Aus für Bologna-Reform: Russland beendet Teilnahme an europäischem Hochschulsystem
Am 24. Mai kündigte der russische Minister für Wissenschaft und Bildung, Waleri Falkow, den Ausstieg des Landes aus dem zweistufigen Bologna-Hochschulsystem an, dem Russland im Jahr 2003 beigetreten war. Zudem informierte der Minister über die Weiterentwicklung des Bildungssystems in Russland. "Der Bologna-Prozess gehört der Vergangenheit an", äußerte Falkow gegenüber der Zeitung Kommersant. "Die Zukunft liegt in unserem eigenen, einzigartigen Bildungssystem, das sich an den Interessen der Volkswirtschaft und den bestmöglichen Chancen für alle Studenten ausrichten muss."
Bereits am folgenden Tag, dem 25. Mai, begann die russische Duma mit der Vorbereitung des vollständigen Rückzugs aus dem Bologna-System. Nach den Worten von Wjatscheslaw Wolodin, dem Sprecher des russischen Parlaments, befürworteten alle Fraktionen den Ausstieg aus dem Abkommen.
Ursprünglich sollte der Bologna-Prozess die Integration des russischen Hochschulsystems in ein gesamteuropäisches System erleichtern. Bislang mussten Hochschulabsolventen damit leben, dass in Russland erworbene Abschlüsse im Ausland nicht anerkannt wurden. Sie waren daher gezwungen, ein kompliziertes Anerkennungsverfahren zu durchlaufen, zusätzliche Prüfungen abzulegen oder eine zweite Ausbildung im Ausland zu absolvieren.
Außerdem sollte der Austausch zwischen den Hochschulen erheblich vereinfacht werden, indem die Studenten mehrere Semester im Ausland verbringen und sich die an einer ausländischen Hochschule absolvierten Kurse im Inland anrechnen lassen können.
Die zwanzig Jahre seit dem Beginn der Bologna-Reform in Russland enden nun jedoch mit der bitteren Erkenntnis: Trotz der Teilnahme am gesamteuropäischen System wurden die Abschlüsse russischer Universitäten nicht mit denen europäischer Hochschulen gleichgesetzt.
Der Professor für Kommunikationstechnologie an der Staatlichen Linguistischen Universität Moskau, Alexander Tschumikow, erklärte dazu in einem Interview mit Lenta.ru:
"Das Bologna-System, an dem wir seit 2003 teilnehmen beziehungsweise 'teilnehmen', sieht nicht nur die Angleichung der russischen und westlichen Bildungssysteme vor, sondern auch die gegenseitige Anerkennung von Bachelor- und Masterabschlüssen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Unsere Diplome werden in Europa und den USA nicht anerkannt."
"Wir sind dem Bologna-Prozess wegen der hohen Ziele beigetreten, aber praktisch ist unklar, wozu", so der Wissenschaftler. "Die wichtigste Leistung wäre die tatsächliche Integration in das europäische System gewesen, aber da die Abschlüsse nicht anerkannt werden, ist das Ziel nicht erreicht worden und die Probleme existieren weiter."
Stattdessen, so die Experten, habe sich die Qualität der Hochschulbildung erheblich verschlechtert. Dies kritisierte kürzlich auch der Rektor der Moskauer Staatsuniversität, Wiktor Sadownitschi. "Leider haben wir in den 1990er Jahren begonnen, viele Dinge zu kopieren, die nicht typisch für uns sind, das Bologna-System und viele andere Systeme, wodurch die Qualität der Bildung erheblich gesunken ist", betonte er und forderte die Rückkehr zu einer "fundamentalen" Hochschulbildung.
Der Bologna-Prozess wurde in Russland von Anfang an wegen seiner starken Spezialisierung, einer gewissen Oberflächlichkeit sowie des Mangels an praxisbezogener Ausbildung kritisiert. Studenten bekommen beispielsweise die Möglichkeit, ihren Bildungsweg selbst zu bestimmen, anstatt ein bestimmtes Fachgebiet umfassend zu studieren.
