Afrika

Kolonialismus 2.0: Frankreich und Italien liefern sich in Libyen einen Stellvertreterkrieg

Frankreich missbraucht laut dem russischen Analysten Andrew Korybko sein Anti-Terror-Mandat in Afrika, um seinen Einfluss in Libyen auszuweiten. Paris ziele darauf ab, Italien auszustechen und sich Sonderrechte in der libyschen Energiewirtschaft zu sichern.
Kolonialismus 2.0: Frankreich und Italien liefern sich in Libyen einen StellvertreterkriegQuelle: AFP

von Ali Özkök

RT Deutsch hat mit Andrew Korybko gesprochen. Er ist Politikwissenschaftler, Journalist sowie Mitglied des Expertenrats am Institut für Strategische Studien und Prognosen der russischen Universität für Völkerfreundschaft in Moskau. Zu seinen weiteren Schwerpunkten gehören Taktiken des Regimewechsels, Farbrevolutionen und unkonventionelle Kriegsführung auf der ganzen Welt.

Die Armee von General Chalifa Haftar hat erklärt, dass sie das größte Ölfeld Libyens erobert hat. Welche Folgen hat das für die international anerkannte Regierung in Tripolis, die das Feld bisher kontrolliert hat?

Die sogenannte "Regierung der Nationalen Vereinbarung" (GNA) wird zunehmend marginalisiert und durch Umstände gezwungen, "politische Kompromisse" gegenüber General Haftars nicht anerkannter "Libyschen Nationalarmee" (LNA) einzugehen, ähnlich wie die international anerkannte Kabul-Regierung in Afghanistan dazu gedrängt wird, dasselbe mit den Taliban zu tun, obwohl diese international immer noch als "terroristische Organisation" angesehen werden.

Wie groß ist die Chance, dass Haftar angesichts des Ausbleibens einer politischen Lösung in Tripolis militärisch die Macht übernehmen könnte?

General Haftar will eine militärische Lösung des libyschen Bürgerkriegs aus symbolischen und pragmatischen Gründen vermeiden. Er versteht, wie kontraproduktiv es für seine Vision der nationalen Versöhnung wäre, wenn sich beide libyschen "Regierungen" in einem katastrophalen Kampf, der das Leben für den Durchschnittsbürger nur noch schlimmer machen würde, bis zum Ende bekämpfen würden. Daher scheint seine Strategie darin zu bestehen, schrittweise Fortschritte in den Randgebieten der Hauptstadt zu machen, um die LNA als Königsmacherin in libyschen Angelegenheiten zu positionieren, wodurch die GNA unter Druck gesetzt würde, im Interesse der nationalen Einheit "politische Kompromisse" mit ihr einzugehen.

Andernfalls könnte die LNA auch langsam auf die Hauptstadt vorrücken und die Schlinge sukzessive "zuziehen", um die Bevölkerung zu animieren, sich gegen die GNA zu "erheben" und danach die Tore für die Streitkräfte von General Haftar zu "öffnen". Eine groß angelegte Schlacht um die Hauptstadt wäre auch für die Soft Power der LNA im Ausland nachteilig, da sie als nicht anerkannte bewaffnete Gruppe interpretiert werden könnte, die versucht, die Macht von einer international anerkannten Regierung zu ergreifen. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass Haftar so sensibel darauf achtet, dieses Szenario voranzutreiben.

Frankreich flog Luftangriffe im Grenzgebiet zwischen Libyen und dem Tschad. Zuvor besuchte Macron Ägypten, das als Hauptunterstützer der rivalisierenden Regierung in Tobruk unter Chalifa Haftar gilt. Untergräbt Frankreich eine international anerkannte Regierung?

Frankreich hat seit seinem sogenannten "Aufbruch nach Afrika" immer Interessen in Libyen gehabt, und es nutzt sein regionales Anti-Terror-Mandat "G5 Sahel", um seinen Einfluss in der Nähe der südlibyschen Grenze auszuweiten, nachdem es eine eindringende Rebellengruppe im nördlichen Tschad bombardiert hat, was auch die stillschweigende (wenn nicht sogar verdeckte direkte) Unterstützung ergänzt, die es General Haftar gibt.

Paris erwartet, dass sich seine Bemühungen auszahlen werden, wenn er an die Macht kommt und französischen Unternehmen privilegierte Rechte in der libyschen Energiewirtschaft gewährt.

Führt Frankreich damit eine Art Stellvertreterkrieg gegen Italien in Libyen?

Die historische italienisch-französische Konkurrenz tauchte nach dem NATO-Krieg gegen Libyen 2011 wieder auf, als es gelang, die Republik unter Gaddafi zu zerstören. Beide europäischen Länder kämpfen um die Kontrolle der libyschen Ressourcen, wobei Paris eifrig versucht, die Oberhand über die dort verankerten Interessen Roms zu gewinnen. Italien erbte einen Großteil seines Einflusses aus der Kolonialzeit und seiner geografischen Nähe zu Nordafrika.

Heute sind die beiden europäischen Nachbarländer ideologische Feinde, nachdem sich die euopakritische italienische Regierung im vergangenen Jahr mehrmals prominent gegen die proeuropäische französische Regierung unter Präsident Macron gestellt hat. Vor allem regte Paris die italienische Haltung in Bezug auf die Gelbwesten-Bewegung und die illegale Migration aus Afrika auf. Daher ist es nicht unvorstellbar, dass Paris hofft, dass General Haftar als Stellvertreter gegen den Einfluss Roms auf Tripolis gehetzt werden kann, um einen geopolitischen Putsch zu vollziehen und eine Botschaft an Italien zu senden. Das würde vor allem Italien zeigen, was aus französischer Sicht "sein Platz" ist. Rom soll es nie wieder wagen, die französischen Ambitionen in Afrika in Frage zu stellen, will die Macron-Regierung sagen.

