Lateinamerika

Kolumbien: Friedensvertrag kontra geopolitische Interessen – Eine Zwischenbilanz

Der Friedensvertrag in Kolumbien zwischen Regierung und linker Guerilla allein kann den Frieden nicht sichern – er wird von geopolitischen Interessen aufgerieben. Eine Zwischenbilanz ist notwendig.
Kolumbien: Friedensvertrag kontra geopolitische Interessen – Eine ZwischenbilanzQuelle: Reuters

von Maria Müller

Der Frieden in Kolumbien, dessen Vertrag im November 2016 mit einer großen Inszenierung und den Garantien der UNO, des Internationalen Roten Kreuzes sowie verschiedener Staaten unterzeichnet wurde, steht kurz vor dem Aus. Die internen und vor allem die internationalen Gegner des kolumbianischen Friedens haben ganz andere Pläne. Der Assoziierungsvertrag mit der NATO verdeutlicht ihr strategisches Interesse an Kolumbien als Ausgangsbasis für eine militärische Kontrolle Südamerikas. Diese Anti-Friedenspläne prägen ohne jeden Zweifel die Entwicklungen in Kolumbien bis heute.

Rückblickend muss man feststellen, dass der Regierung des Friedensnobelpreisträgers Juan Manuel Santos der politische Wille fehlte, das Abkommen zu verwirklichen. Der heutige Präsident Iván Duque erklärte im Wahlkampf gar, den Vertrag annullieren zu wollen. Doch Santos stellte die Weichen für das heutige Scheitern des Friedens. Entgegen allen früheren zwiespältigen Beurteilungen ist das die Schlussfolgerung aus einer Reihe von Indizien. Davor die Augen zu verschließen und weiterzumachen wie bisher kostet immer mehr Menschenleben.

Präsident Santos war als Oberbefehlshaber der Streitkräfte direkt verantwortlich

Präsident Santos war Oberbefehlshaber der Streitkäfte und ist deshalb direkt für den Bruch der Friedensvereinbarungen in einem zentralen Bereich verantwortlich. Die Tatenlosigkeit des kolumbianischen Militärs, das keinen Plan für die staatliche Kontrolle der ehemaligen FARC-Gebiete vorweisen konnte oder wollte, ermöglichte es den paramilitärischen Organisationen, sich dort festzusetzen.

Unvollständige Souveränitat des kolumbianischen Staates

Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden wäre jedoch gewesen, die bewaffneten Terror-Einheiten der sogenannten Paramilitärs zu beseitigen und die staatliche Souveränität über alle nationale Territorien wiederherzustellen. Solche Strategien auszuarbeiten braucht Zeit und Einsatz auf den höchsten militärischen Kommandoebenen. Diese elementaren Fragen lagen mindestens schon drei Jahre vor der Unterzeichnung des Friedens auf dem Verhandlungstisch, ihre Konsequenzen waren vorauszusehen und der kolumbianischen Regierung bekannt. Das den Drogenmafias und Paramilitärs überlassene Machtvakuum in den Randzonen Kolumbiens schuf die Ausgangsbasis für die darauffolgenden Massaker an Hunderten von Friedensaktivisten, Gemeindeführern, Umweltschützern und Bauern und für die Morde an den entwaffneten ehemaligen FARC-Kämpfern.

Unterzeichnen des Vertrags unter Vorspiegelung falscher Tatsachen

Der militärische Oberbefehlshaber, Präsident Manuel Santos, hat zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Vertrages gewusst, wie es darum steht. Er hat den Vertrag dennoch – unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – unterschrieben. Denn ein Frieden ist keiner, wenn Soldaten und Zivilisten weiter sterben. Der Schutz des Lebens der Beteiligten ist seine Essenz. Santos hätte den Friedensvertrag nicht unterschreiben dürfen, bis die Frage der staatlichen Kontrolle über die Konfliktgebiete Kolumbiens geklärt war.

Die unmittelbare persönliche Verantwortung eines Präsidenten für den Tod der Bürger

Präsident Santos ist daher unmittelbar persönlich für den Tod der im Frieden Gefallenen verantwortlich. Die internationale "Gemeinschaft" zögerte nie, dieses Urteil gegen Venezuelas Präsidenten Nicolás Maduro anzuwenden – obwohl die Todesziffern in Kolumbien zehnmal höher sind. Doch im Fall Kolumbiens geschah das bis heute nicht. Niemand spricht von dem "kolumbianischen Regime", niemand verhängte Sanktionen, um die für inzwischen über 800 Todesfälle verantwortlichen Präsidenten zum Rückzug zu zwingen und Neuwahlen zu fordern. Im Gegenteil: Deutschland, europäische Staaten und das EU-Parlament übergeben immer wieder neue Millionenbeträge, um dem dortigen Regime zu "helfen". Das Erfüllen der wichtigsten aller Friedensprojekte ist ganz offenbar nicht daran gebunden: das Überleben der Friedenspartner zu sichern. Man wendet bei humanitären Kriterien zweierlei Maßstäbe an, was sie unglaubwürdig macht.

