Nebelkerzen der Macht um Acht: Auch in Mali den Finger am Abzug
von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Zwei Drittel der Deutschen sind gegen eine Ausweitung der Bundeswehr-Einsätze im Ausland. Im Prinzip sind Auslandseinsätze seit dem hochumstrittenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 zwar legal. Aber eine Mehrheit der Bürger hält trotzdem längst nicht alle der "Missionen" auch für legitim. Die deutsche Mitwirkung am Syrien-Krieg stößt sogar bei drei Vierteln aller Befragten auf Widerspruch – trotz der tendenziös im gegenteiligen Sinne formulierten Frage ("Falls Assad Chemiewaffen einsetzt").
Der Anteil jener Menschen, die einen Militäreinsatz im Ausland grundsätzlich ablehnen und für den vollständigen Abzug der Bundeswehr stimmen, liegt bei 39 Prozent. Dennoch wurde auf dem G7-Gipfeltreffen im August auf Betreiben des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel beschlossen, die militärischen Anstrengungen in der Sahel-Zone zu verstärken, speziell in Mali. Die Tagesschau unterschlug den deutschen Vorstoß gegenüber ihrem Fernseh-Millionenpublikum. Was auch sonst.
Deutschland ist also, entgegen dem Willen seiner Bevölkerung, aber auf Betreiben seiner Regierung, wieder mal dabei, "international mehr Verantwortung zu übernehmen." Solche schwülstigen Floskeln dienen hierzulande bekanntlich dazu, militärische Aggressionsakte zu beschönigen. Unter der propagandistischen Dunstwolke bilden sich Mehrheiten im Parlament, die sich um die Ansichten und Interessen ihrer Wähler genauso wenig scheren wie die Regierung Merkel selbst.
Wie es tatsächlich mit Deutschlands "Übernahme von Verantwortung" aussieht, hat der Umgang mit den Angehörigen jener mehr als 120 unbewaffneten Kinder und jungen Männer gezeigt, die vor zehn Jahren – am 4. September 2009 – auf Befehl des deutschen Obersts Georg Klein bei Kunduz in Afghanistan im Bombenhagel starben. Weder gab es Entschädigungsleistungen, noch auch nur eine formelle Bitte Berlin um Vergebung.
Bis heute wird die exakte Zahl der Opfer, ihr Alter und Status gemäß Genfer Konvention (Kämpfer oder Zivilisten?) verschleiert. Aber Klein, den viele für einen Kriegsverbrecher halten, wurde zum Brigadegeneral befördert; das Oberlandesgericht Düsseldorf lehnte eine Mordanklage gegen ihn ab.
Nun also haben unsere Vaterlandsverteidiger auch in Mali den Finger am Abzug. Kurz zur Vorgeschichte: Im Norden Malis hatte das Berbervolk der Tuareg 2013 einen Aufstand gegen die Regierung in Mali versucht, um seine staatliche Unabhängigkeit zu erzwingen. Die Waffen dafür kamen aus Libyen, jenem Land, das die NATO unter Führung Frankreichs, der USA und Großbritanniens vor acht Jahren ins Chaos gebombt hatte.
Die Tuareg verbündeten sich zunächst mit Al-Qaida (deren syrischer Zweig heißt bei ARD-aktuell übrigens "moderate Rebellen") und mit IS-Dschihadisten. Die Islamisten stellten sich aber bald gegen die Tuareg und begannen, ihre Einflusszone nach Süden in Richtung Bamako auszudehnen, Hauptstadt der "Republik Mali".
Daraufhin intervenierte Frankreich militärisch und versuchte, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Warum Frankreich? Weil es bis 1960 Kolonialmacht in dieser afrikanischen Region war ("Französisch-Sudan") und an fortgesetzter Ausbeutung interessiert ist: Das Gebiet ist reich an Bodenschätzen. Mit am wichtigsten: Uran, das von französischen Firmen in Mali abgebaut und von Frankreichs Atomkraftwerken dringend gebraucht wird. Formelle völkerrechtliche Grundlage der militärischen "Operation Serval" waren ein Hilfegesuch des malischen Präsidenten Keita und eine Resolution des UN-Sicherheitsrates.
