Niemand bleibt zurück? Merkel-Regierung ignoriert Schicksal der Armen bei Corona-Krise
von Dagmar Henn
Vor fünfzehn Jahren traf der Wirbelsturm namens Katrina die Stadt New Orleans an der Ostküste der USA. Als sich abzeichnete, dass der Sturm die Stadt treffen würde, wurde keine Evakuierung organisiert, sondern der Bürgermeister Ray Nagin wies die Einwohner an, in ihre Autos zu steigen und die Stadt zu verlassen. Wer kein Auto hatte, blieb hilflos zurück. Corona in der Merkel-Republik, das ist wie Katrina in Zeitlupe.
Anders, als es viele Umfragen behaupten, zeigt die Reaktion der Bevölkerung, wie niedrig die Glaubwürdigkeit der Regierung tatsächlich ist. Es finden sich vor allem zwei Verhaltensweisen: Die eine ist panisch und signalisiert die Erwartung, im Stich gelassen zu werden. Die andere verleugnet das Risiko völlig und lässt dadurch erkennen, dass den offiziellen Aussagen nicht geglaubt wird. Kein Wunder, wenn erst wochenlang nicht gehandelt und Gefahrlosigkeit beschworen wurde, nur um dann in einer plötzlichen Kehrtwende das halbe Land lahmzulegen …
Im realen Handeln zeigt sich bei der Bundesregierung die gleiche Blindheit, die schon Ray Nagin auszeichnete – Menschen, die nicht wohlhabend genug sind, kommen in ihrer Wahrnehmung nicht vor. Inmitten einer Krise, in der das Wohl der gesamten Bevölkerung ausschlaggebend sein sollte, wird nicht nur bereitwillig das Füllhorn für die Stärksten – Industrie und Banken – geöffnet, es wird an den Punkten, an denen die wirkliche Katastrophe lauert, überhaupt nicht reagiert. Denn es gibt bereits Meldungen, die ein sofortiges Handeln erforderlich machen müssten, die mit Ignoranz und Passivität beantwortet werden: der weitgehende Ausfall der Essens-Tafeln.
Eineinhalb Millionen Menschen dieser Republik erleben ihren Alltag ohnehin in einer Art permanenten Notstands – sie sind auf Lebensmittel von den Tafeln angewiesen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Eigentlich dürften Tafeln gar nicht nötig sein, weil ja angeblich die Leistungen der Grundsicherung die Bedürfnisse decken. Ihre Existenz ist also schon täglicher Beleg dafür, dass diese Leistungen nicht ausreichen, und sie sind eine besondere Perversion, weil sich die Spender die Müllentsorgung sparen und dafür auch noch eine Spendenquittung erhalten.
Aber solche Einrichtungen passen in die neoliberale Weltsicht, nach der die Armen selbst schuld sind und die Reichen gut und edel, wenn sie ein paar Brosamen vom Tisch gleiten lassen. Momentan sind allerdings selbst diese Brosamen gefährdet, weil zum einen die Supermärkte keine Frischwaren mehr übrig haben, die sie entsorgen müssten, und zum anderen die Ausgaben der Tafeln durch Ehrenamtliche erfolgen, die selbst meist älter sind, also zu den Corona-Risikogruppen gehören. Das Ergebnis dieser Mischung ist, dass der Notnagel 'Tafel' weitgehend nicht mehr zur Verfügung steht und voraussichtlich in den nächsten Monaten auch nicht zur Verfügung stehen wird.
Eineinhalb Millionen Menschen, denen jetzt schon das Essen knapp wird? Sollte da nicht irgend etwas geschehen? Würde sich nicht genau daran zeigen, dass die Behörden alle Probleme im Blick haben? Tja, es zeigt sich das Gegenteil. Das höchste der Gefühle sind Bemerkungen, man möge auf Nachbarn achten …
Verelendung großer Bevölkerungsteile vorprogrammiert
Die Entwicklung bei den Tafeln deutet an, wo die Bruchpunkte liegen. Es ist nämlich unschwer zu erkennen, dass breite Teile der Bevölkerung keine Vorräte anlegen können, weil ihnen dafür die Mittel fehlen; in manchen Großstädten betrifft das jeden Dritten. Für viele Kinder in ärmeren Vierteln waren die Schulessen wenigstens eine Garantie auf eine tägliche warme Mahlzeit; jetzt, da die Schulen geschlossen sind, fällt auch diese minimale Absicherung fort. Kann sich irgend jemand auch nur an eine Debatte zu diesem Thema erinnern? Eine Bemerkung eines der politisch Verantwortlichen, die andeutet, dass das Problem erkannt wurde?
