Meinung

John Pilger: "Die Lügen über Assange müssen jetzt aufhören"

"In Zeiten des Schwindels ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt", so George Orwell. Der Fall Julian Assange ist ein Schwindel. Und ein Präzedenzfall. Es geht um unbequeme Wahrheiten, unterdrückten Journalismus und einen Helden unserer Zeit.
John Pilger: "Die Lügen über Assange müssen jetzt aufhören"Quelle: www.globallookpress.com

von John Pilger

Zeitungen und andere Medien in den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und Australien haben kürzlich ihre Leidenschaft für die Meinungsfreiheit erklärt, insbesondere für ihr Recht, frei zu veröffentlichen. Sie sind besorgt über den "Assange-Effekt".

Es ist, als ob der Kampf von Verkündern der Wahrheit wie Julian Assange und Chelsea Manning jetzt eine Warnung für sie ist: dass die Schläger, die Assange im April aus der ecuadorianischen Botschaft in London geholt haben, eines Tages zu ihnen kommen könnten.

Ein gängiger Spruch wurde letzte Woche vom Guardian wiederholt. Die Auslieferung von Assange, so das Blatt, "wirft nicht die Frage auf, wie weise Herr Assange ist, noch weniger, wie sympathisch. Es geht weder um seinen Charakter noch um sein Urteilsvermögen. Es geht um die Pressefreiheit und das Recht der Öffentlichkeit auf Berichterstattung."

Mediale Urteilsbildung an der Realität vorbei

Was der Guardian hier versucht, ist, Assange und seine bahnbrechenden Leistungen voneinander zu trennen, die sowohl dem Guardian zugute gekommen sind als auch dessen eigene Verwundbarkeit aufgedeckt haben. Ebenso dessen Neigung, sich der raubgierigen Macht anzuschließen und diejenigen zu verunglimpfen, die deren Doppelmoral offenbaren.

Das Gift, mit der die Verfolgung von Julian Assange geschürt wurde, ist in diesem Leitartikel nicht so offensichtlich wie sonst. Er verbreitet keine Gerüchte darüber, dass Assange Fäkalien an die Wände der Botschaft geschmiert oder seine Katze übel behandelt habe. Stattdessen verewigen die gewundenen Andeutungen auf "Charakter" und "Urteil" und "Sympathie" eine epische Schmierenkampagne, die inzwischen fast ein Jahrzehnt alt ist.

Nils Melzer, der Berichterstatter der Vereinten Nationen für Folter, verwendet eine treffendere Beschreibung:

Es gab eine unerbittliche und unbändige Kampagne öffentlichen Mobbings.

Melzer erklärt Mobbing als "einen endlosen Strom von demütigenden, erniedrigenden und bedrohlichen Aussagen in der Presse". Dieser "gesammelte Spott" stellt eine Form von Folter dar und könnte zum Tod von Assange führen.

Vor ein paar Tagen schrieb Nick Miller, London-Korrespondent beim Sydney Morning Herald, ein bequemes, fadenscheiniges Stück mit der Überschrift: "Assange wurde nicht rehabilitiert, er hat lediglich das Justizverfahren ausgesessen." Miller bezog sich auf die Einstellung der sogenannten Assange-Untersuchung durch Schweden.

Sein Bericht ist nicht untypisch in seinen Auslassungen und Verzerrungen, während Miller selbst sich als Tribun der Frauenrechte ausgibt. Da gibt es keine wirkliche journalistische Arbeit, keine echte Untersuchung – einfach nur Verleumdung. Kein Wort über das dokumentierte Verhalten einer Gruppe schwedischer Eiferer, die die "Behauptungen" über sexuelles Fehlverhalten gegen Assange gekapert und das schwedische Recht und den hoch gelobten Anstand dieser Gesellschaft verspottet haben.

Miller schweigt auch dazu, dass die schwedische Staatsanwältin im Jahr 2013 versuchte, den Fall einzustellen, und eine E-Mail an die Königliche Staatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service, CPS) in London schickte, um ihr mitzuteilen, dass sie die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht weiter verfolgen wird. Worauf sie als Antwort erhielt: "Wag es ja nicht!" (Danke an Stefania Maurizi von La Repubblica.)