Die IS-Dschihadisten und ihr terroristisches Gefolge ließen sich allerdings nicht mehr zerschlagen, nicht einmal von den "Spezialisten" der französischen Fremdenlegion, weder in Mali, noch in der gesamten Sahel-Region. Der "Operation Serval" folgte ein Jahr später die wesentlich umfangreichere französische Militärmission "Barkhane". In ihrem Rahmen wurden französische Soldaten sowohl in Mali als auch im Tschad dauerhaft stationiert.
Sie werden von einer "Eingreiftruppe" der Sahel-Anrainerstaaten Mauretanien, Mali, Niger, Tschad und Burkina Faso unterstützt, der sogenannten "G5-Sahel". Sie besteht aus 5.000 Soldaten, wird von der Europäischen Union finanziert und unter anderem von deutschen Soldaten ausgebildet. Ihr Auftrag ist es, genau besehen, einen spätkolonialistischen Stellvertreterkrieg zu führen.
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In Mali trainieren derzeit bis zu 350 Bundeswehrsoldaten die G5-Sahel-Armee. Das geschieht im Rahmen der EU-Ausbildungsmission EUTM. Doch damit ist Deutschlands Bereitschaft zu "internationaler Verantwortung" in Mali natürlich nicht erschöpft. Es ist noch über Minusma zu sprechen, die "Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali". Es handelt sich um ein sogenanntes "robustes Mandat", also um einen Kampfeinsatz. Den 11.000 Soldaten dieser Mission gehören rund 850 Deutsche an.
Minusma ist mit bisher 191 eigenen Toten einer der gefährlichsten UN-Einsätze weltweit. Die meisten Soldaten werden von westafrikanischen Staaten und von Bangladesch gestellt. Die Bundeswehr ist nicht unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt, sondern mit deren Vorbereitung befasst: Sie führt Aufklärungsoperationen durch. Die Hauptlast der Kämpfe wird von der französischen Armee getragen, wiederum entscheidend von Fremdenlegionären. Von einer Söldnertruppe, ganz wie zu Kolonialzeiten ...
Dass die Europäer auf der G7-Konferenz im August 2019 übereingekommen sind, "weitere Maßnahmen" in Afrika zu veranstalten, kam in den Fernsehnachrichten der Tagesschau für deren elf Millionen Zuschauer nicht vor. Einen Beitrag mit Feigenblatt-Funktion gab es am 25. August 2019 lediglich in der Internet-Nische tagesschau.de:
Frankreich will gemeinsam mit Deutschland und der Rückendeckung der G7 den fünf Ländern der sogenannten Sahelzone Hilfe im Kampf gegen Terrorismus und Instabilität anbieten. In Mauretanien, Mali, Niger, Burkina Faso und Tschad im Süden der Sahara hatte es zuletzt viele Terrorattacken gegeben. In einigen Regionen verlieren die Regierungen zunehmend die Kontrolle.
Was sollte das denn nun konkret heißen? Welche Art Hilfe im "Kampf gegen den Terrorismus"? Zu welchen Kosten? Von wem in welchen Anteilen zu begleichen? Welche Rolle spielt die Bundeswehr? Der informatorische Anspruch dieses Tagesschau-Artikels ist gleich null. Aber, so die ersichtliche Tagesschau-Logik, wir können/wollen/dürfen es ja nicht besser machen und mehr Substanz bieten, als unsere liebe Bundeskanzlerin es in ihren bekannt gehaltvollen Ansprachen fürs Volk vormacht:
Wir haben erhebliche Bemühungen, um die Entwicklung voranzubringen, aber gleichzeitig eine sich verschlechternde Sicherheitslage und wir wissen: Entwicklung ohne Sicherheit ist nicht möglich. Deshalb müssen wir die Sicherheit stärken. (ebd.)
