Wirecard-Skandal: Konzern räumt Luftbuchungen in Milliardenhöhe ein – Ex-Chef festgenommen
Nach dem Eingeständnis mutmaßlicher Luftbuchungen in Milliardenhöhe muss der in einen Bilanzskandal verwickelte Dax-Konzern Wirecard weitere Ermittlungen fürchten. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I sagte am Montag:
Wir prüfen alle in Betracht kommenden Straftaten.
Ob konkret gegen ehemalige oder aktive Wirecard-Manager wegen Bilanzmanipulation ermittelt wird oder dies geplant ist, sagte die Sprecherin nicht. Einzelheiten zum Vorgehen würden nicht genannt.
Bei der Behörde lief bereits ein Ermittlungsverfahren gegen den am Freitag zurückgetretenen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Markus Braun und drei weitere Manager der Wirecard-Spitze wegen des Verdachts der Falschinformation von Anlegern in zwei Börsen-Pflichtmitteilungen. Am Montagabend habe sich Braun nach Angaben der Münchner Staatsanwaltschaft dann gestellt. Er wurde festgenommen. Im Laufe des Tages soll der Ex-Wirecard-Chef der Ermittlungsrichterin vorgeführt werden, die über eine Haft entscheide, hieß es weiter.
Im Zentrum des Bilanzskandals stehen der ehemalige Wirecard-Finanzchef in Südostasien und ein Treuhänder, der bis Ende 2019 für Wirecard aktiv war und das, wie sich nun herausgestellt hat, in großen Teilen wahrscheinlich gar nicht existente Geschäft mit den Drittpartnern betreute.
Ungeklärt ist, ob es Mitwisser beziehungsweise Mittäter in der Firmenzentrale im Münchner Vorort Aschheim gab. Vor allem ist ungeklärt, ob und inwieweit Braun und andere Mitglieder des Vorstands über die Situation informiert oder möglicherweise daran sogar beteiligt waren. Das Unternehmen sieht sich als Opfer.
Dennoch mehren sich die Anzeichen für ein Fehlverhalten in der Wirecard-Spitze. Der Aufsichtsrat feuerte am Montag den bereits suspendierten Vorstand Jan Marsalek "mit sofortiger Wirkung". Der Anstellungsvertrag wurde außerordentlich gekündigt, wie Wirecard mitteilte. Gründe nannte der Aufsichtsrat nicht. Marsalek war für das operative Tagesgeschäft auch in Südostasien zuständig, wo die Affäre ihren Anfang nahm.
Mit Fragen und scharfer Kritik sind die Finanzaufsicht BaFin und die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY konfrontiert, die die Wirecard-Abschlüsse der Jahre 2017 und 2018 geprüft hatten. BaFin-Chef Felix Hufeld sprach von einem "kompletten Desaster" und gab sich selbstkritisch:
Wir sind nicht effektiv genug gewesen, um zu verhindern, dass so etwas passiert. Wir befinden uns mitten in der entsetzlichsten Situation, in der ich jemals einen Dax-Konzern gesehen habe.
Wichtig sei nun rasche Aufklärung.
"Fall Wirecard ist eine Katastrophe für den Finanzplatz Deutschland"
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) warnte vor einem Imageverlust für den Wirtschaftsstandort Deutschland und forderte eine rasche Aufklärung des Vorfalls. Gegenüber dem Nachrichtenportal t-online.de sagte der Minister:
Es muss ermittelt werden, wie es dazu kommen konnte, dass sich offenbar Milliardenbeträge in Luft aufgelöst haben, oder möglicherweise nie da waren. Und es muss herausgefunden werden, ob die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen eingehalten wurden oder ob jemand dafür auch juristisch zur Rechenschaft gezogen werden muss.
Ein solcher Fall dürfe sich mit Blick auf das Vertrauen in den Bankenstandort Deutschland so schnell nicht wiederholen, sagte Altmaier.
"Der Fall Wirecard ist eine Katastrophe für den Finanzplatz Deutschland und eine Bankrotterklärung der beteiligten Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsbehörden", sagte FDP-Finanzexperte Florian Toncar. "Gründliche Prüfungen hätten einen solchen Schaden sicherlich früher aufdecken müssen", meinte der Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz. Die Linke fordert die Einführung eines Unternehmensstrafrechts, wie Fraktionsvize Fabio de Masi sagte. Dies würde bedeuten, dass künftig nicht mehr nur Manager wegen Straftaten angeklagt werden könnten, sondern ganze Unternehmen.
Wirecard hatte zuvor mitgeteilt, dass 1,9 Milliarden Euro, die das Unternehmen auf Treuhänderkonten verbucht hatte, "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" nicht existieren. Deswegen prüft der Konzern die nachträgliche Korrektur seiner Bilanzen:
Mögliche Auswirkungen auf die Jahresabschlüsse vorangegangener Geschäftsjahre können nicht ausgeschlossen werden.
Kursverluste weit über 20 Milliarden Euro
An der Frankfurter Börse stürzte die Wirecard-Aktie ein weiteres Mal in die Tiefe. Die Papiere verloren 44 Prozent und sackten zum Börsenschluss auf 14,44 Euro. Damit war Wirecard nur noch rund 1,7 Milliarden Euro wert. Seit dem Höchststand der Aktie im September 2018 summieren sich die Kursverluste der Anleger auf weit über 20 Milliarden Euro. Allein seit dem vergangenen Mittwoch haben die Papiere über zehn Milliarden Euro an Wert verloren.
Über mögliche Bilanzmanipulationen bei Wirecard hatte schon vor über einem Jahr die britische Financial Times berichtet. Im Oktober meldete das Blatt, dass ein beträchtlicher Teil der Wirecard-Umsätze mit Drittfirmen in Asien womöglich auf Scheingeschäften beruhe.
Die Zukunft des Dax-Konzerns hängt vom Wohlwollen der Banken ab, die nach Angaben von Wirecard wegen des fehlenden testierten Jahresabschlusses für 2019 das Recht haben, Kredite in Höhe von zwei Milliarden Euro zu kündigen. Der seit Freitag amtierende Interims-Chef James Freis kämpft um das Überleben seines Unternehmens: Man stehe weiterhin mit Hilfe der am Freitag angeheuerten Investmentbank Houlihan Lokey in "konstruktiven Gesprächen" mit den kreditgebenden Banken.
Die Hoffnung auf ein Stillhalten der Banken wurde von einem Zeitungsbericht gestützt. Wie die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung berichtete, wollen die Banken das Unternehmen nicht fallen lassen. "Keiner hat ein Interesse daran, den Kredit zu kündigen", hieß es demnach am Samstag aus einem der beteiligten Geldhäuser. "Alle wollen jetzt das Ding kurzfristig stabilisieren", hieß es.
Update 15.00 Uhr: Der festgenommene frühere Wirecard-Chef Markus Braun kommt gegen eine Kaution in Höhe von fünf Millionen Euro wieder auf freien Fuß. Das Amtsgericht hat den Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt, wie die Staatsanwaltschaft München am Dienstag mitteilte. Der österreichische Manager hatte sich am Montagabend selbst gestellt, nachdem er offenbar von dem Haftbefehl erfahren hatte. Vorgeworfen werden Braun derzeit "unrichtige Angaben" in den Wirecard-Bilanzen und Marktmanipulation.
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(dpa/rt)
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