Antony Blinken und der transatlantische Reset – Teil 2
von Rainer Rupp
(Teil 1 dieses Artikels finden Sie hier.)
Aber die USA haben laut Blinken mit einer durchdachten und gemäßigten "Reaktion" auf diese russische Aggression geantwortet. Da Russland und die Ukraine in Blinkens Zuständigkeitsbereich als stellvertretender US-Außenminister fielen, hat er diese Politik natürlich selbst formuliert. Die habe zum Ziel, die Verbündeten zu beruhigen und die Verlässlichkeit der USA in der NATO zu unterstreichen. Zugleich habe sich die US-"Reaktion" überhaupt nicht gegen Russland selbst gerichtet, sondern sie diene nur der Wiederherstellung der Lage vor der Krise. Wörtlich sagte Blinken:
"Um unsere Zusicherungen gegenüber der NATO zu unterstreichen, haben wir sehr eng mit unseren wichtigsten Partnern zusammengearbeitet. Wir haben nicht nur viel Geld investiert, sondern wir arbeiten auch daran, seit dem Ausbruch der Krise eine nahezu konstante (militärische) Land-, See- und Luftpräsenz in den (baltischen) Frontstaaten zu schaffen. Wir versuchen, Russland (für seine Aggression) hohe Kosten aufzuerlegen, um Putin von einem Kurswechsel zu überzeugen. (…) Aber lassen Sie mich das ganz deutlich sagen, denn es ist wichtig! Der Zweck dieser Reaktion bestand nicht darin, Russland zu schwächen. Es ging nicht darum, eine Farbrevolution zu schüren. Es ging nicht darum, Wladimir Putin zu stürzen, sondern Russland einfach davon zu überzeugen, seine Aggression in der Ukraine einzustellen."
Bei so viel Zurückhaltung der USA und ihrer Sorge um Sicherheit und Stabilität in Europa können auch wir Deutschen getrost die Augen schließen und unseren Kopf in den Schoß der US-NATO legen, die sich selbst als die "erfolgreichste Friedensorganisation der Weltgeschichte" anpreist. Aber damit gibt sich Blinken nicht zufrieden, denn jetzt läuft er mit einem Griff in die Trickkiste der Demagogie zur Hochform auf, nämlich indem er vorgibt, auf die Kritiker der US-NATO-Politik einzugehen und sogar ein gewisses Verständnis für die russische Sicht der Dinge und deren Gefühl von Bedrohung durch die NATO aufzubringen.
All dies geschieht natürlich nur, um direkt anschließend zu "beweisen", dass die russische Führung natürlich falschliegt, weil sie die auf dem Wertekanon des Westens basierenden Aktionen der NATO falsch interpretiert oder aber böswillig falsch verstehen will, um mit Propaganda die Bevölkerung gegen die NATO aufzuhetzen. Weiter im O-Ton Blinken:
"Nun, wie Sie alle sehr gut wissen, haben sich zwischen Russland einerseits und den Vereinigten Staaten und Europa und dem Westen andererseits konkurrierende Narrative darüber herausgebildet, was in den letzten 15 oder 20 Jahren passiert ist und was unsere (westlichen) Absichten sind – und was nicht. Und es gibt eindeutig ein russisches Narrativ, dass wir Russland verkleinern wollen, darauf aus sind, es einzukreisen, darauf aus sind, es einzudämmen, und dass wir darauf aus sind, wie ich bereits sagte, sogar eine Farbrevolution zu schüren. (…) Und wenn ich die Dinge aus russischer Sicht betrachte, dann verstehe ich, dass bestimmte Dinge in den letzten 20 Jahren passiert sind, die diese Wahrnehmung nähren könnten. Die NATO-Erweiterung könnte es wohl sein. Ich würde allerdings argumentieren, dass die (NATO-Erweiterung) anders gesehen werden sollte, aber ich verstehe, wie die Russen das sehen können. Oder der (US-)Rückzug aus dem Anti-Ballistischen Raketenvertrag (ABM) – ich verstehe sicherlich, dass das einen solchen Eindruck in Russland erzeugen könnte."
Aber wie zu erwarten, liegen die Russen mit ihrer Wahrnehmung der USA und NATO laut Blinken vollkommen daneben. Denn der Westen, allen voran die USA, hätten seit Jahrzehnten alles versucht, Russland dafür zu gewinnen, Teil der US-geführten neoliberalen Weltordnung zu werden und deren Hilfsorganisationen beizutreten. Das russische Volk hätte daraus großen Nutzen ziehen können, unterstellt Blinken. Solche Versprechen der neoliberalen Globalisierer wurde nach 1990 auch den Völkern Osteuropas gemacht. Aber nach deren Integration in die "liberale Ordnung" sind große Regionen der erweiterten EU bezüglich des Lebensstandards der Massen, der Gesundheitsversorgung, Bildung und vielem mehr auf das Niveau von Entwicklungsländern zurückgefallen.
