von Wladislaw Sankin
Angesichts ihres überstürzten Abzugs aus Afghanistan ist die Kritik an die USA groß. Selbst US-Verbündete werfen ihren Partnern Versagen und Fehleinschätzung vor. Aber wie schätzt das US-Establishment selbst die Situation ein?
Hierzu schauen wir erst mal kurz in die nicht so ferne Vergangenheit zurück, und zwar auf das Titelbild zu diesem Artikel. In der Beschreibung, die die Nachrichtenagentur Reuters zu diesem inzwischen historischen Foto hinzugefügt hat, heißt es:
"US-Präsident George W. Bush (2. v. l.) spricht während einer Zeremonie in der US-Botschaft in Kabul, Afghanistan, am 1. März 2006. Bush stattete Afghanistan am Mittwoch einen Überraschungsbesuch ab, um sich zum ersten Mal ein Bild von der entstehenden Demokratie zu machen, die die 2001 nach dem 11. September vertriebenen Taliban ablöste."
In der US-Politik und für die großen Medien galt in der Bush-Ära der Grundsatz, die USA hätten die Demokratie nach Afghanistan gebracht – Stichwort "Nation Building" –, als unangefochten. Die Beschreibung der globalen Nachrichtenagentur, die Maßstäbe für die Lesart der dargestellten Ereignisse weltweit setzt, ist dafür der beste Beweis.
Mehr als 15 Jahre später gibt es einen gewaltigen Rückzieher. Nun erklärt der seit George W. Bush dritte US-Präsident Joe Biden, die USA hätten sich niemals das Ziel gesetzt, die Demokratie nach Afghanistan zu bringen. Den USA ging es laut Biden nur darum, im zentralasiatischen Staat am Hindukusch den Al-Qaida-Terrorismus zu bekämpfen.
"Das Ziel unserer jahrzehntelangen Bemühungen bestand nicht darin, Jahrhunderte der Geschichte zu überwinden und Afghanistan dauerhaft zu verändern und neu zu gestalten, und ich habe geschrieben und geglaubt, dass es ein solches Ziel nicht geben kann", sagte Biden in seiner Ansprache am 16. August.
Offenbar vermischt Biden an dieser Stelle seine eigene Position mit den offiziellen Zielen der US-Politik der letzten zwei Jahrzehnte. Deswegen widerspricht er sich selbst, wenn er an einer anderen Stelle in seiner Rede wieder von "wir" spricht.
"Was wir jetzt erleben, ist der traurige Beweis dafür, dass keine noch so große militärische Kraft einem Afghanistan, das in der Geschichte als Friedhof der Imperien bekannt ist, jemals Stabilität, Einheit und Sicherheit bringen kann. Was jetzt geschieht, könnte genauso gut vor fünf Jahren geschehen sein oder erst in 15 Jahren geschehen. Wir müssen ehrlich zugeben, dass wir bei unserem Einsatz in Afghanistan in den vergangenen zwei Jahrzehnten viele Fehler gemacht haben."
Also, wurden nun Fehler begangen oder nicht? Und wenn ja, was waren es genau für welche? Biden geht darauf nicht ein. Eine ausführliche Antwort auf diese Frage gab der US-Diplomat in Afghanistan P. Michael McKinley, der die US-Vertretung in Kabul in den Jahren 2014 bis 2016 geleitet hatte. Seine Analyse wurde am 16. August in der angesehenen Zeitschrift Foreign Affairs unter dem Titel "Wir alle haben Afghanistan verloren. Zwei Jahrzehnte der Fehler, Fehleinschätzungen und des kollektiven Versagens", veröffentlicht. Da sie von der regierungsnahen Denkfabrik Council on Foreign Relations (CFR) herausgegeben wird, spiegelt Foreign Affairs wie wahrscheinlich kein anderes Medium in den USA das Meinungsbild des US-Establishments zu außenpolitischen Fragen wider.
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Vorweg: Die Antwort des Diplomaten fällt ehrlicher aus als die von Biden. Die USA hätten nahezu alles falsch eingeschätzt, was man falsch einschätzen kann: die Schlagkraft der afghanischen Armee, den Einfluss von Warlords, die Rolle Pakistans, die Fähigkeit der wechselnden afghanischen Regierungen und schließlich ganz allgemein "afghanische" und nicht näher erklärten "geopolitische" Realitäten. Dennoch folgt McKinley einem ähnlichen Argumentationsmuster wie Biden – die Hauptschuld am Scheitern in Afghanistan tragen vor allem die angeblich "unverbesserlichen" Afghanen, die trotz enormer Bemühungen und Investitionen der USA nicht imstande seien, eine stabile Regierung und schlagkräftige Armee zu entwickeln.
So zitiert McKinley gleich zu Anfang einen pathetischen Satz des ehemaligen Nationalen Sicherheitsberaters General H. R. McMasters, der "die Meinung vieler widerspiegelte, als er erklärte, dass Afghanistan ein 'Menschheitsproblem an einer modernen Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation' sei und dass den Vereinigten Staaten der Wille fehle, 'die Bemühungen im Interesse der gesamten Menschheit fortzusetzen'".
