Meinung

Gastbeitrag des russischen Außenministers Lawrow: Sicherheit auf NATO-Grundlage ist eine Illusion

Brüssel setze Europa mit der EU, kollektive Sicherheit mit der NATO und Kooperation mit Russland mit dem Einreihen Moskaus in EU-Fahrwasser gleich, so Russlands Außenminister Lawrow. Für die Zeitung "Rossijskaja Gaseta" zieht er eine Bilanz des Verhältnisses Russlands zum Westen.
Gastbeitrag des russischen Außenministers Lawrow: Sicherheit auf NATO-Grundlage ist eine IllusionQuelle: Reuters © Brendan McDermid

Im Folgenden dokumentiert RT Deutsch einen Artikel des russischen Außenministers  Sergei Lawrow, der am 18. Dezember 2019 unter dem Titel "'Nachbarn in Europa'. Russland-EU: Dreißig Jahre Beziehungen" in der Rossijskaja Gaseta, erschien.

Vor 30 Jahren, am 18. Dezember 1989, wurde in Brüssel das Abkommen über Handel und handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeitzwischen der UdSSR und der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet. Dieses Datum wurde zum Ausgangspunkt für den Aufbau offizieller Beziehungen zwischen Russland als Nachfolgestaat der UdSSR einerseits und der Europäischen Union andererseits.

Es ist symbolisch, dass das Abkommen etwas mehr als einen Monat nach dem Fall der Berliner Mauer abgeschlossen wurde – einem Ereignis, das als Meilenstein am Ende des Kalten Krieges, einer Zeit der Teilung des Kontinents in gegensätzliche ideologische Blöcke, in die Geschichte einging. Die Gründer der Partnerschaft zwischen Russland und der EU verstanden, dass es unmöglich ist, jahrhundertealte Trennlinien auf unserem Kontinent auszuradieren, ohne ein breites Feld der Zusammenarbeit in Europa zu schaffen. Beide Seiten waren darauf eingestimmt, dieses Feld gegenseitig vorteilhaft, langfristig und resistent gegen wirtschaftliche und politische Schwankungen zu machen.

Die folgenden Jahre waren von akribischen Arbeiten zur Schaffung einer mehrstufigen Architektur zur Interaktion zwischen Russland und der EU geprägt. Ein solider rechtlicher Rahmen wurde geschaffen, dessen Grundlage bis heute das 1994 unterzeichnete Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) bleibt.

Auf dem EU-Russland-Gipfel in Sankt Petersburg im Mai 2003 wurde ein weiterer Schritt zur Überwindung der Teilung Europas unternommen: Es wurde eine Einigung über den Aufbau einer strategischen Partnerschaft erzielt, die auf der Schaffung von vier gemeinsamen Räumen basiert, im Hinblick auf: Wirtschaft; Außensicherheit; Freiheit, Sicherheit und Recht; sowie Wissenschaft und Bildung, einschließlich kultureller Aspekte. Wir arbeiteten gemeinsam an langfristigen Projekten, die – wären sie zu einem logischen Abschluss gebracht worden – für alle Menschen auf unserem gemeinsamen Kontinent spürbare Vorteile abwerfen und ihre Sicherheit, ihren Wohlstand und ihren Komfort erheblich verbessern würden.

So sprachen wir beispielsweise über die Erleichterung der gegenseitige Einreisebedingungen – einschließlich des visafreien Reisens – für Bürger Russlands und der EU-Länder, den Aufbau einer engen Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung der Bedrohungen durch Terrorismus und organisierte Kriminalität, die koordinierte Bewältigung regionaler Krisen und Konflikte und die Gründung einer Energieunion. Es ist jedoch nicht gelungen, die Nachhaltigkeit der erklärten Partnerschaft in den Beziehungen zwischen der EU und Russland zu gewährleisten.