Andere E-Mails zeigen, dass der CPS die Schweden davon abhielt, nach London zu kommen, um Assange zu vernehmen – was gängiger Praxis entspricht – und so den juristischen Fortgang blockierte, der Assange im Jahr 2011 womöglich die Freiheit gebracht hätte.

Substanzlose Vorwürfe, eingeschüchterte Zeugen, korrupte Politiker

Es gab keine Klageschrift. Es gab keine Anklage. Es gab keinen ernsthaften Versuch, Assange die gegen ihn erhobenen "Anschuldigungen" zu unterbreiten und ihn hierüber zu befragen – ein Vorgehen, das der schwedische Berufungsgerichtshof für fahrlässig befand und das der Generalsekretär der schwedischen Anwaltskammer seitdem entsprechend verurteilt.

Beide beteiligten Frauen sagten, dass es keine Vergewaltigung gab. Kritische schriftliche Beweise für ihre Textnachrichten wurden Assanges Anwälten vorsätzlich vorenthalten. Offensichtlich, weil sie die "Anschuldigungen" untergruben.

Eine der Frauen war über die Verhaftung Assanges zutiefst schockiert. Sie beschuldigte die Polizei, ihr nachzustellen und ihre Zeugenaussage zu manipulieren. Die Generalstaatsanwältin Eva Finne wies den "Verdacht auf ein Verbrechen" zurück.

Der Mann vom Sydney Morning Herald unterschlägt auch, wie der ehrgeizige und kompromittierte Politiker Claes Borgström hinter der liberalen Fassade der schwedischen Politik hervorkam, den Fall wiederblebte und erfolgreich vereinnahmte.

Borgström verpflichtete eine ehemalige politische Mitarbeiterin, Marianne Ny, als neue Staatsanwältin. Ny weigerte sich, zu garantieren, dass Assange nach einer Auslieferung an Schweden nicht in die Vereinigten Staaten überstellt würde. Zu einem Zeitpunkt, wie The Independent berichtet, an dem "laut Informationen aus Diplomatenkreisen bereits informelle Gespräche zwischen Beamten der USA und Schwedens über die Möglichkeit liefen, den WikiLeaks-Gründer Julian Assange in US-amerikanisches Gewahrsam zu übergeben". Dies war ein offenes Geheimnis in Stockholm. Dass das libertäre Schweden eine dunkle, dokumentierte Vergangenheit hatte, Menschen in die Fänge der CIA auszuliefern, war nicht neu und daher keine Nachricht wert.

Durchbrochen wurde das Schweigen im Jahr 2016, als die Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen für willkürliche Inhaftierung – ein Gremium, das darüber entscheidet, ob Regierungen ihren Menschenrechtsverpflichtungen nachkommen – befand, dass Julian Assange von Großbritannien rechtswidrig festgehalten wurde. Die UN-Experten forderten daher die britische Regierung auf, Assange freizulassen.

Sowohl die Regierungen Großbritanniens als auch Schwedens hatten sich an der Untersuchung der UNO beteiligt. Man war übereingekommen, sich an das daraus folgende Urteil, dem völkerrechtliches Gewicht zukommt, zu halten. Der britische Außenminister Philip Hammond trat stattdessen im Parlament auf und beschimpfte das UN-Gremium.

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Jagsaison im Blätterwald

Der schwedische Fall war von dem Moment an ein Schwindel, als die Polizei heimlich und illegal mit einem Stockholmer Boulevardblatt Kontakt aufnahm und jene Hysterie entfachte, die Assange fertigmachen sollte. Die Enthüllungen von WikiLeaks über die Kriegsverbrechen der USA hatten die Interessen der Macht – und ihre Handlanger, die sich Journalisten nennen – der Schande preisgegeben. Dieses "asoziale" Verhalten würde Assange niemals vergeben werden.