Toll. Was die Gute alles weiß. Ausreichend viele Phrasen und leere Allgemeinplätze hat sie in dieser Darbietung drin: "Entwicklung voranbringen". "Verschlechterte Sicherheitslage". "Sicherheit stärken". Die Kanzlerin bewegt sich stets auf plattem Niveau, wenn sie das ihr unangenehme Thema "Kriegseinsätze der Bundeswehr" öffentlich zu behandeln hat:
Aber unsere Sicherheit hängt auch davon ab, wie es in anderen Regionen der Welt aussieht. Und deshalb beteiligen wir uns an Auslandseinsätzen mit der Bundeswehr. Aber nie isoliert, sondern es geht uns im Kern um die Lösung von Krisen oder die Vorbeugung, dass bestimmte Krisen gar nicht erst entstehen.
Der "Sprechblasenautomat im Hosenanzug" (Formel des Kabarettisten Volker Pispers) hat eben die Erfahrung gemacht, dass man die Qualitätsjournaille mit solchen Nullnummern erfolgreich abspeisen kann. Die Tagesschau fragt nicht nach, was der Quatsch denn soll.
Die Redaktion fragt nicht, was die Bundeswehr in Mali, einem der ärmsten Länder der Welt, in den sechs Jahren ihres Engagements seit 2013 denn eigentlich geleistet hat. Sie konfrontiert die Kanzlerin nicht mit der Tatsache, dass die Europäer trotz riesigen materiellen Aufwandes die Verhältnisse im Sahel keinen Deut verbessert haben.
Für die Ursachen dieser politischen Pleite interessieren sich unsere Pseudo-Aufklärer nicht. Weder ARD-aktuell noch die Kanzlerin verlieren auch nur ein Wort darüber, was eigentlich das besondere deutsche Interesse sein könnte, sich in einer abgelegenen Region wie der Sahelzone mit deutschem Militär und hunderten Millionen Euro zu engagieren. Dabei wäre das doch die erste und wichtigste Frage, die es zu beantworten gälte.
Wir müssen schon wieder die alte Platte des Rundfunkstaatsvertrages auflegen:
Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale ... Geschehen ... zu geben.
ARD-aktuell erfüllt diesen Auftrag nicht, sondern liefert nur Zumutungen, umkränzt von O-Tönen der Kanzlerin. Man muss, wie so oft, außerhalb der ARD-aktuell-Nachrichtenangebote nach Informationen suchen, wenn man sich ein halbwegs qualifiziertes Urteil bilden will. Im Internet. Am 13. April 2016 hieß es im Antrag der Bundesregierung zur Beschlussfassung im Bundestag:
Das deutsche Engagement in Mali bringt (...) in einem ressortübergreifenden Ansatz Mittel deutscher Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik komplementär zum Einsatz, um das Ziel eines langfristig stabilen, demokratischen, entwicklungsorientierten und in die Region eingebetteten Staates zu erreichen.
Auch noch reichlich kryptisch, immerhin aber etwas angereichertes Merkel-Niveau. Drei Jahre später, am 3. April 2019, zwar schwülstig wie gehabt, aber schon einigermaßen deutlich:
Ziel ist es, perspektivisch zur Festigung staatlicher Strukturen beizutragen, innere Sicherheit zu fördern, und die malische Regierung dabei zu unterstützen, der Bevölkerung politische und wirtschaftliche Perspektiven zu bieten und damit die Lebensumstände der Menschen in Mali zu verbessern sowie ein verbessertes Management von Flucht und Migration zu unterstützen, einschließlich der Minderung von Flucht- und Migrationsursachen.
Der CDU-Abgeordnete Dr. Volker Ullrich hielt sich an die Sprachregelung bei militärischen Auslandseinsätzen. An den sprachlichen Schleiertänzen beteiligen sich im Bundestag auch die Sprecher von CSU, SPD, Grüne und FDP (die Redner der Linken und der AfD scheren hingegen gerne mal aus):
Mit der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Mali übernehmen wir eine besondere Verantwortung. Wir tun das deswegen, weil diese Stabilisierungsmission mit über 50 teilnehmenden Nationen und über 11 000 Soldaten in internationale Verantwortung eingebettet ist. Die Verantwortung ergibt sich aber auch daraus, dass dieser Einsatz anspruchsvoll und gefährlich ist. Und doch ist er notwendig und verantwortbar, weil (...) wir eine Verantwortung für Westafrika und die Sahelzone insgesamt haben.