Frankreich und Italien sind beide ehemalige Kolonialmächte in Afrika. Wie stark prägt das koloniale Erbe heute noch die geopolitischen Überlegungen beider Länder in der Region?

Die Fußspuren beider europäischen Mächte aus der Kolonialzeit in Afrika prägen in beachtlichem Maße ihren heutigen geopolitischen Machtkampf um Libyen. Italien kehrt nach jahrzehntelangem Rückzug wieder strategisch auf den Kontinent zurück, sodass es im Vergleich zu Frankreich viel "aufzuholen" hat. Paris hat viel mehr Erfahrung in diesem "Spiel" als Rom, weshalb es klugerweise auf General Haftar gesetzt hat. Frankreich sah clevererweise voraus, dass eine geeinte Kampfformation effektiver ist als die tief gespaltenen Behörden in Tripolis, die Rom stattdessen unterstützt.

Italien "spielt" völkerrechtlich nach den Regeln, während Frankreich sie bricht, obwohl letzteres wahrscheinlich erfolgreicher sein wird, weil Chalifa Haftars Strategie zur Verfolgung seiner Interessen deutlich pragmatischer ist.

Der US-amerikanische AFRICOM-Kommandeur Thomas Waldhauser warf Russland vor, seine Präsenz in Libyen zu verstärken. Spielt Russland wirklich eine so starke Rolle auf der Haftar-Seite? Schließlich unterhält Moskau auch Beziehungen zu Tripolis.

Die strategische Vision Russlands im 21. Jahrhundert ist es, der wichtigste "Balancefaktor" in afro-europäischen Angelegenheiten zu werden. In diesem spezifischen Kontext sind die meisten Berichte über die sogenannte "Präsenz" Russlands in Libyen unverifizierte Anschuldigungen des Westens. Solche Angriffe riechen stark nach diskreditierenden Manövern im Informationskrieg, die darauf abzielen, Moskaus herzliche Beziehungen zu Tripolis und Haftar zu stören und damit seine oft heikle "Balance"-Strategie zwischen ihnen zu untergraben. Russland ergreift in diesem Konflikt nicht Partei, sondern hofft, seinen diplomatischen Einfluss auf beide Parteien zu nutzen, um eine politische Lösung des Konflikts nach dem Vorbild dessen zu vermitteln, was es Anfang dieses Monats in der viel stärker kriegsgebeutelten Zentralafrikanischen Republik erstaunlicherweise erreicht hat.

Russland ist in Afrika besonders in der Zentralafrikanischen Republik aktiv. Moskau unterhält auch gute Beziehungen zum Sudan und ist ein Akteur in Libyen. Welche geopolitische Strategie verfolgt Moskau auf dem Kontinent, und gibt es Ziele wie den Aufbau von Einflusszonen in der Sowjetzeit?

Russland nutzt kreativ verschiedene kostengünstige, aber hochwirksame Machtinstrumente, um Afrika Stabilität zu bringen, nach dem Modell der "Demokratischen Sicherheit", das ich in meiner jüngsten Analyse "Die USA haben mehr Angst, Afrika an Russland zu verlieren als an China" beschrieben habe. Russland setzt darauf, dass alles im Einklang mit dem Völkerrecht steht und vor allem nicht die staatliche Souveränität der afrikanischen Länder verletzt. Das steht im Gegensatz zu den bevorzugten Methoden der USA und Frankreichs, auch wenn sie behaupten, dasselbe zu tun.

Der Sudan ist das Tor Russlands zum Kontinent, das ich im vergangenen Jahr in einer Analyse mit dem Titel "Russlands Eisenbahnkompetenz könnte die afrikanische Geopolitik verändern" erläutert habe. Es geht dabei darum, wie die Einladung Khartums an Moskau zur Teilnahme an seinen internationalen Eisenbahnprojekten dazu führen könnte, dass Russland seinen multipolaren integrativen Einfluss auf dem ganzen Kontinent stark ausweitet. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die diplomatische Unterstützung des Sudan entscheidend für den Abschluss des jüngsten Friedensabkommens der Zentralafrikanischen Republik war, das kürzlich in Khartum abgeschlossen wurde.

Im Gegensatz zu den vergleichsweise statischeren Verhältnissen während des alten Kalten Krieges weist der neue Kalte Krieg keine klaren ideologischen oder geopolitischen Verwerfungen auf und ist viel dynamischer, da sich die Einflussmöglichkeiten so weit diversifiziert haben, dass Informationsnetze, Soft Power und Integrationsprojekte viel wichtiger denn je sind. Russland ist dabei, eine umfassende, aber dennoch flexible Strategie für ganz Afrika auszuarbeiten, die in der Lage ist, sich an die sich verändernden Umstände anzupassen und sie in Richtung der gemeinsamen Interessen seiner Partner zu gestalten, und zwar in Form von maßgeschneiderten "Demokratische Sicherheits"-Lösungen, die nachhaltig das Umfeld für den Erfolg sozioökonomischer Entwicklungs- und internationaler Integrationsinitiativen schaffen können. Mit dem Sudan als Brückenkopf kann man sagen, dass sich Russland vor allem auf den Nordosten (Horn von Afrika), Zentral- und Ostafrika konzentriert, was auch die Regionen sind, in denen andere überregionale Mächte wie China, die Vereinigten Arabischen Emirate und Indien ihre Präsenz ebenfalls vertiefen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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