Corona-Notstand ohne Pandemie

Die Fallzahlen sind niedrig, die Krankenhäuser leer. Doch das Robert Koch-Institut der Bundesregierung schätzt die Gefahr weiterhin als hoch ein, der Notstand nimmt kein Ende. Von Fakten und wachsender Kritik durch Fachverbände will es nichts wissen.
Corona-Notstand ohne PandemieQuelle: www.globallookpress.com © Christian Spicker via www.imago-images.de

von Susan Bonath

Die Übertragbarkeit des Virus, der Anteil schwerer und tödlicher Krankheitsverläufe und die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitswesens: Diese Hauptkriterien legte die oberste deutsche Gesundheitsbehörde, das Robert Koch-Institut (RKI) noch im März für die Bewertung der Corona-Pandemie fest. Spätestens seit Mai liegt nichts davon auch nur ansatzweise in einem kritischen Bereich.

Doch der Notstand – verbunden mit massiven Einschnitten in die Grundrechte – gilt weiter. Die Regierung begründet ihn mit der seit März gleichlautenden Gefahrenanalyse des RKI. Dieses schätzt bis heute "die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als hoch ein, für Risikogruppen als sehr hoch".

Begründen kann das RKI das nicht. Von der Autorin danach befragt, reagiert es mit den immer gleichen Textbausteinen und Verweisen auf die eigene Expertise, an der sich die Bundesregierung, die Länder und kommunalen Gesundheitsämter mit ihren Corona-Verordnungen, Bußgeld-Katalogen, Quarantäne-Auflagen orientieren. Die massive Ausweitung anlassloser PCR-Tests spielt für die Behörde keine Rolle, von Fehlerquoten derselben will sie nichts wissen. Auch zunehmende Warnungen von Fachorganisationen und neue wissenschaftliche Studien schlagen die RKI-Experten in den Wind. Und zuständig oder verantwortlich für politische Entscheidungen fühlt man sich ebenfalls nicht. Das geht aus neuen Antworten des RKI an die Autorin hervor. 

Die Fakten: Kaum Kranke, kein exponentieller Anstieg der Fälle

In der ersten Aprilwoche gab das RKI den Höchststand an Hospitalisierten mit einem positiven PCR-Test an. Damals lagen bundesweit 6.044 dieser Patienten in Krankenhäusern. Seither sinkt die Zahl kontinuierlich. Mitte Mai wurden noch 726 positiv Getestete in Kliniken behandelt, Mitte Juni waren es 312 und Anfang September noch 290 Betroffene – bei insgesamt rund 500.000 Klinikbetten. Unklar ist dabei bis heute, an welchen Krankheiten diese Menschen litten und ob diese wirklich etwas mit dem Virus zu tun hatten.

Der Anteil der Corona-Positiven an allen Intensiv-Patienten liegt seit Monaten bei etwa einem Prozent. Mitte Juli hatten 248 von insgesamt rund 21.500 Betroffenen ein positives Testergebnis, am vergangenen Freitag waren 220 von gut 22.000 Schwerkranken positiv.

Zum Vergleich dazu: Die höchste Anzahl an Intensiv-Patienten, die wegen oder mit einer COVID-19-Erkrankung behandelt wurden, lag am 21. April bei 2.910 Personen bundesweit.

Die Sterblichkeit im ersten Halbjahr 2020 liegt in Deutschland auf dem Niveau der entsprechenden Vorjahreszeiträume. In seinen täglichen Situationsberichten beziffert das RKI das Durchschnittsalter der an oder mit Corona Verstorbenen mit 81 Jahren. Das entspricht exakt der aktuellen durchschnittlichen Lebenserwartung der Bundesbürger. Wörtlich hieß es dort am vergangenen Dienstag:

Von den Todesfällen waren 7.961 (85%) Personen 70 Jahre und älter. Im Unterschied dazu beträgt der Anteil der über 70-Jährigen an der Gesamtzahl der übermittelten COVID-19-Fälle nur 15%. Bislang sind dem RKI zwei COVID-19-Todesfälle bei unter 20-Jährigen übermittelt worden. Die verstorbenen Personen waren im Alter zwischen 3 und 18 Jahren, alle hatten Vorerkrankungen.