Hier muss man auch die Kontrollpflicht der Volksvertreter in den Parlamenten der EU-Staaten und des EU-Parlaments selbst betonen. Was haben sie bisher dafür getan, um die Verwendung der EU-Finanzen für Kolumbien detailliert zu prüfen und das Ergebnis zu veröffentlichen?

Die wachsende Macht der Drogenkartelle in Kolumbien

Die sich ausbreitende Macht der Drogenkartelle nach Abschluss des Friedenvertrages ist der wahre Hintergrund dafür, dass der Kokain-Export aus Kolumbien, der höchste weltweit, nach Abschluss des Friedensvertrages weiter anstieg. Doch Präsident Santos leugnete bis zu seinem Abgang, dass es diese Organisationen überhaupt noch gibt, und behauptete, sie hätten nach einem Abkommen mit dem Staat im Jahr 2006 ihre Waffen vollständig niedergelegt. Die Attentate gegen Gemeindeführer und ehemalige FARC-Mitglieder samt ihrer Angehörigen hätten persönliche Hintergründe, beteuerte er immer wieder.

Was nützen uns unsere Landwirtschaftsprojekte, wenn wir nicht wissen, ob wir morgen noch am Leben sind", sagte hingegen eine FARC-Frau zu den UNO-Besuchern Mitte Juli.

Forderungen nach besseren Schutzmaßnahmen ignoriert

Sowohl Amnesty International als auch Human Rights Watch, und nicht zuletzt Jean Arnault, der Sonderbeauftragte der UNO für Kolumbien, forderten wiederholt effektivere Schutzmaßnahmen. Der Generalinspekteur Kolumbiens, Fernando Carrillo, sagte in aller Deutlichkeit: "Ich warne die Autoritäten, sie haben ihre Pflicht nicht erfüllt. Sie sollten als Garantie für das Recht auf Leben der Anführer sozialer Bewegungen dienen."

Doch selbst heute noch hört man Klagen, dass die bisherigen Sicherheitssysteme nur wenig funktionierten. Die Gelder für die Bodyguards würden selektiv vorenthalten, bürokratische oder technische Probleme vorgeschoben. Erst vor einem Monat, nach über 800 Toten, präsentierte Iván Duque ein Sicherheitssystem, das sich u. a. auf den Datenabgleich stützt. Viel zu spät. Seitdem wurden erneut drei FARC-Leute und ein Unbeteiligter von Unbekannten erschossen.

Die politische Aufgabe der Präsidenten wäre ein "Diskurs für die Aussöhnung" gewesen

Präsident Santos' Aufgabe wäre es gewesen, die in dem Friedensvertrag enthaltene außergewöhnliche Chance für eine soziale, wirtschaftliche und kulturelle Modernisierung des Landes mit einer entsprechenden neuen Friedenskultur zu unterstützen. Er hätte in den ihm unterstellten staatlichen Institutionen (dazu gehört auch Polizei und Militär) ein neues Verhältnis zu den Friedenspartnern einführen müssen – eine unverzichtbare Basis für alles Weitere. Präsident Santos hätte mit einem politischen Diskurs für die Umwandlung der Nation kämpfen können. Dafür wurde er gewählt. Das geschah jedoch nicht. Stattdessen überließ er nach kurzer Zeit den Gegnern des Friedensprozesses die politische Hegemonie. Seine Selbstkritik nach der Niederlage im Referendum über den Friedensvertrag gesteht das ein.

Die Hassreden des Iván Duque und deren Funktion

Santos' Nachfolger Iván Duque geht noch viel weiter. Die UNO-Sonderbeauftragte Agnès Callamard forderte ihn im Juni vor der Menschenrechtskommission in Genf auf, seine Hassreden gegen die neue FARC-Partei zu unterlassen (Partei Alternative Revolutionäre Kraft des Volkes). Sie erschweren deren Teilnahme an der parlamentarischen Aktivität, vergiften das politische Klima und motivieren zur politischen Gewalt. Insofern missachtet Duque nicht nur seine vertraglichen Pflichten – er arbeitet offen und frontal gegen den Frieden.

Doch Duques Diskurs gegen alles, was links, sozial, ethnisch oder umweltbewusst auftritt, ist ein durchaus funktionales Instrument, um das Ende des Friedens als von dieser Opposition verschuldet darzustellen und den Spieß umzudrehen. Die Demagogie soll die unbestreitbare Regierungsverantwortung für das Scheitern vergessen machen und die Enttäuschung auf die neuen alten Feindbilder kanalisieren. Um einen Krieg gegen Venezuela führen zu können, benötigt die Regierung die Loyalität der Bevölkerung. Schon immer brauchte man dafür einen inneren Feind.