Wir können nicht auf der einen Seite von mehr Verantwortung (...) und von der Stabilisierung von staatlichen Strukturen sprechen und auf der anderen Seite dann nicht bei diesem wichtigen Einsatz dabei sein. Es geht um die Durchsetzung von Menschenrechten, um die Stabilisierung der Zivilgesellschaft und letzten Endes auch darum, Verhältnisse in der Sahelzone zu schaffen, die das Leben der Menschen dort besser machen. (ebd.)
Solche blumigen Wortgirlanden sind typische Parlaments-Heuchelei: "Wir" sind demnach aus zutiefst altruistischen Gründen und purer Barmherzigkeit auch in Afrika mit unserem Militär unterwegs. Dessen "Mission": der dort in bitterster Armut lebenden Bevölkerung zum Menschenrecht nach unserem Bilde verhelfen. Unsere edle Gesinnung, demonstriert mittels Panzerfahrzeugen, "Heron"-Drohnen und automatischen Schnellfeuerwaffen, ist gefestigt im weltberühmten deutschen Demokratiemodell, dem Nonplusultra gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Mit solchen Kisten unterm Arm laufen Journalisten ins deutsche Publikum und reichen, schön verpackt, klassischen Chauvinismus durch. Sie helfen, das Machtstreben unserer Eliten und deren Profitinteressen an Bundeswehreinsätzen zu verdecken, statt sie aufzudecken.
Der CDU-Bundestagsabgeordneten Ursula Groden-Kranich blieb es vorbehalten, zur reaktionären Sache zu kommen. Sie bekannte unter Beifall der Union und der SPD, Zweck des Militäreinsatzes sei es, "Fluchtursachen" zu bekämpfen. Scham darüber, dass das Militär nicht die Ursachen der Flucht zu bekämpfen hat, sondern die Flucht, und dass sie sich mit dieser Argumentation offen auf dem Terrain der AfD bewegte, empfand diese Rednerin ersichtlich nicht:
Zudem ist es ein wichtiges Ziel, irreguläre Migration zu begrenzen und den Schleppern in Afrika keine neue Fluchtroute zu eröffnen. Was nicht geht: mehr Stabilität in Afrika wollen, Fluchtursachen bekämpfen wollen, Teil eines starken Europas in der Welt sein wollen, aber gleichzeitig immer vor Verteidigungsausgaben zurückschrecken und die Gefährlichkeit von Auslandseinsätzen zu beklagen, das ist verantwortungslos. (ebd.)
Wollen unsere "Volksvertreter" wirklich und aufrichtig Verhältnisse in der Sahelzone schaffen, die das Leben der Menschen dort besser machen? Wenn das die Absicht wäre, dann allerdings gäbe es wirkungsvollere und humanere Verwendungsmöglichkeiten für die Euromillionen, die Deutschland jährlich für Militäraktionen in Mali verpulvert. Aktionen, die das Leben von Menschen beenden, nicht besser machen. In einem Land, in dem jeder zweite Einwohner mit weniger als 1,25 US-Dollar (1,13 Euro) pro Tag auskommen muss.
Der Bundeswehreinsatz in Mali kostet jährlich mindestens netto 350 Millionen Euro. Zwischen 2015 und 2017 wandte Deutschland dagegen insgesamt nur 73 Millionen Euro zur Unterstützung ziviler Projekte in Mali auf, also rund 25 Millionen Euro jährlich im Schnitt. Mit anderen Worten: 7 Prozent der Summe der Militärausgaben. Oder: 14 Mal mehr fürs eigene Militär als für zivile Hilfe zugunsten der Einheimischen.
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Das ist das Grundmuster der deutschen Politik zur Hebung der Lebensqualität in Mali. Wer seine fünf Sinne noch beisammen hat, kann die Diskrepanz zwischen den selbstgerechten und moralisierenden Sprechblasen der parteiübergreifenden Kriegsfraktion im Reichstag und den realen Folgen ihrer politischen Schamlosigkeit nicht übersehen. Das Missverhältnis von ziviler zu militärischer Unterstützung offenbart niedrige Gesinnung.
