Reste-Essen: Immer mehr Menschen müssen in Deutschland Armenspeisung nutzen

Deutsche Tafeln melden wachsenden Zulauf. Armut trifft vor allem Kinder, Jugendliche und Rentner. Doch die Ärmsten fallen auch hier durchs Raster. Immer mehr Menschen in Deutschland haben Probleme, über die Runden zu kommen und suchen die Armenspeisungen auf.
Reste-Essen: Immer mehr Menschen müssen in Deutschland Armenspeisung nutzenQuelle: www.globallookpress.com

von Susan Bonath

Immer mehr Menschen in Deutschland suchen die Armenspeisungen auf. Das gab der Dachverband Tafel Deutschland e.V. am Mittwoch auf einer Pressekonferenz bekannt. Die Rentenkürzungen der vergangenen Jahre schlagen durch, Niedriglöhne zwingen viele zum Aufstocken mit Hartz IV, das mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten nicht mithält, und Mietwohnungen sollen Maximalprofit bescheren.

Die Schwächsten leiden am meisten

Der Verband verzeichnet demnach einen "dramatischen Anstieg der Tafelnutzer" binnen eines Jahres. Insgesamt würden aktuell 1,65 Millionen Menschen regelmäßig eine Tafel aufsuchen, vor einem Jahr seien es 1,5 Millionen, also zehn Prozent weniger gewesen. Vor allem Rentner, Kinder und Jugendliche stünden den Analysen zufolge häufiger Schlange vor einer der über 2.000 Ausgabestellen von inzwischen 947 regionalen "Tafeln". Das sind bereits drei Mal so viele Einrichtungen wie im Jahr 2005. Damals hatte die Bundesregierung aus SPD und Grünen mit Unterstützung  der CDU und der FDP Hartz IV eingeführt.

Besonders bei Senioren ist der Anstieg mit 20 Prozent dramatisch",konstatierte der Vorsitzende des Dachverbandes der Tafeln, Jochen Brühl.

Niedrige Renten seien damit nach der Langzeiterwerbslosigkeit der zweithäufigste Grund für den Gang zu einer "Tafel". Brühl warnte:

Die Altersarmut wird uns in den kommenden Jahren mit großer Wucht überrollen.

Deshalb müsse die Politik sofort handeln. Es brauche, so der Tafelchef, "tiefgreifende Reformen und verbindliche, ressortübergreifende Ziele zur Bekämpfung von Armut". "Völlig inakzeptabel" findet der Tafelchef auch den Zuwachs an bedürftigen Kindern und Jugendlichen. 50.000 mehr von ihnen als noch 2018 seien auf die Lebensmittelspenden angewiesen. Diese Gruppe stelle mittlerweile ein knappes Drittel aller Nutzer. Brühl konstatierte:

Wir leisten es uns in Deutschland, Kinder systematisch zu vernachlässigen.

Dazu gehöre, so merkte er an, nicht nur die materielle Armut. Auch das deutsche Bildungssystem sei im Vergleich mit anderen Industriestaaten extrem undurchlässig. "Wer als Kind arm ist, hat kaum Chancen, sich aus diesem Kreislauf zu befreien", sagte der Tafel-Vorsitzende.

Überproduktion, Verteilungsprobleme und Wohltäter-Image

Darüber hinaus kritisierte Brühl die "Wegwerfgesellschaft": Weltweit lande etwa jedes dritte produzierte Lebensmittel im Abfall, während viele Millionen Menschen nicht genug zu essen hätten. In Deutschland würden so etwa 18 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr de facto für die Müllkippe produziert.

Freilich sind diese Tafeln allein mit den eigentlich gesellschaftssystembedingten Verteilungsproblemen überfordert. So ruft der Verband nun nach dem Staat. Dieser müsse die Armenspeisungen "beim Retten und Verteilen der Lebensmittel" finanziell unterstützen, forderte Brühl. In vielen anderen Ländern sei dies bereits gängige Praxis. "Das Ehrenamt kommt hier an seine Grenzen", resümierte er.

Die erste Tafel wurde 1993 in Berlin als Hilfsangebot für Obdachlose gegründet. Die Akteure hatten die Idee aus den USA mitgebracht, wo bereits damals das freiwillige, karitative Engagement mangels jeglicher staatlicher Absicherung blühte. Inzwischen agiert der Tafelverband schon beinahe wie eine gewöhnliche "marktwirtschaftliche" Unternehmenskette: Denn Konzerne wie Metro, Lidl, REWE, Daimler, Nestlé und Tchibo verschaffen sich als Unterstützer einen guten Ruf als "Wohltäter".

Die Ärmsten fallen selbst bei der Tafel durchs Rost

Betroffene müssen hingegen selbst bei den Tafeln einige Hürden überwinden, um für ein oder zwei Euro an einen Beutel Essen zu kommen. Sie brauchen einen Einkommensnachweis, etwa vom Rententräger, vom Sozialamt oder vom Jobcenter. Obdachlose, darunter besonders viele gestrandete Jugendliche, meiden aber häufig gerade diese Behörden – nicht ohne Grund. Nicht wenige sind von der Bürokratie überfordert, anderen haben eben jene "Jobcenter" die Bezüge vollständig gekappt, weil sie sich nicht an bestimmte Auflagen hielten, wie etwa das Schreiben einer bestimmten Anzahl von Bewerbungen pro Monat.

Diese Menschen sind zwar bettelarm, können dies aber ebenso wenig nachweisen, wie beispielsweise auch hierzulande gestrandete Arbeitsmigranten aus anderen EU-Ländern. Letztere erhalten seit 2016 in den ersten fünf Jahren ihres Aufenthalts in Deutschland keinerlei Sozialhilfe. Wer keinen Job findet, bekommt auch kein Geld. Auch abgelehnte Asylbewerber sind davon betroffen. Einige versuchen, sich aus Angst vor einer zwangsweisen Rückführung "irgendwie" selbst durchzuschlagen. Mit legalen Mitteln ist das kaum möglich.

Diese Menschen haben eines gemeinsam: Sie haben gar kein oder nur ein marginales Einkommen, der behördliche Nachweis dafür fehlt ihnen aber ebenso. Dieser Nachweis aber wäre bei den meisten Tafeln die Mindestvoraussetzung dafür, um einen Zugangsschein für die Essensausgabe zu erhalten.

Die Krönung: Sozialkürzungen unter Verweis auf karitative Hilfe

Die Tafeln selbst betonen, dass niemand einen Anspruch auf ihre Hilfe habe, denn diese sei freiwillig. Trotzdem kam es in der Vergangenheit zu sonderbaren Auswüchsen: Jobcenter selbst verweigerten zum Beispiel sanktionierten Hartz-IV-Beziehern amtliche Lebensmittel-Gutscheine, also die einzige Unterstützung, die sie auf Antrag bekommen könnten, und schickten sie stattdessen – zur Tafel! Von Gerichten wurden die Vertreter solcher Auswüchse deutscher Behörden bereits mehrfach in die Schranken gewiesen.

In Berlin machte in diesem Frühjahr ein weiterer skandalöser Fall die Runde: Die Wohngeldstelle des Bezirksamtes Lichtenberg hatte einem Studenten die Hilfe gestrichen, weil er ab und zu Lebensmittel von der Tafel bekam. Die Behörde hatte ihm dies nämlich kurzerhand als "Rundumverpflegung" im Wert von 240 Euro pro Monat angerechnet. Das sind sogar rund 100 Euro mehr, als im Hartz-IV-Regelsatz für Essen und Trinken enthalten sind. Nach Medienberichten zog das Amt im Sommer diese Entscheidung zurück.

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