Meinung

Vorwärts, marsch! – Deutschlands außenpolitischer Kurs der nächsten Jahre

Zwei Reden und ein Gastbeitrag im Spiegel machten den Anfang. Inzwischen geht es Schlag auf Schlag. Die EU und Deutschland sollen militarisiert, neue Flanken eröffnet, bestehende Konflikte zementiert werden. Ein deutlicher Ruck nach rechts.
Vorwärts, marsch! – Deutschlands außenpolitischer Kurs der nächsten JahreQuelle: Reuters

von Gert-Ewen Ungar

Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren: Die außenpolitische Ausrichtung der Bundesrepublik und der EU wird gerade für die nächsten Dekaden festgezurrt. Die Zeichen stehen auf Aggression. Überhaupt nicht zur Debatte stehen dabei eine Überwindung der Konfrontation gegen Russland und eine Kooperation mit China. Im Gegenteil, es ist offensichtlich, dass der Konflikt mit Russland und eine Eskalation der Konfrontation zu China nach dem Willen der deutschen politischen Akteure für die nächsten Jahrzehnte den eurasischen Kontinent bestimmen sollen.

Es geht in Richtung der Militarisierung in der Außenpolitik und der militärischen Konfrontation. Eine tatsächliche Analyse von subjektiv empfundenen Bedrohungen findet nicht statt. Es wird im Gegenteil ohne jede Differenzierung die Mär vom aggressiven Russland wiederholt und auch auf die angeblichen Expansionsgelüste Chinas verwiesen. In Bezug auf Russland wird das eigene, provokante Vorrücken unterschlagen, im Hinblick auf das aufstrebende China werden die politischen Weichenstellungen verschwiegen, die zum eigenen Abstieg geführt haben.

Dass im Moment sowohl die außenpolitische Richtung der EU als auch die Deutschlands neu festgelegt werden, lässt sich an drei in kurzer Folge veröffentlichten, beachtenswerten Beiträgen zum Thema erkennen und an der darauf folgenden medialen Resonanz ablesen. Eröffnet wurde der Reigen von Willensbekundungen zur Aggression durch Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrem Vorschlag, eine Sicherheitszone in Syrien unter deutscher Beteiligung zu errichten. So fern der Realität dieser Vorschlag auch war, hat er doch die Diskussion um ein weitergehendes militärisches Engagement Deutschlands in der Welt angestoßen.

Von den Medien des Mainstreams wurde dieser Steilpass bereitwillig aufgenommen. Kramp-Karrenbauer präzisierte diese Idee eines stärkeren militärischen Engagements Deutschlands in der Welt dann einige Zeit später in einer Rede an der Universität der Bundeswehr in München. Deutsche Interessen müssten auch im Südchinesischen Meer verteidigt werden, lässt sie uns wissen. Schließlich hätte Deutschland als Handelsnation ein vitales Interesse an offenen Handelswegen. Für eine ähnliche Äußerung musste Bundespräsident Horst Köhler vor Jahren noch zurücktreten. Heute wird eine solche These breit – und vor allem wohlwollend – öffentlich diskutiert. 

Welches Interesse China an einer Blockade von Handelswegen haben sollte, verschweigt Kramp-Karrenbauer in diesem Zusammenhang geflissentlich, denn das ist freilich Unsinn. Die These, China könnte so etwas tun, ergibt im Kern keinerlei Sinn, denn mit dem Projekt der Neuen Seidenstraße hat kein anderes Land so sehr wie China sein Interesse an offenen Handelswegen dokumentiert. Im Gegenteil: Die Neue-Seidenstraßen-Initiative ist ein Projekt der friedlichen Vernetzung durch gemeinsame Infrastrukturprojekte, Handel und kulturellen Austausch. Kramp-Karrenbauer täuscht in ihrer Rede absichtlich ihre Zuhörer. Sie beschwört ein Bedrohungsszenario, das nicht existiert, das aber die Grundlage für die Militarisierung der deutschen Außenpolitik bieten soll. Es geht hier – man muss das deutlich sagen – um Provokation und Aggression durch Deutschland, nicht um die Sicherung von Handelswegen und schon gar nicht um die Verteidigung vermeintlich edler westlicher Werte. 