Der Frieden in Kolumbien ist abhängig von der Geostrategie der NATO

Man muss davon ausgehen, dass weder Santos noch Duque den Friedensprozess allein und aus eigenem Willen ins Leere laufen lassen. Sie unterstehen ohne Zweifel höheren Weisungen und erhalten Druck, besonders aus Washington. Die bisherige Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Prozesses sind Ausdruck von unterschiedlichen Interessen und Tendenzen innerhalb der NATO-Staaten und der Staaten Lateinamerikas. Oder aber von unterschiedlichen Rollen auf dem gemeinsamen geopolitischen Schachbrett. Der gegenwärtige Friedensprozess in Kolumbien kann nicht losgelöst von seinem geostrategischen Umfeld beurteilt werden.

Der Verzicht auf die Kontrolle eines Teils des Staatsgebietes und die damit einhergehende lokale Machtübernahme durch Terrororganisationen war weder ein schwerwiegender "Irrtum" noch ein Zeichen der Unfähigkeit der teuersten Armee Südamerikas (im Verhältnis zur Bevölkerungszahl), sondern Teil der Planung des Pentagons für Südamerika. Darin spielen die Paramilitärs die Rolle einer verdeckten Söldnerarmee in einem künftigen (noch) nicht erklärten Krieg gegen Venezuela. Ihre Aufgabe ist vergleichbar mit der des "Islamischen Staates" im Nahen Osten. Es gibt bereits erste Anzeichen dafür. An der Grenze zu Venezuela wurden geköpfte Leichen gefunden. Das gehört zum Repertoire des ISIS und ist neu in Lateinamerika.

Da die NATO oder das Pentagon die kolumbianischen Paramilitärs nicht offiziell finanzieren können, überließ man ihnen die früheren FARC-Gebiete und die gesamte Kontrolle der Transportwege für den Drogenhandel als Existenzgrundlage. Mit Drogen- und Waffenhandel eine verdeckte Kriegsführung zu finanzieren – das erinnert an die Finanzierung der Contras in Nicaragua oder an das explosive Anwachsen der Heroinproduktion in Afghanistan nach der US-Besatzung.

Ehemalige FARC-Guerillas ein Störfaktor im Kriegsfall

Die ehemaligen FARC-Guerillas mit ihren Erfahrungen im Dschungelkampf sind in den Augen der US-Strategen ein potenzieller Störfaktor in einem Krieg gegen Venezuela. Erst recht, wenn paramilitärische Truppen darin eine wichtige Rolle spielen. Die Planer des Pentagons müssen zumindest befürchten, FARC-Leute könnten im Kriegsfall ihre bisherige, akkurat eingehaltene Wiedereingliederung aufgeben und eine Front im Rücken der Angreifer bilden. Die großangelegte militärische Aufrüstung der kolumbianischen Armee mit konventionellen Kriegswaffen legt diese Zusammenhänge und Schlussfolgerungen nahe.

Ein Plan für das systematische Töten der früheren Aufständischen

Nach der Logik der militärischen Koordinaten in Kolumbien kann oder muss man von einem Plan ausgehen, um die entwaffneten früheren Aufständischen systematisch zu ermorden. Die Vermutung greift in Kolumbien um sich. Der Senator der FARC-Partei, Carlos Lozada, reichte vor wenigen Tagen beim Generalstaatsanwalt eine Anzeige ein. Aufgrund zahlreicher Indizien in den sozialen Netzen bestehe ein Plan, die Führungskader der heutigen FARC-Partei zu ermorden.

"Die aktiven Anhänger unserer Partei sollen weiterhin physisch eliminiert werden. Doch die Attentate werden sich auch gegen die Mitglieder der Parteiführung richten (…)", erklärte Lozada vor der Presse.

3.500 Mitglieder der "Patriotischen Union" ermordet – nach einem Friedensschluss in den 80er-Jahren

An der Stelle sei daran erinnert, dass Kolumbien eine ähnliche Situation bereits in den 80er-Jahren durchgemacht hat. Damals wurden 3.500 Mitglieder der linken Partei Unión Patriótica (Patriotische Einheit) umgebracht. Die Unión Patriótica entstand im Rahmen eines Friedensprozesses, den die damalige FARC-EP zusammen mit anderen Gruppen dem kolumbianischen Staat angeboten hatte. Der politische Genozid gegen die Unión Patriótica sollte den Aufstieg der linken Bewegungen in der kolumbianischen Politik verhindern. Damals wie heute war die Friedensvereinbarung für gewisse Teile der Gesellschaft nur ein Weg zur Entwaffnung des "inneren Feindes", um ihn auf diesem Weg endgültig besiegen zu können. Wenn davor gewarnt wird, dass sich die Geschichte wiederholen könnte, handelt es sich nicht um Verschwörungstheorien, sondern um historische Erfahrungen. Das Undenkbare war in Kolumbien machbar. Manche nennen dies "politischen Genozid".

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