Als problematisch hat sich auch der Ausschluss vieler Fächer, die in der Zeit der Sowjetunion verbreitet waren, erwiesen. Dies wirke sich nun zum Beispiel negativ auf die Ingenieurberufe aus. "Wir haben das System von Bologna und das, was dort positiv war und ist, gut gemeistert", resümiert etwa der Rektor der Staatlichen Polytechnischen Universität Sankt Petersburg, Andrei Rudskoi, in einem Interview mit Lenta.ru. "Und wir müssen dies im Bildungsprozess durchsetzen. Ich befürworte aber einen spezifischen Abschluss für Ingenieure. Ich kann nachvollziehen, wenn jemand einen Bachelor oder Master in Physik, Mathematik, Philosophie hat. Aber ich kann nicht verstehen, was ein Bachelor in Maschinenbau oder Hüttenwesen ist."
Der Ausstieg Russlands aus dem Bologna-Prozess wird sich nach Ansicht von Experten jedoch kaum auf den Austausch zwischen den Hochschulen auswirken. Professor Alexei Maslow von der Moskauer Staatsuniversität (MSU) betonte gegenüber Lenta.ru:
"Wir müssen zugeben, dass der Bologna-Prozess in Bezug auf die aktuelle Situation im Prinzip völlig veraltet ist. Nicht auf russischer, sondern auf globaler Ebene."
Laut Maslow habe ein Ausstieg Russlands aus dem Bologna-Prozess daher kaum Auswirkungen auf den Austausch zwischen den Hochschulen.
"Es hat sich herausgestellt, dass es für die Universitäten bequemer ist, den Austausch von Studenten direkt miteinander auszuhandeln, als irgendwelche staatlichen Verfahren zu durchlaufen", erklärte er. "Das System wird auch von den Europäern selbst kritisiert. Wenn wir die MSU nehmen, sehen wir, dass die große Mehrheit der Studenten, die an der Universität ein Praktikum absolvieren, dies nicht im Rahmen des Bologna-Prozesses macht, sondern weil wir direkt mit den Universitäten verhandelt haben – sei es eine britische oder eine chinesische Universität."
Wie genau die Abwicklung des Bologna-Prozesses aussehen wird, was vom gesamteuropäischen System beibehalten und was aus dem alten sowjetischen Hochschulsystem in das neue System integriert werden soll, ist noch nicht klar. Ansor Musajew, der Leiter der Föderalen Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft, erklärte bereits gegenüber TASS, dass die Abschaffung des Bologna-Systems seiner Meinung nach schrittweise erfolgen solle. Die Studenten sollten mindestens zwei Jahre Zeit bekommen, sich umzustellen – damit die Wissensqualität nicht leide.
Derzeit nehmen 49 Länder am Bologna-Prozess teil – darunter auch Deutschland, wo die in Bologna beschlossene Bildungsreform ebenfalls immer wieder bemängelt wird.
Kurioserweise stimmt die Kritik der russischen Experten am Bologna-System mit dem überein, was die Gegner der Bildungsreform vor einigen Jahren auch in der deutschen akademischen Welt geäußert haben. So stellte der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Horst Hippler, bereits im Jahr 2012 in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung fest, dass die wichtigsten Ziele des Bologna-Prozesses nie erreicht worden seien. Seiner Meinung nach habe der Prozess den Studenten das Studium im Ausland keineswegs erleichtert, und der sechssemestrige Bachelor-Abschluss sei für viele Studiengänge unzureichend gewesen, um eine hochwertige Ausbildung zu erhalten.
"Ein angekündigter Unfall mit Fahrerflucht", so bezeichnete der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, die Bologna-Hochschulreform im Jahr 2016 in einem Gespräch mit der Welt. Er hielt den Bologna-Prozess damals für "ein Zugeständnis an die Briten" und wies darauf hin, dass auch viele Wissenschaftler "aus anderen europäischen Ländern dagegen waren".
Allerdings ist in Deutschland an einen Ausstieg aus dem Bologna-Prozess nicht zu denken: Trotz massenhafter bundesweiter Studentenproteste im Jahr 2009, die sich unter anderem gegen das Bologna-System richteten, kam es bislang zu keinem Wandel des Status quo im deutschen Hochschulbereich.
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