Kann die EU düngen ohne Moskau? – Auf gar keinen Fall
Von Elem Chintsky
Einer der wichtigsten Indikatoren für die weiterhin große Abhängigkeit der EU von der Russischen Föderation ist der Import-Export von Düngemitteln – ein unabdingbares Schlüsselprodukt für die Agrarwirtschaft der jeweiligen Importnation.
Jüngst wurde deutlich, dass das diesjährige Wachstum der russischen Düngerexporte in die EU im Vergleich zum Vorjahr mehr als 40 Prozent beträgt. Im Vergleich zum Jahr 2021 – noch vor Beginn der militärischen Sonderoperation Moskaus in der Ukraine – sind immer noch ganze 20 Prozent Wachstum zu verzeichnen. Von allen EU-Düngerimporten umfasst der russische Anteil 28 Prozent. Zum Vergleich: Für das Jahr 2023 lag dieser Anteil bei 21 Prozent. Grundsätzlich ist die Kostensteigerung im Düngemittelsektor deutlich höher als beim Erdgas aus der Pipeline.
Schon im April dieses Jahres fiel der britischen Financial Times auf, dass eine direkte Korrelation zwischen dem in der EU sanktionspolitisch verbotenen russischen Erdgas und dem von Sanktionen bisher befreiten Düngemittel aus Russland besteht. So wurde in der Publikation unterstrichen, dass Europa seine Abhängigkeit von russischem Erdgas gegen Düngemittel aus Russland austauscht. Nicht zuletzt, weil russische Düngemittelhersteller dank niedriger Rohstoff- und Energiepreise einen großen Wettbewerbsvorteil gegenüber europäischen Unternehmen genießen. Stickstoffdünger, der für das Pflanzenwachstum benötigt wird, wird mithilfe von (eigentlich sanktioniertem) Erdgas hergestellt.
Das Framing ist wichtig: Es sei allein Russland, welches die Düngemittelausfuhren nach Europa steigert, und nicht etwa Europa, welches die Düngemitteleinfuhren aus Russland erhöht. So wird den Russen eine machiavellistische Vorsätzlichkeit verliehen, den Europäern hingegen eine ausweglose, aber von Kalkül geleitete Passivität.
Die gerade erwähnte Wahrnehmung von europäischer "Passivität" unterstreicht die Financial Times mit einem Zitat von Svein Tore Holsether:
"Düngemittel sind das neue Gas. Es ist paradox: Mit dem Ziel, die Abhängigkeit Europas von Russland zu begrenzen, wird diese Abhängigkeit im Bereich der lebenswichtigen Ressourcen – Lebensmittel und Düngemittel – schlafwandlerisch aufgebaut."
Holsether ist der Geschäftsführer des norwegischen, unter anderem auf Dünger spezialisierten Chemiekonzerns Yara International.
Das US-amerikanische Finanzblatt Forbes nutzt eine ähnliche Erklärungsschablone, zeigt sich aber etwas dümmer und optimistischer:
"Europa wird nicht versuchen, die Verwendung von Düngemitteln zu verbieten, sondern lediglich verhindern, dass diese aus russischen Quellen stammen. Die europäische Düngemittelproduktion wird zunehmen, und es wird genügend Dünger aus den Vereinigten Staaten und anderen Quellen (Kanada, Lateinamerika und Afrika) kommen, um den Verlust der russischen Produktion auszugleichen. Einige sind der Meinung, dass es sogar weniger schwierig sein wird, auf russischen Dünger zu verzichten, als Europa von der russischen Energieabhängigkeit zu befreien."
Nichts davon scheint auf empirischer Beobachtung und datenbasierter Prognose zu beruhen, wie die oberen Zahlen demonstrieren. Wäre alles so einfach umzusetzen, würde man diese Adaption im Marktmechanismus bereits getätigt haben. Holsethers obiges Stichwort "lebenswichtige Ressourcen" ist hier Programm.