Kurzum: Die USA haben sich edle Ziele im "Auftrag der Menschheit" gesetzt, aber Fehler bei der Umsetzung gemacht. Nichtsdestotrotz führt auch dieser halbherzige Ansatz die Misere der US-Politik vor Augen, die nach Angaben von Bloomberg mehr als 170.000 Menschenleben (Verluste aller Konfliktparteien inklusive 47.300 Zivilisten und 6.300 US-Bürger) und zwei Billionen US-Dollar kostete.
Die "auffälligste Fehleinschätzung" betraf dabei nach Meinung des Diplomaten vor allem die afghanische Armee. Korruption, Verschwendung, Betrug und Missmanagement von Ressourcen, die für die Umgestaltung des afghanischen Militärs gedacht waren, hätten die Kampffähigkeit der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte untergraben.
"Das Ausmaß der Verschwendung und des Betrugs geht in die Milliarden, und in die Korruption sind häufig hohe afghanische Regierungsbeamte verwickelt."
Ein weiteres Versäumnis sei es gewesen, nicht schon in den ersten Jahren nach 2001 in die afghanische Polizei und das Militär investiert zu haben. Man habe so wertvolle Zeit verloren, um eine fähige Kampftruppe aufzubauen, als die Taliban in der Defensive waren. Ein weiterer Fehler sei es gewesen, keine Garantien für 18.000 Auftragnehmer der afghanischen Armee zu geben. Das habe auch den logistischen Zusammenbruch mitverursacht, der "das bleibende Symbol für unser militärisches Versagen in Afghanistan", den nächtliche Abzug der USA von ihrem logistischen Dreh- und Angelpunkt, der Luftwaffenbasis Bagram, möglich gemacht habe.
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Dann macht McKinley der afghanischen Regierung und den Ortskräften schwere Vorwürfe: Diese hätten in den letzten 20 Jahren "auf abgrundtiefe Weise" darin versagt, sich die Loyalität der Bevölkerung zu verdienen. Es sei erstaunlich, wie unfähig die afghanische Regierung war, einen Appell an die Nation zu richten, als ihre Verteidigungskräfte zusammenbrachen.
"Die nationale politische Führung Afghanistans war sich nie ganz einig, wie die Taliban am besten zu bekämpfen seien. Es gab Spannungen zwischen regionalen Machthabern und Kabul sowie zwischen Paschtunen und den Minderheiten der Tadschiken, Hazara und Usbeken. Sowohl Karzai als auch Ghani handhabten die ethnische Repräsentation eher durch ein Beutesystem als durch die Förderung einer gemeinsamen nationalen Vision."
An dieser Stelle redet der Diplomat ganz im Sinne Bidens, der gesagt hat, dass afghanischen Streitkräfte nicht bereit seien, für sich selbst zu kämpfen. Bezüglich der Taliban stellt er fest: "Die Taliban hingegen erwiesen sich nicht nur als militärische und terroristische Organisation, sondern auch als politische Bewegung als widerstandsfähig. Nach 2001 erfreuten sich die Taliban in Teilen Afghanistans weiterhin der Unterstützung der Bevölkerung und waren weiterhin in der Lage, Zehntausende von jungen afghanischen Anhängern zu rekrutieren."
Die Gründe für die Popularität der Taliban und die Unbeliebtheit der Regierung nennt der US-Diplomat nicht. Laut seinem russischen Kollegen, dem jetzigen Botschafter in Kabul Dmitri Schirnow, sieht die Bevölkerung aus Hoffnungslosigkeit über ihre missliche wirtschaftliche Lage und Unbehagen über die gravierende soziale Ungerechtigkeit nun in den Taliban die bessere Alternative zur US-gestützten Regierung.
Der US-Einsatz in Afghanistan wird oft mit der sowjetischen Intervention von 1979 bis 1989 verglichen. In beiden Fällen mussten die Supermächte ihre Truppen im Endeffekt abziehen. Doch die russischen Experten und Landeskenner weisen darauf hin, dass die Truppen der linken und säkularen Regierung von Mohammad Nadschibullāh imstande waren, sich noch drei Jahre nach dem sowjetischen Abzug gegen die US-gestützten islamistischen Mudschahedin zur Wehr zu setzen. Nur die komplette Einstellung der Waffen- und Öllieferungen der ersten, proamerikanischen russischen Regierung unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe zu ihrer Niederlage im afghanischen Bürgerkrieg geführt.
Nachdem er mehrere Jahre in der UN-Vertretung in Kabul als Zufluchtsort verbracht hatte, wurde Nadschibullāh nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban im September 1996 zusammen mit seinem Bruder grausam ermordet. Im Jahre 2008 hat eine telefonische Umfrage (per Mobilfunk) in der Provinz Kabul ergeben, dass das "kommunistische" Regime von Nadschibullāh in den Jahren 1986 bis 1992 unter den Afghanen die populärste war. 93 Prozent der insgesamt 10.000 Teilnehmer waren der Meinung, dass die Nadschibullāh-Regierung ihren Interessen entsprochen hatte. Für die damalige Regierung des Präsidenten Hamid Karzai (siehe Titelbild) haben 45 Prozent der Umfrage-Teilnehmer gestimmt.
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