Seit Anfang August nun schüren die deutschen Leitmedien wieder mehr Panik. Denn das RKI meldete wieder höhere Fallzahlen von 1.000 und mehr pro Tag. Die Sensationsmedien stiegen darauf ein, die Bundesländer verschärften die Maskenpflicht und verfügten Bußgelder gegen Sünder, sogar Kinder müssen den ganzen Tag in der Schule damit herumlaufen. Doch was ist dran an diesen Zahlen, die nun offenbar zur Aufrechterhaltung des Notstandes herangezogen werden?

Tatsächlich wurde die Anzahl der Testungen seit Mitte Juli von gut 500.000 pro Woche seit Mitte August auf mehr als eine Million erhöht. Das trieb auch die absoluten Positivzahlen in die Höhe. Ihr relativer Anteil blieb aber konstant – so wie seit Mitte Mai bereits – bei weniger als einem Prozent. In der letzten August- und ersten Septemberwoche erhielten jeweils 74 von 10.000 Getesteten ein positives Ergebnis. Diese Werte liegen innerhalb der Fehlertoleranz dieser PCR-Tests. Von einem exponentiellen Anstieg der Fälle kann also keineswegs die Rede sein. 

Fachverbände kritisieren Massentests und Mangel an Standards

PCR-Tests sind eine gängige Methode in der Medizin, um Erreger einer Erkrankung zu ermitteln und Patienten zielgerichtet behandeln zu können. So ein Test wird gewöhnlich bei bestehenden Symptomen eingesetzt, beispielsweise bei einer Lungenentzündung. Die PCR-Methode, mit der Gensequenzen von Viren gefunden werden können, galt aber nie als alleiniges Kriterium, um eine bestimmte Infektion zu diagnostizieren.

Seit SARS-CoV-2 ist alles anders. Ob Symptome oder nicht, getestet werden Reiserückkehrer, ängstliche Lehrer und Kita-Erzieher, Pflegepersonal und Menschen, die als Kontaktpersonen ermittelt und in die Quarantäne gesteckt wurden. Jeder, bei dem der PCR-Test einen positiven Schnipsel des neuen Corona-Virus anzeigt, geht in die RKI-Statistik neuer COVID-19-Fall ein.

Dagegen regt sich immer mehr Kritik in der Fachwelt. Der Verband der Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM), deren Mitglieder die Massentests auswerten und die Ergebnisse an das RKI übermitteln, riefen wiederholt und zuletzt vor zwei Wochen zu "zielgerichteten Testungen" auf.

In der Mitteilung schreibt der ALM-Verband:

Eine millionenfache ungezielte Testung lehnt der ALM e.V. mit Blick auf die fehlende medizinische, epidemiologische und praktische Sinnhaftigkeit ab und warnt ausdrücklich: Solche Angebote halten wir für unmoralisch. Medizinische Tests sollten in erster Linie für Menschen eingesetzt werden, die sie aus medizinischen Gründen benötigen.

Auch das Deutsche Netzwerk für Evidenzbasierte Medizin (EBM) verurteilt die gegenwärtige Praxis scharf als unwissenschaftlich. Sie führe zu Fehlannahmen, entsprechend fortgesetzten falschen Darstellungen in den Medien und fragwürdigen politischen Entscheidungen. Auch sorgten "anlasslose Massentestungen an klinisch Gesunden zu einer hohen Fehlerquote". In einer Stellungnahme vom 20. August schreibt der Fachverband:

Die tägliche Berichterstattung der gemeldeten Fälle ist kaum interpretierbar, wenn nicht bekannt ist, wie viele Tests bei welchen Personen durchgeführt werden. Je mehr getestet wird, umso häufiger finden sich auch richtig oder falsch positiv getestete Personen. Je häufiger gesunde und beschwerdefreie Menschen  untersucht werden, umso eher gibt es auch positive Ergebnisse von fraglicher Bedeutung Die Falsch-Positiv-Rate müsste dementsprechend erwähnt werden.