Mali ist ein neoliberal beherrschtes Land. Seine 18,5 Millionen Einwohner werden mit "Reformprogrammen" der Weltbank drangsaliert, mit fragwürdigen Privatisierungen überzogen und permanent angehalten, ausländischen und malischen Privatinvestoren profitträchtige Marktanteile zu verschaffen.
Interessant für die "westliche Wertegemeinschaft" sind die Bodenschätze des Landes, und beim Blick darauf wird die ganze Heuchelei des Westens und seiner demokratischen Politmoralisten sofort sichtbar: Mali exportiert jährlich Gold für rund 2,31 Milliarden Euro. Der Goldverkauf umfasst 62 Prozent des gesamten Exports. Mali ist damit nach Südafrika und Ghana der drittgrößte Goldlieferant der Welt.
Allerdings bleibt nur relativ wenig vom Ertrag der Goldminen im Lande. Es sind internationale Konzerne wie der US-Finanzinvestor Randgold Resources Ltd. mit Sitz im europäischen Steuerparadies Jersey, die sich die Taschen füllen. Dem malischen Staat bleiben weniger als zwanzig Prozent des Gewinns der Goldbergwerke. Dieser magere Anteil stellt jedoch schon die Mehrheit der gesamten Deviseneinnahmen des Landes dar.
"Verantwortung übernehmen, Menschenrechte durchsetzen"? Beschämend, dass deutsche Politiker angesichts der Lebenswirklichkeit in Mali solch leeres Stroh zu dreschen wagen. Wo sie aktiv werden könnten, lassen sie ihre Hände im Schoß: Menschenrechtsverletzungen der Behörden in Mali gegenüber Minenarbeitern sind an der Tagesordnung. Informationen über Tote bei Hungerstreiks wegen ausstehender Löhne, über staatliche Repression, mit der jeglicher Protest gegen das Elend erstickt wird, oder über die Folter in den Gefangenenlagern, liefern die deutschen Leit- und Konzernmedien allerdings nicht.
Schon gar nicht gewährt uns die Tagesschau einen Blick auf diese Seite des Alltags in Mali. Hinweise, dass unser prachtvoller Außenminister wegen der Menschenrechtsverletzungen in Bamako vorstellig geworden ist, gibt es ebenfalls nicht. Nachfragen im Bundestag? Fehlanzeige. Anfragen der Tagesschau-Redaktion? Dito. Die Sendung "Tim Mälzer kocht" wäre informativer.
ARD-aktuell verschweigt natürlich auch, dass der von der Bundeswehr logistisch unterstützte "Anti-Terror-Einsatz" des französischen Militärs ("Barkhane") vor allem dazu dient, die für die französische Elektrizitätswirtschaft lebensnotwendigen Uran-Lieferungen aus dem benachbarten Niger sicherzustellen. Dazu schrieb die Wirtschaftswoche gleich zu Beginn der deutsch-französischen Intervention:
Die einzigen bekannten und strategisch wichtigen europäischen Interessen in der Region sind die Uran- und Ölvorkommen in Mali und die französischen Uranminen im angrenzenden Niger. Frankreich hängt als Atommacht und Atomstromland stark von der Versorgung mit Uran ab. Ein Drittel seines Uranbedarfs bezieht Frankreich aus dem Niger. Um die weitere Destabilisierung des Landes zu verhindern, greift Frankreich jetzt in Mali ein.
Das ist Klartext. Frei von Moralgesäusel über Hilfe zum Schutz der Menschenrechte und über die angebliche "Bekämpfung von Fluchtursachen". Noch deutlicher heißt es in einem Kommentar der Wirtschaftswoche vom 17. Januar 2013:
Es geht beim Krieg in Mali, wie bei fast jedem Krieg auf dem afrikanischen Kontinent, um Rohstoffe und natürlich um politische Einflussnahme.