Selbst wenn die USA den Dünger zukünftig liefern würden, wäre dieser zu einem vollkommen unwirtschaftlichen Preis im Angebot. Dies ist bereits am Beispiel der überteuerten US-amerikanischen Flüssiggas-Lieferungen an die Bundesrepublik klar zu erkennen, als sogar der grüne Wirtschaftsminister Habeck gezwungen war zu bemerken, dass das nicht ganz rentabel und kulant seitens der atlantischen Freunde von Übersee sei. Was passiert außerdem, wenn die EU nicht nur direkten US-Dünger einkauft, sondern eine eigene, autonome Düngemittelproduktion mit einem Energieträger wie dem extrem überteuerten US-Flüssiggas versucht zu speisen?
Das Forbes-Fazit geht zwar Richtung Anerkennung der jetzigen Inkonsistenz der EU, aber die eigentliche Ursache wird klug umgeleitet. "Aufgrund dieses mangelnden Verständnisses in der Öffentlichkeit hat Russland unzählige Möglichkeiten, die westlichen Sanktionen zu umgehen, und der Westen muss auf der Hut sein, um dies zu verhindern", heißt es weiter vom Experten. Hier macht der Autor der europäischen Öffentlichkeit den Vorwurf, als wolle er sagen, dass sie, und nicht die US-hörigen Oligarchen der EU-Elite, bei diesen wirtschaftspolitischen Fragen das Machtwort haben. Faktisch hat aber selbst der energie- und dünge-politisch aufgeklärteste EU-Bürger gar keinen Einfluss auf diese Weisungen – ähnlich wie bei der "Wiederwahl" der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen.
Ob die EU-Kommission die richtigen Impulse empfängt, nach denen gehandelt werden soll, bleibt abzuwarten. Jedenfalls hat das bürokratisch voll ausgestattete Haus Ursulas letztens über ein Papier der schwedischen Regierung (erstellt in Zusammenarbeit mit anderen EU-Ländern) kontempliert, in dem vorgeschlagen wird, die Einfuhrzölle auf bestimmte "russische Waren" zu erhöhen. Sofern jedoch Einfuhrzölle auf russische Düngemittel erhoben werden sollten, wird sich das auf das Handelsvolumen in dieser Domäne, die von einer sicheren Kostenexplosion erfasst werden würde, weiter negativ auf die EU auswirken. Ferner würde diese nicht auf Moskau, sondern auf den demokratischen Endverbraucher in der EU abgewälzt werden. Es wäre aber nicht der erste Akt eigener, volkswirtschaftlicher Selbstbeschneidung auf dem Alten Kontinent – eine komplexe Disziplin, in der Deutschland derzeit unangefochtener, virtuoser Marktführer ist.
Um es mit einer Anekdote des herkömmlichen Alltags zu illustrieren: Alle Lebensmittel im Supermarkt, die irgendwie mit dem Fleiß der mit russischem Dünger imprägnierten, europäischen Agrarwirtschaft erstellt wurden, werden im Preis weiter steigen. Die generelle Währungsabwertung, genannt Inflation, innerhalb der Eurozone, wird diese Entwicklung nur weiter anheizen.
Wie die EU tatsächlich auf Kriegswirtschaft – dazu auch noch jenseits russischer Exporte – schalten möchte, bleibt eine neoliberale NATO- und EU-Hürde. Der Widerspruch, welchen auch der Kreml hoffentlich innigst versteht, ist, dass die EU nur auf eine gegen Moskau gerichtete Kriegswirtschaft schalten kann, wenn es sich dem russischen Export voll hingibt. Will Russland einen Krieg mit dem europäischen Westen vermeiden, müssen nicht nur alternative Absatzmärkte für russische Energie gefunden werden, wie es mit Indien und China bisher der Fall war: Auch alles andere Russische sollte bald überallhin, nur nicht nach Europa verkauft werden. Zumindest bis in Europa selbst mehr politische und kulturelle Ausgeglichenheit eingekehrt ist. Was nützt Moskau der Profit aus Produkten, die dafür eingesetzt werden, um bald europäische Soldaten gegen Russland zu füttern oder um innovative, europäische Munition gegen Russen feuern zu lassen?
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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