Der EBM-Verband verlinkt in seiner Mitteilung Arbeiten von anderen Wissenschaftsorganisationen, die dasselbe fordern. So habe auch das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin "immer wieder wissenschaftsbasierte Risikokommunikation (…) eingefordert". Dies werde hinsichtlich der Corona-Pandemie von Beginn an nicht hinreichend befolgt und führe zu missverständlichen Informationen. Am 8. September erneuerte der EBM-Verband seine Mahnung mit einer Klarstellung:

Die Zeiten des exponentiellen Anstiegs der Anzahl der Erkrankten und der Todesfälle sind im deutschsprachigen Raum seit fünf Monaten vorbei. 

RKI ignoriert Kritik, Fehlerquoten und neue Studien

Die Kritik der Fachverbände bezieht das RKI aber nicht auf sich. Man sei "hier nicht dezidiert adressiert", teilte eine Sprecherin mit. Im Übrigen sei ihre Behörde dafür zuständig, die von den Laboren übermittelten Werte zu veröffentlichen. Auch weitere Zahlen könne man dort finden, wenn auch versteckt. Und: "Für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit ist die BZGA zuständig" – die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung. Dass diese zurückverweist und sich wiederum auf RKI-Zahlen beruft: Geschenkt.

Von den Fehlerquoten der PCR-Tests wollen die RKI-Forscher auch nichts wissen. Stoisch erklärte die Sprecherin, dass diese bei nahezu null lägen. Nein, geprüft habe ihre Behörde das nicht. "Das ist Sache der Hersteller", sagte sie. Ferner seien PCR-Tests auf dem deutschen Markt nicht einmal zulassungs-, sondern lediglich anzeigepflichtig. Manche Hersteller geben eigene Daten über die Genauigkeit ihrer Produkte an. Häufig sind dort Angaben wie "über 95 Prozent" oder "sehr hoch" zu lesen. Nun reicht aber auch eine Fehlerquote von einem Prozent aus, um bei einer Million Tests 10.000 falsch Positive zu produzieren.

In einer einzigen Ringstudie zu den Corona-PCR-Tests, durchgeführt im April von einigen Laboren unter Aufsicht des ALM-Verbandes, wurde eine Fehlerquote für Falsch-Positive von insgesamt 1,4 Prozent ermittelt.

Richtigerweise erklärt die RKI-Sprecherin, dass daraus nicht auf die Fehlerquote aller Tests geschlossen werden könne. Denn erstens nehmen längst nicht alle Testhersteller daran teil, zweitens sind inzwischen schon wieder hunderte neue Tests auf dem Markt – die dann auch offenkundig nie von Dritten überprüft wurden.

Das aber wird doch zum Problem, weil die Bundesregierung mit eben diesen Tests eine "epidemische Lage von nationaler Tragweite" begründet. Die Bundesländer und die kommunalen Gesundheitsämter können danach praktisch schalten und walten wie sie wollen, Betroffene haben kaum eine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Denn auch die Gerichte legen ihren Urteilen eben jene Gefahrenprognose des RKI zugrunde.

Das eiserne Festhalten der Behörde an ihrer Einschätzung vom März, wonach die Gefahr "weiterhin hoch, für Risikogruppen sehr hoch" sei, ist auch deshalb fraglich, weil es bereits zahlreiche neue Studien gibt, die man offenkundig völlig ignoriert. Diese lassen nicht nur auf eine sehr viel niedrigere Sterblichkeitsrate als anfangs angenommen schließen. Sie geben auch Hinweise darauf, dass in der Bevölkerung eine mehr oder weniger ausgeprägte Immunität gegen das Virus besteht, und zwar ausgelöst durch den Kontakt mit anderen Coronaviren, die seit langem saisonal auftreten. Das könnte unter anderem erklären, warum so viele positiv Getestete keinerlei oder nur sehr milde Symptome aufweisen.

In ihrer im Juli vorveröffentlichten Studie fanden Forscher der Universität Tübingen beispielsweise heraus, dass 81 Prozent ihrer Testprobanden eine Kreuzreaktivität gegen SARS-CoV-2 aufwiesen, obwohl sie daran noch nie erkrankt waren. Sie untersuchten dabei nicht die Antikörper, von denen immer wieder die Rede ist, sondern sogenannte T-Zellen, also Killerzellen, die das neue Coronavirus erkennen und bekämpfen.

