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"Die USA haben sich selbst überlistet" - Generaloberst Schpak zur Taliban-Rückkehr

Georgi Schpak, der im Jahr 1979 ein sowjetisches Luftlanderegiment bei der Übernahme Kabuls leitete, teilt im Interview mit RT seine Ansichten zu den Gründen des jüngsten Siegs der Taliban und dessen geopolitischen Auswirkungen mit. Zu Kabul sagt er: "Die Stadt war dem Fall geweiht."
"Die USA haben sich selbst überlistet" - Generaloberst Schpak zur Taliban-Rückkehr© Persönliches Archiv von Georgi Sсhpak

Georgi Schpak, heute Generaloberst der russischen Luftlandetruppen, befehligte im Jahr 1979 das 350. Garde-Luftlanderegiment. Dieses marschierte als eine der ersten sowjetischen Einheiten am 25. Dezember in Afghanistan ein. Seine Truppen nahmen unblutig eine Reihe wichtiger Regierungs- und Militäreinrichtungen in Kabul ein: die Gebäude von Ministerien, Hauptquartiere und Stäbe von Militäreinheiten, Funk- und Fernsehzentralen.

In einem Interview mit RT äußerte sich der ehemalige Kommandeur der russischen Luftlandetruppen zu den Gründen für den plötzlichen Regimewechsel in Afghanistan – sowie auch dazu, warum die Armee und die Sicherheitskräfte den Taliban nicht den gebührenden Widerstand geleistet haben. Er beantwortete zudem die Frage, ob Moskau sich darauf vorbereiten sollte, eine Offensive fundamentalislamischer Bewegungen gegen seine Verbündeten in Mittelasien abwehren zu müssen. Zum letzten Thema vorab: Der Ansicht des Generaloberst Schpak nach haben sich die USA mit ihrer Strategie des kontrollierbaren Chaos diesmal selbst überlistet.

"Die afghanische Armee hat nicht gekämpft"

Frage: – Herr Schpak, wie nahmen Sie Kabul im Dezember 1979 ein?

Antwort: – Zackig und mit deutlichem Plan. Kabul ist eine chaotische Stadt. Ich bin mir immer noch sicher, dass sich auch ein Bewohner Kabuls selber zwischen den endlosen meterhohen Zäunen verirren kann, wenn es ihn in einen benachbarten Stadtteil verschlägt. Bevor wir die afghanische Hauptstadt einnahmen, reiste ich daher mit einer Gruppe von Kameraden als "Tourist" nach Afghanistan. Unser Kommandeur der 103. Luftlandedivision, die Regimentskommandeure, die Leiter der Divisionsdienste und die Aufklärungsoffiziere gehörten zu der "Reisegruppe".

"Wir fuhren mit Kleinbussen – und liefen mancherorts auch zu Fuß – durch alle Straßen, durch die wir später Soldaten in Panzerfahrzeugen würden durchlotsen müssen. Jeder der Befehlshaber hatte persönlich alle Orientierungspunkte gesichtet und im Gedächtnis markiert – und eine militärische Einschätzung der Hochhäuser und Kreuzungen vorgenommen, an denen man uns hätte Widerstand leisten können."

Nach unserer Rückkehr durchdachten wir gründlich, wie wir vorgehen würden. Die gute Vorbereitungsarbeit machte es uns möglich, einen Kampfeinsatz durchzuführen, ohne auch nur einen Schuss abzugeben. Während unsere ALFA (Spezialeinheit des FSB – Anm. d. Redaktion) Amins Leibwache im Königspalast stürmte, blockierten sowjetische Fallschirmjäger alle afghanischen Armeeeinheiten in Kabul, die die Errichtung der, wie es hieß, "Volksmacht" in Afghanistan hätten verhindern können.

Frage: – Und hätten die afghanischen Regierungstruppen die Hauptstadt des Landes jetzt halten können?

Antwort: – Haben wir Moskau 1941 gehalten? Haben wir Stalingrad gehalten, als bereits Straßenkämpfe liefen? Eben. Weil wir bis zum Tod durchgehalten haben. Als ich den Verlauf der Ereignisse in Afghanistan verfolgte, habe ich sofort verstanden, dass der Sieg der Taliban nur eine Frage der Zeit war.

Die afghanische Armee, die die US-Amerikaner ausgebildet, trainiert und bewaffnet haben, kämpfte nicht. Sie ist demoralisiert; die Soldaten aller Garnisonen flohen gleich nach dem ersten Zusammenstoß, zumal im Wissen, dass ihnen niemand zu Hilfe kommen würde.

Und darum hatten die Taliban also gar nicht vor, Kabul zu stürmen. Sie wussten im Voraus, dass die Stadt zu einer beschämenden Kapitulation verdammt war.

Frage: – Es gibt die Ansicht, dass die US-Amerikaner den Taliban in gewissem Maße geholfen haben, indem sie die offiziellen Regierungsbehörden demoralisiert haben, indem sie vor ihrem Truppenabzug versuchten, eine Übergangsregierung zu bilden.