Aber weiter mit Blinken, der nun aufzählt, was die USA und der Westen alles getan haben, um Russland an Bord ihrer auf "Regeln basierenden liberalen Ordnung" zu holen.
Tatsache ist, dass wir, die Vereinigten Staaten und Europa, in den letzten 20 Jahren gemeinsam versucht haben, genau das Gegenteil (dessen, was die Russen dem Westen unterstellen) zu tun. Wir haben versucht, Russland hereinzubringen. Wir haben versucht, Russland in das internationale System zu integrieren."
Und dann zählt Blinken eine ganze Reihe von Organisationen und Formate auf, in die Russland in den 1990er-Jahren auf Betreiben des Westens aufgenommen wurde oder werden sollte, wie z. B. 1994 die "Partnerschaft für den Frieden", 1996 die Mitgliedschaft im "Europarat", 1999 das "NATO-Russland-Gründungsgesetz" und die "Charta für europäische Sicherheit" der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Nicht zuletzt – so betonte Blinken – sei "Präsident Obama Russlands größter Fürsprecher für den Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) gewesen".
Die oben erwähnten sicherheitspolitischen Organisationen und internationalen Formate dienten dem Westen in den 1990er-Jahren zur Einbindung Russlands unter Präsident Jelzin. Aber als wenige Jahre nach der Wahl von Präsident Putin deutlich wurde, dass Russland unter seiner Führung wieder einen eigenständigen politischen Kurs fahren würde, haben die oben genannten Organisationen jede Gelegenheit genutzt, um Russlands unabhängiger Entwicklung Knüppel zwischen die Wege zu werfen.
Auch von der WTO, in der Russland 2012 Mitglied geworden war, hat das Land nicht profitiert, im Gegenteil, wovon vor allem die Entwicklung im Agrarsektor zeugt. Zudem hat der Westen, angeführt von den USA, seit dem Maidan-Putsch in der Ukraine im Jahr 2014 einschneidende und bis heute geltende Handelssanktionen gegen Russland verhängt, die die angeblichen WTO-Vorteile erst recht ad absurdum führen.
Kommen wir zu Blinken zurück, der gegen Ende seiner Rede in Bezug auf die Ukraine-Krise sagt:
"Wir haben daran gearbeitet, dass die Diplomatie aufrechterhalten wir, weil wir nicht glauben, dass es eine militärische Lösung des Konflikts gibt. Wir haben wiederholt versucht, Präsident Putin das zu geben, was wir als 'Off-Ramp' bezeichnen. Wenn Sie auf der Autobahn fahren und es eine Ausfahrt gibt, das nennen wir 'Off-Ramp'. Leider hat er jedes Mal, wenn wir daran gearbeitet haben, ihm eine Off-Ramp gezeigt haben, das Gaspedal gedrückt und ist direkt daran vorbeigefahren."
"Bei all dem sind wir – die Vereinigten Staaten und Europa – trotz Putins besten Bemühungen, uns zu spalten, vereint geblieben. Das war wahrscheinlich unsere größte Kraftquelle. Das ist die positive Seite der Bilanz. Auf der negativen Seite steht die Realität, dass der Konflikt weitergeht. Und anstatt daran zu arbeiten, ihn zu beenden, heizt Russland ihn seit Kurzem weiter an."
"Zum Teil denke ich, (…) gerade weil Präsident Putin keine wirtschaftliche Trumpfkarte in der Hand hält, um sie für sein Volk auszuspielen, weil er die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Menschen nicht befriedigen kann, steht ihm nur eine einzige andere Karte zur Verfügung, die des Nationalismus. Das funktioniert kurzfristig. Es lenkt die Menschen ab. Und das sieht man an seiner Popularität und seinen Zustimmungswerten."
"Aber das Problem beim Spielen der nationalistischen Karte ist, dass man sie immer weiterspielen muss, denn in dem Moment, in dem man aufhört, fangen die Leute an, sich umzusehen und zu erkennen, dass die Dinge nicht so gut laufen. Und das ist eine sehr gefährliche Dynamik, nicht nur für Russland und Putin, sondern auch für uns, denn wie bricht man daraus aus? Wie können wir Anreize für Russland und für Präsident Putin schaffen, um den Kreislauf der Provokationen zu stoppen, den er braucht, um die Unterstützung im eigenen Land aufrechtzuerhalten? Und mit diesem Problem kämpfen wir gerade."