Auch die Konrad-Adenauer-Stiftung räumte ein:
Zudem leiden deutsche und europäische Investoren unter der Krise. Beispielsweise brach der Kurs der Frankfurter Investmentgesellschaft Pearl Gold, die an einem malischen Gold-Unternehmen beteiligt ist, nach dem Militärputsch im März 2012 um 25 Prozent ein. Die Lösung der Sahelkrise liegt daher im ureigenen Interesse Europas und Deutschlands.
Danke, werte Adenauer-Stiftung! Jetzt hat es vermutlich fast jeder geschnallt: Deutsche Politik folgt keiner Moral, sondern dient Interessen.
Bis die Tagesschau-Redakteure das kapieren, dauert es vermutlich aber noch. Bis sie es dann auch sagen dürfen – welch unrealistische Voraussetzung! – werden sie ihr Publikum weiter mit dem Politikergewäsch über deutsche Verantwortung in Afrika belästigen, wenn von spätkolonialistischer Ausbeuterei die Rede sein müsste.
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Zum Kaschieren dieser Inhumanität kam es den Europäern sehr gelegen, dass die Vereinten Nationen ein Mandat für den Einsatz von Blauhelmen vergaben. Die französischen Militärschläge erhielten damit einen völkerrechtlichen Tarnanstrich und fanden auch deshalb Akzeptanz, weil sie sich zunehmend gegen terroristische Dschihadisten richteten. Der Kampf gegen aI-Qaida und den IS rechtfertigt bekanntlich vieles.
Fein säuberlich und gediegen doppelzüngig unterscheidet der Werte-Westen allerdings zwischen "guten" und "bösen" Dschihadisten. Üben sie ihr mörderisches Handwerk in Syrien aus, werden sie wohlwollend "moderate Rebellen" genannt und heißen in der Tagesschau auch schon mal "bewaffnete Opposition". Sie dürfen sich sogar fingierte Giftgasanschläge herausnehmen, weil der Westen die dann der syrischen Armee in die Schuhe schieben kann. Werden die Kopfabschneider aber in Afrikas Ölfeldern aktiv, also in "unserem" Vorgarten, dann läuten in Europa die Alarmglocken.
Die Tagesschau lässt bei ihrer Berichterstattung davon aber nichts merken. Was erfährt die deutsche Öffentlichkeit tatsächlich aus der Wunderlampe im Wohnzimmer über die Vorgänge in den Staaten der Sahelzone? Weiß sie, welche Risiken mit dem militärischen Einsatz nicht nur der eigenen Truppen in der Region genau verbunden sind?
Ein herausragendes Beispiel für journalistische Verschwiegenheit: Laut Aussage der Verteidigungsministerin Florence Parly hat die französische Armee seit dem Sommer 2014 im Rahmen ihrer "Operation Barkhane" 450 Dschihadisten getötet. War unter diesen 450 Toten wirklich kein "Kollateralschaden"? Kein Opfer des Zufalls?
Es wird zwar über einige besonders grausige Massaker berichtet, angeblich angerichtet von den Terroristen, aber nur im sensationsgeilen Boulevard-Stil: ohne Hintergründe, oft ohne jede substanzielle Aussage über die Täter. Deshalb ist auch kaum bekannt, dass als Täter keineswegs immer nur islamistische Terroristen von Al-Qaida und dem IS zu nennen wären, sondern dass sich an den furchtbaren Verbrechen auch "Selbstverteidigungsgruppen" diverser malischer Stämme beteiligen und manchmal sogar Uniformierte. Wer sie sind, ist nicht klar, in wessen Auftrag sie morden, erst recht nicht: bewaffnete Islamisten, Kriminelle, ausländische Söldner?
Auch die von der Bundeswehr ausgebildeten malischen Soldaten fallen wegen brutaler Gewalttaten auf, und darüber schweigt sich die Tagesschau ebenfalls aus. Im vergangenen Jahr hatte eine zur Truppe der G5-Sahel gehörende Einheit der malischen Armee zwölf Zivilisten in der Grenzstadt Boulikessi in Burkina Faso "willkürlich exekutiert", wie es in einem Bericht von Minusma heißt. Das Massaker war ein Racheakt für einen Anschlag, bei dem ein malischer Soldat zu Tode gekommen war.