Leider begannen viele im Westen, die alleuropäische Perspektive ausschließlich durch das Prisma eines "Sieges im Kalten Krieg" wahrzunehmen. Die Grundsätze der gleichberechtigten Zusammenarbeit wurden durch die Illusion ersetzt, dass die euro-atlantische Sicherheit ausschließlich auf der Grundlage der NATO aufgebaut werden müsse, und selbst der Begriff Europa ausschließlich mit der Europäischen Union verbunden werden sollte. Alles andere seien gewisse "konzentrische Kreise" um diese "Zentren der Legitimität".

Konkret wurden wir während des Bruchs unserer Beziehungen zu Brüssel immer häufiger Zeugen einer "Verabsolutierung" überstaatlicher EU-Normen und der Versuche, diese rückwirkend auf alle anderen Länder anzuwenden. Uns wurde angeboten, "fertige", innerhalb der EU "vorgekochte" Entscheidungen zu übernehmen, die weder eine Diskussion mit uns noch eine Berücksichtigung der russischen Interessen vorsahen. Einfacher ausgedrückt, sollten wir uns in das Fahrwasser begeben und den "richtigen" Kurs fahren – sowie die Interpretation von "gemeinsamen Werten" vorbehaltlos akzeptieren, die sich oft im Widerspruch zu der auf dem Christentum begründeten Tradition der europäischen Zivilisation formten.

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Verschämt fingen unsere Partner in Brüssel an zu verschweigen, dass das Konzept der vier gemeinsamen Räume zwischen Russland und der EU auf einem gegenseitigen Verständnis der Gefahren und der Kontraproduktivität jeglicher Versuche gründete, unsere gemeinsamen Nachbarn vor die Wahl "EU oder Russland" zu stellen. Schon vor 2014 erklang ein Alarmsignal für die Beziehungen zwischen der EU und Russland, als der Startschuss für die Östliche Partnerschaftsinitiative fiel – die im Wesentlichen darauf abzielte, unsere engsten Nachbarn, mit denen wir seit Jahrhunderten verbunden sind, von Russland zu trennen. Die traurigen Folgen dieser egoistischen Politik sind auch heute noch spürbar.

Mit einem Wort war die EU in der Praxis nicht bereit für gleichberechtigte Beziehungen zu unserem Land. Im Brüsseler Vokabular ist der Begriff "Europa" endgültig zum Synonym für die "Europäische Union" geworden. Es wird so dargeboten, als gäbe es ein "echtes" Europa – das sind die Mitglieder der EU – und alle anderen Länder des Kontinents müssten sich den "hohen Rang der Europäer" erst verdienen. So wird versucht, den Kontinent wieder künstlich zu spalten, und es werden sowohl die Geographie als auch die Geschichte verzerrt. Wie soll man allein schon die von europäischen Strukturen wie am Laufband gestanzten Erklärungen werten, in denen die Nazis, die die europäischen Völker vernichteten, mit den sowjetischen Soldaten gleichgesetzt werden, die diese Völker vor der physischen Vernichtung bewahrt haben?

Eine solche Herangehensweise ist zutiefst fehlerhaft und kommt – da bin ich mir sicher – auch dem Projekt der europäischen Integration selbst nicht zugute. Sie widerspricht seinem ursprünglichen Geist der Einigung und Friedensschaffung. Geografisch, historisch, wirtschaftlich und kulturell gesehen war, ist und bleibt Russland ein unabdingbarer Bestandteil Europas. Mit einer selbstgenügsamen Identität, auf die wir zu Recht stolz sind, sind wir Teil des europäischen Zivilisationsraums. Im Laufe der Jahrhunderte hat Russland zu deren Expansion bis hin zum Pazifik beigetragen. Unsere Selbstgenügsamkeit ist unter anderem durch den Einfluss fortgeschrittener europäischer Ideen geprägt. Ebenso wäre die moderne europäische Kultur ohne die gegenseitige Bereicherung mit Russland undenkbar.