Antwort: – Die  Taliban hätten auch so gewonnen. Einen Tag früher, einen Tag später. Wozu sollten sie die Macht mit den Besiegten teilen? Wer zuerst kommt, der trägt auch die Beute davon. Über die Bildung einer Koalitionsregierung liefen seit langem Verhandlungen im katarischen Doha – und sind letztendlich ins Leere gelaufen. Glaubt denn jemand, dass eine Regierungsstruktur wirklich hätte im Schnellverfahren aufgebaut werden können, in all dem Durcheinander und den Unruhen, wo die US-Armee bereits im Begriff war, aus dem Land zu fliehen und das Personal der US-Botschaft bereits zum Flughafen in Kabul gebracht wurde?

Frage: – Übrigens, zur Situation auf dem Flughafen – dem letzten Ort im Land, der noch unter dem Schutz der US-Streitkräfte und ihrer Verbündeten steht. US-Soldaten schießen dort in die Luft, um Massen von Afghanen, die versuchen, aus dem Land zu fliehen, von den Flugzeugen zu verscheuchen. Sie haben in Afghanistan gekämpft, Sie kennen den Charakter des dortigen Volkes. Ihre Meinung: Werden die Taliban eine Abrechnung mit ihren politischen und militärischen Rivalen veranstalten?

Antwort: – Ich habe den Eindruck, dass es kein großes Massaker geben wird – man würde das gern glauben. Die Taliban-Bewegung hatte bereits eine Amnestie für diejenigen angekündigt, die auf der Seite der pro-US-amerikanischen Regierung unter Ashraf Ghani gegen sie gekämpft haben. Die Taliban wollen auf der ganze Welt eine Anerkennung als offizielle Autorität Afghanistans erwirken, als eine normale Regierung für das gesamte Volk des Landes. Gräueltaten können sie jetzt absolut nicht gebrauchen. Aber andererseits ist das der Orient. Wir werden sehen.

Mehr zum Thema – Taliban-Vertreter exklusiv bei RT: Wollen allgemeine Amnestie, Regierungsform ist zu verhandeln

Wort und Tat

Frage: – Entsteht infolge des Sieges der Taliban eine militärische Bedrohung für Afghanistans Nachbarn in Zentralasien – Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan?

Antwort: – Das ist eine "Butzemann-Geschichte", derer alle überdrüssig sind. In den Krieg außerhalb ihres eigenen Landes ziehen – das werden sie nicht. Die Taliban sind schrecklich nationalistisch. Auch ausländische Milizkämpfer werden sie schon bald aus Afghanistan vertreiben. In der militärischen Phase wirkten wahrscheinlich Gruppen von Anhängern der Terrormiliz "Islamischer Staat" und anderer radikalislamischer Organisationen, die aus Syrien und dem Irak angerannt kamen, unter dem Banner der Taliban. Doch nach ihrem endgültigen Sieg werden die Taliban die Außenseiter außer Landes treiben. Sie wollen kein "globales Kalifat", das die Ultra-Radikalen unter den Muslimen zu errichten versuchen. Afghanistan wollen sie – und Afghanistan haben sie bekommen.

Frage: – Warum hält dann das russische Militär zusammen mit seinen usbekischen und tadschikischen Kollegen Übungen in der Nähe der afghanischen Grenze ab?

Antwort: – Eine anschauliche Demonstration der Militärmacht. Alle nötigen Worte wurden beim Treffen zwischen hochrangigen Taliban-Führern und unserem Außenminister Sergei Viktorowitsch Lawrow in Moskau gesagt. Zweifellos wurden sie gewarnt, dass jede Überschreitung der roten Linie – in das Gebiet unserer Verbündeten – mit aller Härte unterbunden wird. Nach den Worten des russischen Außenministers führte dies der Verteidigungsminister, Armeegeneral Sergei Schoigu, äußerst eindrucksvoll vor. Bei den zu Präventionszwecken entlang der afghanischen Grenze durchgeführten Militärübungen wurde die außerordentliche Feuerkraft der modernen russischen Waffen gezeigt. Die Afghanen wissen also auch selbst, dass die Russen nicht wie die US-Amerikaner sind.

Die Russen werden nicht aus sicherer Entfernung Teppichbombardements führen, sondern voll reinhauen. Viele der Taliban-Veteranen haben ihrerzeit am eigenen Leib erfahren und sich für den Rest ihres Lebens gemerkt, dass ein Krieg gegen uns schrecklich, tödlich gefährlich ist.

Auch haben die Taliban nicht genügend Kräfte für eine Offensive auf breiter Front: Weder Fahrzeuge noch Waffen. Eine Invasion in Tadschikistan und Usbekistan wird es nicht geben.