Auch Forscher des schwedischen Karolinska-Instituts und der Universität in Miami kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Ihren Expertisen zufolge ist die T-Zellen-Immunität gegen das neue Corona-Virus deutlich gängiger als Antikörper und auch bei nicht Infizierten nachzuweisen.

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Die Studien zur Immunität sind dem RKI nach eigenen Angaben nicht bekannt. SARS-CoV-2 sei "ein neuartiges, pandemisches Virus; ohne Infektionsschutzmaßnahmen kann es sich rasch und unkontrolliert ausbreiten", wiederholt das Bundesinstitut wie ein Mantra und fügt an, was man aus dessen Gefahrenanalyse schon kennt: "Daher sei davon auszugehen, dass es in der breiten Bevölkerung praktisch keine Immunität gibt".

Ob es Kreuzreaktionen wegen anderer Coronaviren gebe, sei derzeit noch unklar, so die Sprecherin weiter. Dann schrieb sie über Antikörperstudien, obwohl es in den benannten Fachexpertisen nicht um diese, sondern die T-Zellen-Immunität geht. "Das RKI und andere untersuchen den Antikörperstatus und eine eventuell damit verbundene Immunität in verschiedenen Studien", erklärte sie.

Und mithin, so führt die Behördensprecherin weiter aus, sei ihr Institut nicht verantwortlich für politische Entscheidungen – egal ob massenhafte Isolierungen von Gesunden, Entmündigung von Alten und Kranken in Pflegeheimen und Kliniken, Zwangstests, Demonstrationsverbote, widersprüchlichste Auflagen und Maskenpflicht bereits für Schulkinder. Das, so heißt es, sei "Aufgabe der Länder und Gesundheitsämter". Letztere unterstehen den Landkreisen und kreisfreien Städten – von denen es bundesweit über 400 gibt. Es existiert also nicht einmal eine einheitliche Praxis.

Dennoch berufen sich die kommunalen Behörden auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG), dessen zu Beginn der Pandemie novellierte Notstands-Paragrafen sich wiederum auf die RKI-Analyse stützen. So erklärten es gegenüber der Autorin mehrere Ämter in Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern auf Nachfrage zu bestimmten Vorfällen. Man dreht sich im Kreis, Journalisten landen unweigerlich in einer Schleife der organisierten Verantwortungslosigkeit. 

Alle(s) für die Gesundheit der Bevölkerung – Wirklich?

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Zum Beispiel, dass es vielleicht auch um Interessen diverser Kapitalfraktionen gehen könnte. Die dürften vor allem darin bestehen, sich der mittelständischen Konkurrenz zu entledigen, um im Gesamtspiel sinkende Profite auf ihre Konten umzuleiten. Wenn die Zeiten härter werden, greift das Kapital eben gerne auf brachiale Methoden zurück – vor allem zulasten der Ärmsten.

Und wie man weiß, wimmelt es von Beraterfirmen, die mit "Expertenteams" in Regierungspalästen ein- und ausgehen, Gesetze im Sinne von Konzernen und Banken verfassen, auch gerne mal die eine oder andere "Anerkennung" an Parteien oder Einzelpolitiker springen lassen. Nun, jedenfalls ist es unwahrscheinlich, dass der deutschen Regierung und anderen gerade just die Gesundheit der "kleinen Leute" so sehr am Herzen liegt.

Wäre das so, wären ihr die Schicksale von Kriegs- und Armutsflüchtlingen, von Obdachlosen und verarmten Rentnern, von Hartz-IV-Beziehern und Straßenkindern, von Pflegern und Heimbewohnern, Behinderten und Niedriglöhnern nicht so herzlich egal, wie sie es bis heute sind. Eine angebliche plötzliche Umkehr der Herrschenden vom Saulus zum Paulus liegt schlicht außerhalb aller denkbaren Möglichkeiten.

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Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version des Artikels hieß es, dass 81 Prozent der Testprobanden einer Studie der Universität Tübingen eine Kreuzimmunität gegen SARS-CoV-2 aufwiesen. In der Studie ist allerdings von Kreuzreaktivität die Rede. Was das genau für die Immunität bedeutet, werde weiter untersucht. Wir haben die Textstelle entsprechend korrigiert.

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