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Allen Differenzen zum Trotz bleiben Russland und die EU füreinander wichtige Handels- und Wirtschaftspartner – und die größten Nachbarn, die in der Lage sind, selbständig die gemeinsame Verantwortung für Frieden, Wohlstand und Sicherheit in diesem Teil Eurasiens zu tragen. Übrigens, wäre die verzerrte Position der EU im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine nicht gewesen, hätte der heutige Handelsumsatz zwischen Russland und der Europäischen Union ein Niveau von einer halben Billion Dollar erreichen und zu einem Faktor bereits globaler Ausmaße werden können – vergleichbar mit dem Handelsvolumen der EU mit den USA und China.

Anzeichen häufen sich, dass sich ein Bewusstsein für die Abnormität der aktuellen Sachlage allmählich auch bei unseren EU-Partnern einstellt. Nach einem gewissen Stocken hat sich die Dynamik der Interaktion Russlands mit der Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten wieder belebt. Erste Kontakte wurden mit der neuen Führung der Europäischen Union geknüpft, die Anfang Dezember ihre Arbeit aufgenommen hat.

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Der Beginn dieses nächsten institutionellen Zyklus in der EU eröffnet objektiv eine Chance für einen "Neustart" in unseren Beziehungen. Zumindest ist dies eine Gelegenheit, ernsthaft darüber nachzudenken, wer wir füreinander sind in einer sich schnell verändernden Welt. Wir würden gern darauf zählen können, dass sich die Entscheidungsverantwortlichen in der Europäischen Union von einer strategischen Vision leiten lassen und im Einklang mit den Geboten großer europäischer Politiker wie Charles de Gaulle und Helmut Kohl handeln werden, die in Begriffen eines "paneuropäischen Hauses" dachten. Künstliche Beschränkungen der Zusammenarbeit aufgrund geopolitischer Interessen irgendwelcher Dritter lösen keine Probleme, sondern schaffen nur neue und unterminieren die wirtschaftliche Stellung Europas. Ich bin überzeugt, dass es nur durch Zusammenfügen der jeweiligen Vorteile aller Länder und integrativer Strukturen unseres gemeinsamen Eurasiens möglich ist, die Selbstgenügsamkeit und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Kulturen und Volkswirtschaften unter dem Druck der Globalisierung zu bewahren.

Die Beziehungen zwischen Russland und der EU entwickeln sich nicht in einem Vakuum. Die multipolare Welt ist Realität geworden. In der Region Asien-Pazifik haben sich neue finanzielle, wirtschaftliche, technologische und militärische Machtzentren gebildet. Wir bauen unsere Außenpolitik und die Zusammenarbeit mit Partnern unter Berücksichtigung dieses wichtigen Faktors auf. Die neuen Realitäten bringen nicht nur zusätzliche grenzüberschreitende Herausforderungen mit sich, sondern eröffnen auch die Möglichkeit, Ressourcen für unsere eigene Entwicklung auch dort zu erschließen, wo wir zuvor noch nicht einmal hinzuschauen wagten. Auf jeden Fall erhöht ein Zusammenlegen der Anstrengungen unsere Möglichkeiten. Angesichts der anhaltenden internationalen Turbulenzen ist es wichtig, den Vorrang des Völkerrechts zu gewährleisten – und darauf zu verzichten, dieses durch eine "regelbasierte Ordnung" zu ersetzen, die im Westen zwecks Bedienung der eigenen Interessen erfunden wurde. Nur dann können wir die Wirksamkeit multilateraler Bemühungen sicherstellen.

Wir sehen die Europäische Union als eines der Zentren der multipolaren Welt. Wir zielen darauf ab, die Beziehungen zu ihr im Einklang mit dem von Präsident Wladimir Putin vorgetragenen Konzept zu entwickeln: Eine Größere Eurasische Partnerschaft vom Atlantik bis zum Pazifik unter Beteiligung der Staaten der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, dem ASEAN und aller anderen Staaten des Kontinents.