Ein Abgeordneter der Linken resümierte im Bundestag:
Schon zuvor haben UN-Ermittler über ähnliche Vorkommnisse berichtet: Malische Soldaten hätten Häuser angezündet, Zivilisten gekidnappt und erschossen ... Außerdem wird in 44 Fällen von außergerichtlichen Hinrichtungen durch malische Soldaten ermittelt (...) Wenn die Bundeswehr Soldaten ausbildet, die so handeln, dann trägt auch Deutschland Mitverantwortung für deren Opfer, (...) dann (haben wir) aber doch auch Verantwortung für Konsequenzen.
Seine Ausführungen hinterließen bei der überwältigenden Mehrheit des Bundestages keinen Eindruck.
Der Regierungsfunk ARD-aktuell schwieg zu den Übergriffen der Bundeswehr-Partner erwartungsgemäß ebenfalls. Ein Grund für diesen Konformismus: Harte Fakten über die Bundeswehr-"Mission" in Mali könnten die Verachtung und Ablehnung noch weiter steigern, die der deutsche Durchschnittsbürger für den Politikbetrieb im Reichstag empfindet. Die Ablehnung von Bundeswehreinsätzen im Ausland könnte noch weiter zunehmen.
Während Deutschland und Europa ihr "Engagement für mehr Sicherheit und Stabilität" stetig ausgebaut haben, vervielfachte sich die Zahl der Toten bei Terroranschlägen und bei Gefechten zwischen Milizen und Sicherheitskräften im Sahel. Im Jahr 2012 waren es 587, voriges Jahr bereits fünfmal so viele: 2.868. In diesem Jahr sind schon mehr als 3.200 Menschen umgebracht worden. Wer aber fragt danach? Es sind doch meistens bloß Afrikaner, nicht wahr?
Auch geografisch breiten sich Gewalt und Unsicherheit weiter aus. Bis 2014 war praktisch nur der Norden Malis vom islamistischen Terror betroffen. Heuer hat das südlich gelegene Burkina Faso ebenfalls schon mehr als 1.000 Anschlagsopfer zu beklagen. Beide Länder haben die Kontrolle über weite Teile ihrer nördlichen und östlichen Grenzen und ländlichen Gebiete verloren. Niger und Tschad sind ebenfalls zunehmend von Gewalt betroffen.
In Mali und in den anderen Sahel-Staaten herrscht Chaos. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel, dass Europa daran seinen Anteil hat. Der Verteidigungsminister von Burkina Faso, Moumina Cheriff Sy, hat über die Ergebnisse der europäischen Militärpräsenz in der Region wenig Gutes zu sagen:
Sie haben vielleicht 4.000 Mann in der Region. Sie haben alle militärischen und technologischen Möglichkeiten. Wenn sie wirklich wollten, hätten sie die Terroristen besiegen können. Haben sie also eine andere Agenda?
Gute Frage. Sie hätte von der Tagesschau gestellt werden müssen. Kritischer Journalismus sowie der Informationsanspruch der Bürger verlangen es.
Die deutschen Grünen, also "Friedensaktivisten", die seit mehr als zwei Jahrzehnten auf dem Kriegspfad sind, haben bereits 2013 ihre Antwort gegeben. Die Abgeordnete Kerstin Müller erklärte:
(…) denn es ist in unserem außen- und sicherheitspolitischen Interesse und auch im Interesse der EU, die Afrika-Politik generell zu europäisieren. Auch darum geht es, und auch deshalb wird meine Fraktion beiden Mandaten zustimmen.
(Beifall von den Grünen sowie von Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD).
"Die Afrika-Politik generell zu europäisieren"heißt, sich an den Schätzen dieses Kontinents bereichern zu wollen. Wenn dieses widerwärtige Denken und Reden in Tablettenform vorläge, könnte man es als Brechmittel im Veterinärwesen einsetzen, es brächte sogar Pferde zum Kotzen.
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Das Autoren-Team:
Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang 1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.
Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 Mitarbeiter des NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1992 in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehrauftrag an der Fu-Jen-Universität in Taipeh.
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