Die Vermögensstatistik der Bundesrepublik belegt, dass die Hälfte der Bevölkerung keine Reserven besitzt, auf die sie zurückgreifen könnte. Also keine Ersparnisse, die Zeiten des Mangels überbrücken, die etwa durch Kurzarbeit oder gar Entlassung in Folge der Corona-Bekämpfung ausgelöst werden. Drei Jahrzehnte massiver Umverteilung von unten nach oben machen sich sehr schnell bemerkbar, wenn zusätzliche Kosten anfallen oder das Einkommen noch weiter sinkt.
Die Meisten leben von der Hand in den Mund, selbst wenn sie sich nach wie vor aus Gewohnheit einreden, es ginge schon gut so. Insbesondere die Hartz-IV-Gesetze haben dafür gesorgt, dass die Reserven ganzer Familiennetzwerke ausgeblutet wurden, und viele nur ein Problem von einer Katastrophe entfernt sind. Wie viele solcher Probleme können auftreten in einer Phase des Stillstands, die sich über fünf oder sechs Monate hinziehen dürfte? Denn mit einem solchen Zeitrahmen muss gerechnet werden, will man das amtlich verkündete Ziel erreichen, die Kurve der Neuinfektionen zu verflachen.
Mangelnde Kapazitäten in den Krankenhäusern
Kurve verflachen bedeutet nämlich, dass die weitgehende Durchseuchung der Bevölkerung hingenommen wird, aber versucht werden soll, durch die Verringerung menschlicher Kontakte die Geschwindigkeit der Infektionsverbreitung und damit das Maximum der gleichzeitigen Erkrankungen abzusenken. Man muss sich das so vorstellen, als könnte man die Kurve in die Länge ziehen, wobei die unter der Kurve zu findende Fläche gleich bleibt (also die Gesamtzahl der Infektionen nach Zeitablauf).
Man kann so etwas in Grafikprogrammen ausprobieren, ohne sich gleich in Differentialrechnungen stürzen zu müssen – wenn der Gipfel nicht so weit oben liegt, wird der Zeitraum länger. Eine gründliche Berechnung am Beispiel Großbritannien lieferte das Imperial College am 16. März. In keiner der berechneten Varianten, egal welches Niveau an Einschränkungen zum jetzigen Zeitpunkt gewählt wird, bleibt der Gipfel unter der Schwelle maximal verfügbarer Intensivbetten.
Bei 28.000 Betten, die in Deutschland vorhanden sind, dürften nie mehr als 28.000 Menschen gleichzeitig so erkranken, dass sie diese Form der Pflege brauchen. Sobald es mehr sind, entsteht zwangsläufig eine Situation, in der Menschen sterben, weil die Mittel zu ihrer Behandlung nicht zur Verfügung stehen. Ehrlicherweise müsste gesagt werden, dass sich dieser Moment nicht mehr vermeiden lässt, und dass davon nicht nur jene betroffen sein werden, die an COVID-19 erkrankt sind, sondern auch jene, die aus anderen Gründen eine Intensivversorgung benötigen.
Zusätzlich muss man auch berücksichtigen, dass die Zahl schon vor Ausbruch dieses Virus hypothetisch war, weil manche dieser Betten im Normalbetrieb bereits nicht mehr belegt werden konnten, da Pflegepersonal fehlt. Eine ehrliche Information seitens der Regierung würde darauf hinweisen, dass es zu einer bedeutenden Zahl von Todesfällen kommen wird, die jetzigen Maßnahmen dazu dienen sollen, diese Zahl noch zu verringern (hätte man früher gehandelt, wäre das natürlich einfacher), dass die dafür erforderlichen Maßnahmen aber über einen Zeitraum von mehreren Monaten aufrechterhalten werden müssen.
Ist die Lebensmittelversorgung wirklich gesichert?
Julia Klöckner, Bundeslandwirtschaftsministerin, hat am Dienstag in einer Pressekonferenz verkündet, die Nahrungsmittelversorgung sei sicher. Man musste schon genau zuhören, was sie als sicher bezeichnete. Bei aller zur Schau gestellten Unschuld achtete sie nämlich sorgfältig darauf, die kritischen Fragen zu umgehen. Fast 80 Prozent der in der Bundesrepublik verbrauchten pflanzlichen Nahrungsmittel werden nämlich importiert; das muss Frau Klöckner wissen.