Die Jagd war eröffnet. Assanges Medienhenker kopierten und verteilten untereinander die Lügen und üblen Beschimpfungen. "Er ist wirklich der massivste Scheißhaufen", schrieb die Guardian-Kolumnistin Suzanne Moore. Die Botschaft, die in der Masse ankommen sollte, war, dass man ihn angeklagt hatte – was zu keinem Zeitpunkt der Wahrheit entsprach. In meiner ganzen Karriere, in der ich von Orten extremer Gewalt und Umwälzungen sowie von Leiden und Kriminalität berichtet habe, habe ich so etwas noch nie erlebt.

In Assanges Heimat Australien erreichte dieses Mobbing einen Höhepunkt. Die australische Regierung war so begierig darauf, ihren Bürger in die Vereinigten Staaten zu verfrachten, dass die im Jahr 2013 amtierende Premierministerin Julia Gillard ihm seinen Pass entziehen und ihn wegen eines Verbrechens anklagen wollte – bis man ihr sagte, dass Assange kein Verbrechen begangen hatte und sie kein Recht habe, ihm die Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Julia Gillard hält laut dem Magazin Honest History den Rekord für die kriecherischste Rede, die je vor dem US-Kongress gehalten wurde. Australien, so Gillard unter dem Beifall der Abgeordneten, sei Amerikas "großer Gefährte". Der große Gefährte machte mit den USA gemeinsame Sache bei deren Jagd auf einen Australier, dessen Verbrechen Journalismus war. Sein Recht auf Schutz und angemessene Unterstützung durch sein Heimatland wurde ihm verweigert.

Als Assanges Anwalt, Gareth Peirce, und ich zwei australische Konsularbeamte in London trafen, waren wir schockiert darüber, dass sie von dem Fall nur wussten, was "wir in der Zeitung lesen". Dieses Imstichlassen durch Australien war ein Hauptgrund für die Gewährung von politischem Asyl durch Ecuador. Als Australier fand ich das besonders beschämend.

Auf eine kürzliche Nachfrage zu Assange sagte der derzeitige australische Premierminister Scott Morrison: "Er sollte sich den Tatsachen stellen".

Die Geister, die sie riefen...

Diese Art Verbrechertum, die jeglicher Achtung vor Wahrheit und Rechten sowie Prinzipien und Gesetzen entbehrt, ist der Grund, warum die von Rupert Murdoch kontrollierte Presse in Australien jetzt um ihre eigene Zukunft besorgt ist. Ganz so wie der Guardian und die New York Times besorgt sind. Ihre Sorge hat einen Namen: "Der Präzedenzfall Assange".

Sie wissen, dass das, was mit Assange passiert, auch mit ihnen passieren kann. Die Grundrechte, die man ihm verweigert, können ebenso ihnen selbst verweigert werden. Sie wurden gewarnt. Wir alle wurden gewarnt.

Wann immer ich Julian in der grimmigen, surrealen Welt des Gefängnisses in Belmarsh sehe, werde ich an die Verantwortung derjenigen von uns erinnert, die ihn verteidigen. In diesem Fall geht es um universelle Prinzipien. Er selbst sagt gerne: "Es geht nicht um mich. Es geht um viel mehr."

Doch im Mittelpunkt dieses bemerkenswerten Kampfes – und es ist vor allem ein Kampf – steht ein Mensch, dessen Charakter, ich wiederhole, dessen Charakter den erstaunlichsten Mut bewiesen hat. Ich grüße ihn.

John Pilger ist in Großbritannien ansässiger australischer Journalist, Filmemacher und Autor. Er ist einer von zwei Medienschaffenden, der zweimal die höchste Auszeichnung des britischen Journalismus erhielt. Für seine Dokumentarfilme hat er einen Emmy und einen British Academy Award gewonnen. Neben zahlreichen anderen Ehrungen wurde er mit dem Royal Television Society Best Documentary Award ausgezeichnet. Sein episches Werk "Year Zero: The Silent Death of Cambodia" von 1979 wird vom British Film Institute als einer der zehn wichtigsten Dokumentarfilme des 20. Jahrhunderts eingestuft.

Der Text ist eine überarbeitete Version einer Rede, die John Pilger zur Veröffentlichung des Buches "In Defense of Julian Assange" in London gehalten hatte.

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