Frage: – Aber die Gefahr, dass einige der "durchgeknallteren" Banden den Durchbruch versuchen, besteht doch? Was wäre für Russland vorteilhafter: mehr Truppen und Panzer auf Stützpunkte in Tadschikistan und Kirgisistan verlegen oder Luftlandetruppen in Alarmbereitschaft zu halten?

Antwort: – Die Entscheidungen werden von unseren Politikern und der militärischen Führung getroffen. Was die Luftlandetruppen betrifft, so sind unsere Desantniki stets bereit, jede Bedrohung abzuwehren.

Alle haben gesehen, wie wenig Wert die Versprechen der USA haben

Frage: – Eine Verschwörungstheorie geht derzeit um, dass die US-Amerikaner Präsident Ashraf Ghani eigenhändig zur Aufgabe der Macht gezwungen und den Taliban absichtlich militärische Ausrüstung und Waffen überlassen haben, um einen neuen Krisenherd im "weichen Unterbauch" Russlands – Mittelasien – zu entzünden. Auch China ist da nicht weit entfernt. Ist das zu glauben?

Antwort: – Natürlich ist es für die USA von Vorteil, uns mit einem Ring von Konfliktzonen zu umgeben. Doch haben sie sich damit nicht selbst überlistet? Die ganze Welt hat gesehen, wie rücksichtslos und erbarmungslos sie ihre Verbündeten im Stich lassen, wie wenig Wert ihre Versprechen haben. Die US-amerikanische Ordnung hat sich ins Fiasko gefahren. Wer das nach Jugoslawien und Libyen noch nicht verstanden hat, dem zeigt nun auch das Beispiel Afghanistan: Die USA können den Nationen, die sie mit ihrer "Demokratie" beglücken wollten, nur den kontrollierten Schweinepuff bescheren. In Wirklichkeit verfolgen sie eine völlig zynische Politik: Sie plündern ein Land und überlassen es seinem Schicksal. Wahrscheinlich sind viele Politiker in vielen Ländern, darunter auch in der Ukraine, jetzt ins tiefe und ernsthafte Grübeln gekommen...

Frage: – Was glauben Sie, wohin diese Grübelei führen könnte?

Antwort: – Zur Erkenntnis der einfachen Wahrheit, dass in der modernen Welt ohne Russlands zuverlässige Unterstützung ihr Überleben nicht drin ist. Sehen Sie: Es schien doch alles in Ordnung in den ehemals sowjetischen und jetzt souveränen Staaten Mittelasiens – doch als eine echte Gefahr an den Grenzen auftauchte, eilte letztlich niemand außer Russland zur Hilfe. Ich bin sicher, dass in allen unseren ehemaligen brüderlichen Republiken dies bald erkannt wird.

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Georgi Iwanowitsch Schpak wurde am 8. September 1943 in Osipowitschi, Region Mogiljow, Weißrussland geboren. Im Jahr 1962 wurde er zu den Streitkräften der UdSSR eingezogen. Nach dem Dienst im Rjasaner Fallschirmjägerregiment wurde er auf die Rjasaner Luftlandeschule beordert und absolvierte sie im Jahr 1966 mit Auszeichnung. Er wurde zum Zugführer der Kadetten in der Luftlandeschule ernannt, dann zum Kompaniekommandeur, später wurde er Dozent der Abteilung für Taktik.

Im Jahr 1973 wurde er Bataillonskommandeur in Gaijunai, Litauen. Im Jahr 1978 schloss er die Frunze-Akademie mit einer Goldmedaille ab und wurde zum Kommandeur des 350sten Fallschirmjägerregiments (Region Witebsk) ernannt.

Im Dezember 1979 kam das 350ste Regiment als eine der ersten Einheiten bei der Kampagne der UdSSR in Afghanistan zum Einsatz.  Anschließend wurde Schpak Stabschef der Division (Kaunas), dann Kommandeur der Luftlandedivision (Pskow). Im Jahr 1998 schloss er die Generalstabsakademie ab. Er war stellvertretender Befehlshaber der Armee in Transnistrien, Armeekommandeur in Karelien und Stabschef der Militärbezirke Turkestan und Wolga.

Von Dezember 1996 bis September 2003 war er Kommandeur der russischen Luftlandetruppen. Neben der Kriegshandlungen in Afghanistan nahm er an Kampfeinsätzen in Tschetschenien, friedenserhaltenden Maßnahmen im ehemaligen Jugoslawien und in Abchasien Teil. Hochdekoriert. Doktor der Pädagogischen Wissenschaften, Professor. Nach dem Militärdienst wurde er zum Abgeordneten der Staatsduma der IV. Einberufung. Von 2004 bis 2008 Gouverneur der Region Rjasan.

Verheiratet. Sohn Oleg, ein Leutnant der Luftlandetruppen, kam im Jahr 1995 in Tschetschenien ums Leben. Tochter Jelena ist Militärärztin, Oberst des medizinischen Dienstes, Kandidatin der medizinischen Wissenschaften. Schpak hat drei Enkelkinder: Anna, Oleg und Alexandra.

 

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