Import, das muss man in diesen Zeiten ausbuchstabieren, bedeutet, das Produkt stammt aus einem anderen Land, das sich in der selben Art künstlichen Komas befinden dürfte wie Deutschland, weil keines unserer Nachbarländer vom Virus verschont ist. Die einzige Ausnahme ist Polen, das frühzeitig seine Grenzen überwacht hat und aller Wahrscheinlichkeit nach zu dem Schluss kommt, seine Nahrungsmittel lieber für sich zu behalten.
Was bedeutet es denn, wenn überall die Produktion in allen Sektoren zurückgefahren wird, um die Verbreitung des Virus einzudämmen? Werden die Niederlande so viel Gemüse produzieren wie bisher und es dann in die Bundesrepublik liefern? Was passiert überhaupt im Transportbereich? Deutschland hat im Normalbetrieb bereits viel zu wenige LKW-Fahrer und es wurde zur Aufrechterhaltung der Just-in-time-Produktion nicht nur auf polnische, sondern längst auf rumänische und bulgarische Fahrer zurückgegriffen. Werden die tatsächlich das Risiko auf sich nehmen, deutsche Versorgungsgüter zu fahren? Die einheimischen LKW-Fahrer sind im Schnitt bereits über 47 Jahre alt; was, wenn größere Teile krankheitsbedingt ausfallen?
Klöckner hat erklärt, die Lager wären voll. Nun, nicht nur die Geschäfte, auch die Lager der Handelsketten bevorraten nur für wenige Tage. 'Voll' hat da nichts zu besagen, wenn wir von einem Zeitraum von mehreren Monaten sprechen. Ja, bei Milchprodukten, Fleisch und Getreide ist die Bundesrepublik noch Selbstversorger. Aber was geschieht bei den Milchprodukten, wenn die internationalen Lieferketten für das Kraftfutter zusammenbrechen und nur noch das einheimische Futter zur Verfügung steht? Dann wird die Menge deutlich zurückgehen. Da nützt auch eine Verlängerung der Supermarkt-Öffnungszeiten nichts.
Wer die Berichte aus China gesehen hat, weiß, dass dort der öffentliche Nahverkehr weitgehend stillgelegt wurde. Das macht epidemiologisch Sinn, weil sich dort viele Menschen sehr nah begegnen, das Übertragungsrisiko also hoch ist. Die Versorgungs-Infrastruktur in der BRD beruht aber nicht auf vielen kleinen Geschäften in der Nähe (wer die Aufnahmen aus China kennt, konnte sehen, dass es sie dort sehr wohl gibt), sondern auf großen Supermärkten in Einkaufszentren oder auf der grünen Wiese.
Die kleinteilige regionale Versorgung ist überall, wo sie nicht subventioniert wurde, längst verschwunden. Wie aber sollen jene Menschen, die kein Auto besitzen, ohne öffentlichen Nahverkehr die Einkaufsmöglichkeiten erreichen? Selbst wenn dort alles vorhanden bleiben sollte (was ich bezweifle), die Menschen müssen dorthin kommen können, und sie müssen das Geld haben, die Waren zu bezahlen.
Privatisierung der Wohlfahrt erschwert Koordination
Die vielfältige Privatisierung der Wohlfahrt, also die Tatsache, dass hier Verein X eine Tafel betreibt, die Diakonie eine Suppenküche, wieder ein anderer Träger ein Altenzentrum, führt dazu, dass es keine Stelle gibt, die auch nur die Daten all jener besäße, die Unterstützung benötigten. Wollte der Staat – gleich welche Ebene, von der Kommune bis zum Bund – tatsächlich jeden absichern, der finanziell oder physisch Probleme hat, sich zu versorgen, bestünde das erste Problem schon darin, überhaupt an die Adressen zu kommen.
Das Nächste wäre dann die Frage, wie eine Versorgung organisiert werden könnte. Aber bis heute ist ja nicht einmal das einfachste Mittel im Gespräch, nämlich allen Empfängern von Grundsicherung einen Zusatzbetrag auszuzahlen, der das Anlegen von Vorräten oder notfalls auch die Belieferung damit ermöglicht.
Die Armen von New Orleans hätten 2005 durchaus evakuiert werden können, hätte der damalige Bürgermeister sie als Bürger seiner Stadt wahrgenommen und Busse für die Evakuierung organisiert, wie das in den Jahrzehnten davor üblich war. Er war aber so von Klassendünkel zerfressen, dass Menschen ohne Autos für ihn schlicht nicht existierten. Sie blieben in den steigenden Fluten zurück und mussten sich ohne Nahrung und ohne sauberes Wasser auf die Dächer ihrer umschlossenen Häuser retten. Die deutsche Politik zeigt alle Anzeichen ähnlicher Verblendung. Die Ärmeren werden sich organisieren müssen, wollen sie die kommenden Fluten überstehen.
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