nehmenden Mitbewerber bei den Präsidentschaftswahlen mit Verhaftungen und Vertreibungen aus dem Weg zu räumen. Das hat die Opposition konsolidiert und bringt die Menschen trotz Repressalien auf die Straße. Hat eine Farbrevolution in Weißrussland eine Chance?

Nemenski: Die historische Erfahrung zeigt, dass Systeme wie das in Weißrussland zu einer sanften Transformation nicht in der Lage sind. Wir haben es mit einem personalisierten Regime zu tun. Es ist auf eine Führungsperson zugeschnitten. Ohne einen starken politischen Bruch kann es nach dem Abgang dieser Person nicht fortgeführt werden.

RT: Das können wir auch über Russland sagen …

Nemenski: Nein. Das System, das in Russland geschaffen wurde, hat nicht Putin geschaffen, es existiert seit den 1990er-Jahren. Putin hat das System, das in den 1990er-Jahren geschaffen wurde, lediglich stabilisiert. Er hat es vor allem effektiver gemacht, aber er ist nicht der Urheber dieses Systems. Es ist nicht an ihn gebunden und kann ohne ihn weiterexistieren. Russland ist kein autoritäres Regime. Das Regime in Russland ist im Wesentlichen personalisiert, die Bedeutung Putins für das politische Leben in Russland ist enorm, aber das System kann auch nach dem Wechsel des politischen Anführers weiterexistieren.

RT: Zwischendurch war auch Medwedew Präsident …

Nemenski: Ja. Und in Weißrussland haben wir mit einer autoritären Macht zu tun, und ohne Lukaschenko ist sie schwer vorstellbar. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das System in eine Krise stürzen und einen Bruch erleiden wird, falls Lukaschenko gehen muss – in allen denkbaren Szenarien, wie dieser Abgang vonstatten geht. Derartige Systeme sind robust, solange ihre Urheber stark und in der Lage sind, die Sympathie der Mehrheit der Bevölkerung an sich zu binden. Die mehrheitliche Unterstützung ist notwendig. Das macht das System allerdings nicht demokratischer.

Es ist jedoch noch zu früh, über eine tiefe Krise des Systems Lukaschenko zu sprechen. Nichtsdestotrotz sind in diesem Jahr wesentliche Veränderungen zutage getreten. Lukaschenko ist dabei, seine Kernwählerschaft zu verlieren. Lukaschenko konnte immer mit einer Mehrheit rechnen. Nun gibt er offen den prorussischen Kurs auf. Zwar hat er de facto eine multivektorale Politik verfolgt, er hatte, wie ich schon gesagt habe, das Image eines prorussischen Politikers. Die Mehrheit der Bevölkerung in Weißrussland ist prorussisch und will eine engere Integration beider Länder. Die letzten Ereignisse zeigen, dass sein prorussisches Image stark beschädigt ist. Daher werden wir es in der nächsten Amtszeit mit einem geschwächten Präsidenten zu tun haben.

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