Als wirtschaftliche Grundlage für die Einbeziehung der EU-Mitglieder in eine solche Partnerschaft könnte die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion dienen. Das Zusammenlegen der Potenziale der beiden großen regionalen Märkte und die Harmonisierung ihrer Handels- und Investitionssysteme wird dazu beitragen, die Position aller Teilnehmer am Welthandel zu stärken. Nicht minder wichtig wird dies auch ermöglichen, in Zukunft Situationen zu vermeiden, in denen unsere "gemeinsamen Nachbarn" sich erneut künstlich vor eine primitive Wahl gestellt wiederfinden – entweder mit der EU oder mit Russland.

Ich erinnere hier noch einmal daran, dass die Grundsätze der Partnerschaft bereits in unseren gemeinsamen Dokumenten angelegt sind. Insbesondere besagt der auf dem Russland-EU-Gipfel am 10. Mai 2005 in Moskau verabschiedete "Fahrplan" für einen gemeinsamen Raum der äußeren Sicherheit, dass regionale Kooperations- und Integrationsprozesse zwischen Russland und der EU, die auf souveränen Entscheidungen von Staaten beruhen, eine wichtige Rolle bei der Stärkung von Sicherheit und Stabilität spielen. Es ist notwendig, diese Prozesse zu fördern,

in einer für beide Seiten vorteilhaften Weise, durch eine ergebnisorientierte enge Zusammenarbeit und einen Dialog zwischen Russland und der Europäischen Union, womit ein wirksamer Beitrag zur Bildung eines großen Europas ohne Trennlinien und auf der Grundlage gemeinsamer Werte geleistet wird.

Auch heute kann man es nicht besser ausdrücken. Es wäre schön, diese Worte auch in die Tat umzusetzen.

Ein effektives Sicherheitssystem in Europa kann nur gemeinsam geschaffen werden – dies ist ein Axiom. Vor 20 Jahren, am 19. November 1999, wurde auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul die Charta für Europäische Sicherheit unterzeichnet. Auf Initiative der EU wurde in diese die Plattform für kooperative Sicherheit aufgenommen, deren Kern die Interaktion nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch zwischen allen Organisationen im euro-atlantischen Raum ist. Wir unterstützten diesen Vorschlag.

Leider sank die Begeisterung für diese Idee später in Brüssel – wo sich nicht nur die EU-Institutionen, sondern auch das NATO-Hauptquartier befindet. Auf der Ministerratssitzung der OSZE vom 5. bis 6. Dezember 2019 in Bratislava blockierten die westlichen Länder den russischen Vorschlag zur Bestätigung der oben genannten Initiative, die einen gleichberechtigten gesamteuropäischen Dialog unter Beteiligung der EU, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, der NATO und der Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit vorsieht. Damit stellt sich heraus, dass die EU und die NATO von einer Überzeugung von der eigenen Dominanz angetrieben wurden, als sie ihre Idee vor 20 Jahren vorlegten. Heute haben sie Angst vor der Konkurrenz seitens der sich erfolgreich entwickelnden Strukturen im GUS-Raum und gehen einem direkten, gleichberechtigten Dialog mit ihnen aus dem Weg.

Wir fordern die Europäische Union auf, sich von den Grundprinzipien leiten zu lassen, die in den Dokumenten über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der EU und Russland dargelegt sind, und nicht von frei erfundenen Konstrukten, die irgendeine "erzwungene Koexistenz" voraussetzen. Wir stehen vor gemeinsamen Bedrohungen und Herausforderungen: Terrorismus, Drogenhandel, organisierte Kriminalität, illegale Migration und vieles mehr. Einschränkungen bei der Zusammenarbeit mit unserem Land, ein Selbstaufputschen zur Konfrontation mit Russland, dürften die Perspektiven der Europäischen Union selbst in der modernen Welt wohl kaum verbessern.

Wir sind offen für eine gegenseitig vorteilhafte, gleichberechtigte und pragmatische Zusammenarbeit mit der EU im Einklang mit den Interessen unserer Verbündeten und aller anderen Partner in Eurasien. Nur so kann ein tragfähiges Modell langfristiger Beziehungen aufgebaut werden, das den Interessen und Erwartungen der Länder und Völker des gesamten eurasischen Kontinents entspricht.

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