Diese von Blinken schon 2015 vorgegebene Sichtweise auf Russland im Allgemeinen und auf die Ukraine-Krise im Besonderen ist inzwischen fester Bestandteil der offiziellen Verlautbarungen der westlichen politischen Eliten und ihrer Propagandisten in den selbst ernannten Qualitätsmedien geworden, nicht nur in den USA und ihren NATO-Vasallenstaaten, sondern auch in Ländern wie der "neutralen" Schweiz. Die Neue Züricher Zeitung, eine weit über die Grenzen der Alpenrepublik renommierte Zeitung, hat z. B. vor wenigen Tagen am 12. Februar einen ausschweifenden Hetzkommentar gegen Russland und Putin losgelassen, in dem sich der Autor Andreas Ruesch genau der Bilder und Sichtweisen bedient, die Blinken in Berlin 2015 so eloquent vorgetragen hat.
In seinem NZZ-Kommentar belächelt Ruesch z. B. das von Putin verbreitete "Märchen über die Umzingelung durch den heimtückischen Westen", eine Mär, die wegen der angeblichen Wirtschaftsmisere im Land bei der Bevölkerung, vor allem bei jungen Leuten, nicht länger greift. Weiter behauptet Ruesch, dass der durch die "Enthüllungen" Nawalnys "gedemütigte und offen an den Pranger gestellte Putin keinen anderen Weg mehr sah, als jede Fassade von Rechtsstaatlichkeit fallenzulassen und mit roher Gewalt durchzugreifen".
Der NZZ-Kommentator kommt schließlich zu dem Schluss, dass "Europa und Amerika durch das Abgleiten Russlands in eine offene Diktatur vor enorme Herausforderungen gestellt wird. Zum einen wächst die Gefahr, dass der Kreml seine Schwäche mit außenpolitischen Abenteuern zu überdecken versucht. Zum andern ist endgültig klar, dass 'Eselsgeduld' mit Putin – ein Ausdruck des deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger – nicht ans Ziel führt. Der Westen muss dem Kreml entschlossener entgegentreten und ihm Kosten für sein aggressives Verhalten auferlegen", weshalb der Autor mehr Sanktionen gegen Russland fordert.
Heute sehen wir, dass die von Blinken geschaffene Argumentationslinie zu Russland und dem Maidan-Putsch in der Ukraine zum festen Bestandteil des ideologischen und propagandistischen Marschgepäcks der neoliberalen Krieger für die US-geführte "Weltordnung" geworden ist. Zugleich verfehlen Blinkens Argumente nicht ihre Wirkung auf all jene Europäer, die immer noch an die Vereinigten Staaten als weltweiter Verteidiger von Demokratie und Menschenrechte glauben wollen, nachdem sie von Donald Trump zutiefst verunsichert worden sind. Daher ist Blinken ganz nach dem Geschmack der deutschen Transatlantiker, wie z. B. seines deutschen Amtskollegen Heiko Maas, der nicht nur im Vergleich zu Blinken ein Leichtgewicht ist.
Blinken hat das Zeug, zumindest bei einem großen Teil der europäischen Öffentlichkeit wenigstens einen Teil des unter Präsident Trump verloren gegangenen "guten" Rufs wiederherzustellen. Das stellt auch für die transatlantischen Eliten hierzulande eine große Erleichterung dar, denn auch sie brauchen dann nicht mehr um ihren guten Ruf zu bangen, wenn sie wieder ganz offen mit dem neoliberalen Leitwolf USA auf die globale Jagd nach lukrativen Schnäppchen gehen und sich an "humanitären" Kriegen beteiligen. Im Vergleich zu Trumps letztem Außenminister, dem groben Klotz Mike Pompeo, ist in Person des fein ziselierten Blinken der internationalen Friedensbewegung ein gefährlicher Gegner entstanden.
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Das Video der Hertie-School-Veranstaltung mit Antony Blinken ist auf Youtube unter diesem Link abzurufen: https://www.youtube.com/watch?list=PLVyW-1uzF8DYvhEjssKbFxMBdpD77jDpG&v=KOwoAAdnRAs
Der Text von Antony Blinkens Vortrag, die Einführung von Wolfgang Ischinger und die Fragen und Antworten am Ende finden sich auf der Webseite des US-Außenministeriums unter diesem Link: https://2009-2017.state.gov/s/d/2015/238644.htm
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