Wird sich Russland aus Cherson zurückziehen? Szenarien der beginnenden Schlacht
Offenbar hat im Süden der Ukraine die lang erwartete Schlacht um Cherson begonnen oder steht unmittelbar bevor: Die ukrainischen Streitkräfte sind hier Anfang der Woche vom Norden her in die Offensive gegangen, wenn auch bislang ohne größeren Erfolg. Wo könnten in den kommenden Tagen weitere ukrainische Offensiven stattfinden und was tun die russischen Streitkräfte, um sie abzuwehren?
Der Militärreporter Jewgeni Poddubny war der erste, der am Dienstagmorgen über die Offensivversuche der ukrainischen Streitkräfte in Richtung Cherson berichtete. Auf seinem Telegram-Kanal schrieb er, dass zwei ukrainische Bataillone die Linie Nowaja Kamenka-Berislaw angriffen. Später bestätigte dies Kirill Stremoussow, der stellvertretende Gouverneur des Gebiets Cherson.
Am Abend desselben Tages meldete Stremoussow, der ukrainische Angriffsversuch sei vorerst gescheitert. Die Lage in Cherson sei "vollständig unter Kontrolle", und alle Angriffe seien abgewehrt.
Dennoch verfügen die ukrainischen Streitkräfte über ausreichende Mittel für einen Angriff auf Cherson, sagt Boris Roschin, Experte des Zentrums für politischen und militärischen Journalismus. Das erste und nach Meinung dieses Experten wahrscheinlichste Szenario ist ein Angriff der ukrainischen Armee auf Cherson von Norden her, aus Richtung der Heimatstadt Selenskijs, Kriwoj Rog. Die ukrainischen Aktivitäten Anfang der Woche könnten ein erster Vorbote hiervon sein. Die Aufgabe, die sich den ukrainischen Streitkräften hier stellt, besteht darin, den russischen Brückenkopf am rechten, westlichen Ufer des Dnjepr zu verkleinern.
Darüber hinaus, so Roschin, könnten die ukrainischen Streitkräfte amphibische Operationen durchführen, um bei Cherson zu landen und die Stadt aus dem östlichen Hinterland anzugreifen. Dies ist das zweite mögliche Szenario. Der Experte hofft, dass sich die russischen Truppen dieser Bedrohung bewusst sind:
"Solche Ablenkungsangriffe in der Nachhut sind unangenehm und ihre Folgen sollten nicht unterschätzt werden."
Für am wenigsten wahrscheinlich hält Roschin die dritte denkbare Angriffsrichtung: Vom Westen, aus Richtung der Stadt Nikolajew. Dort ist die Kontaktlinie zwar näher an Cherson als im Norden des Gebiets und die ukrainische Seite habe hier ebenso kampffähige Einheiten konzentriert, doch sei auch die russische Armee hier am besten auf die Verteidigung vorbereitet.
Um die russischen Verteidigungslinien in diesem Frontabschnitt zu umgehen, könnte die Ukraine eine Landeoperation vom Schwarzen Meer aus versuchen, beispielsweise durch Übersetzen über die langgezogene Dnjeprmündung in Höhe des Dorfes Stanislaw.
Roschin nimmt an, dass alle vom Generalstab in Kiew entworfenen Planungen darauf setzen, dass die russische Armee sich kampflos aus der Gebietshauptstadt Cherson und insgesamt vom westlichen Ufer des Dnjepr zurückziehen werde, sobald sich für sie eine Einkesselungsgefahr abzeichnet und Versorgungsschwierigkeiten infolge permanenten Beschusses der Flussquerungen auftreten. In der Tat gab es in den letzten Wochen Signale seitens der russischen Militär- und Zivilverwaltungen, die sich als Planungen für einen solchen Rückzug deuten lassen. So rief die Zivilverwaltung des Gebietes Cherson zur großangelegten Evakuierung von Zivilisten und Behörden auf, und der neue Kommandierende der russischen Militäroperation in der Ukraine, General Surowikin, äußerte in einem Interview die Bereitschaft, "schwierige Entscheidungen" zu treffen.
Diese Hoffnungen der Kiewer Generäle, eine Erstürmung Chersons zu vermeiden, sind nach Ansicht des Experten jedoch zweifelhaft.
"Im Moment wird dazu nichts gesagt: Es gibt keinen Rückzug der russischen Truppen, alle stehen auf denselben Positionen wie vor Beginn der Evakuierung der Zivilisten. Die feindlichen Angriffe werden abgewehrt",
sagt Roschin im Interview für die russische Zeitung Wsgljad. Auch andere Experten sehen in der Evakuierung von Zivilisten eher Anzeichen dafür, dass sich die russische Armee auf schwere Kämpfe vorbereitet, in denen sie ungern durch Rücksichtnahme auf in der Stadt verbliebene Zivilisten eingeschränkt sein will.
Sergei Denisenzew, Experte am Zentrum für Analysen, Strategien und Technologien, führt in einem Interview für dieselbe Zeitung aus:
"Das Hauptproblem der Verteidigung von Cherson ist, dass es am westlichen, rechten Ufer des Dnjepr liegt. Die gesamte Logistik der Versorgung der Gruppierung, die sie verteidigt, muss ein großes Wasserhindernis überwinden. Die Antonowski-Brücke, die für den Nachschub von entscheidender Bedeutung ist, wird regelmäßig aus Artillerie beschossen, ebenso alle Ponton-Brücken."
Animation: Von Überflutung bedrohte Gebiete bei Sprengung des Kachowka-Staudamms
Eine weitere Gefahr könnte aus der nach Angaben russischer Aufklärer von der Ukraine geplanten Sprengung des Dnjepr-Staudamms bei Nowaja Kachowka ausgehen. Davon sprachen sowohl der kommandierende General Surowikin als auch die obersten Vertreter der Zivilverwaltung, Wladimir Saldo und Kirill Stremoussow, Anfang dieser Woche. Die Sprengung des Staudamms würde innerhalb kürzester Zeit derart große Mengen Wassers freisetzen, dass eine Flutkatastrophe auftreten würde, die mehrere Siedlungen entlang des Flusses und auch Teile der Stadt Cherson selbst zerstören würde. Auch die Versorgungs- und Nachschubwege der russischen Armee wären dadurch für eine nicht unerhebliche Zeit funktionsunfähig.
Für diesen Bericht wurden Informationen der Zeitung Wsgljad verwendet.
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