Ganz offen bringt Kramp-Karrenbauer diesen Willen zum Konflikt, der dann auch militärisch ausgetragen werden soll, zum Ausdruck, wenn sie in ihrer Rede an der Universität der Bundeswehr sagt: 

Ich weiß genau, wie viele unserer Soldaten beim International-Security-Assistance-Force-Einsatz getötet und verletzt worden sind. Und gerade weil ich es weiß, ist mir die Bedeutung des Einsatzes unserer Partner und Verbündeten umso bewusster und wertvoller.

Hier spricht jemand Klartext: Je größer die Verluste sind, desto stärker wird die Bündnispartnerschaft. Auch vielfacher Tod stellt nichts in Frage, gibt nichts zu bedenken. Dabei ist gerade der Afghanistan-Einsatz auch unter militärstrategischen Gesichtspunkten höchst fragwürdig. Dieser Krieg ist nur noch teuer, gleichzeitig aber schon längst verloren.

Wenig später trat Ursula von der Leyen an ein anderes Rednerpult und hielt als designierte EU-Kommissionspräsidentin eine Rede zum Zustand Europas. Auch sie sieht Europa von Ländern wie China und Russland bedroht. Gefährdet seien die westlichen Werte, die Freiheit, die offene Gesellschaft. Einer Überprüfung halten solche Behauptungen nicht stand. Nichts gefährdet die Werte des liberalen Westens so sehr wie die eigene Politik dieses liberalen Westens, insbesondere seine Wirtschaftspolitik. Nirgendwo werden derzeit die Demokratie und die Errungenschaften des bürgerlichen Liberalismus so aktiv zurückgebaut wie in der EU.

Man sieht es deutlich: Es wird eine "Geschichte" entworfen, die für uns in den nächsten Jahrzehnten maßgeblich sein soll, aber mit den Entwicklungen in der Realität nichts zu tun hat. Das Narrativ lautet: Wir als die friedlichen, liberalen Nationen werden von China und Russland bedroht, die unsere Werte nicht teilen. Dagegen müssen wir uns wehren – vor allem auch militärisch. Faktisch ist das falsch, allerdings spielt das keine Rolle mehr, wenn dieses Bild erst einmal als Gedankengut in den Köpfen etabliert sein wird. Für Russland ist es bereits etabliert, für China soll es noch weiter ausgeschmückt und verfestigt werden. 

Die Argumentationsfiguren, die in dieser Diskussion benutzt werden, sind entlarvend. In klare Sprache übersetzt, lautet ein Argument von der Leyens: Die in der EU versammelten, demokratischen Nationalstaaten müssen Teile ihrer Souveränität an nicht-demokratische, transnationale Organisationen wie die EU und die NATO abgeben, damit also jeglicher demokratischer Kontrolle entziehen, um den Wert "westliche Demokratie" zu schützen. Man sieht an dieser Argumentation deutlich: Das Konstrukt fault von innen. 

Wenn von der Leyen "Europa" ausspricht, meint sie eigentlich die EU. Auch dies ist ein lange eingübter rhetorischer Trick. Die gemessen an ihrer Fläche größten Länder Europas sind gar nicht in der EU, denn sowohl Russland wie auch die Ukraine gehören nicht dazu. Insgesamt liegt deutlich mehr als die Hälfte der Fläche des Kontinents Europa außerhalb der überwiegend westeuropäischen EU. Von der Leyen schert das nicht. Sie nimmt in ihrer Rede "ihren" Teil als Ganzes und setzt ihn an die Spitze. Wenn die "Europäische Union" mit "Europa" gleichgesetzt wird, braucht es kein weiteres Bemühen um Frieden in diesem Europa. Der ist in dieser Logik nämlich schon hergestellt. Die sich aus der aktuellen Schwäche der USA ergebende Möglichkeit, jetzt die Krisen in Europa diplomatisch durch Kooperation zu lösen, ist mit der Rhetorik von der Leyens sprachlich gar nicht mehr zu greifen. 

Dabei wurde viel Bedauern darüber geäußert, dass man nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die einmalige Chance verpasst hätte, das gemeinsame Haus Europa zu bauen. Jetzt taucht zwar mit der Schwäche der USA diese Chance eigentlich wieder auf. Aber sie als solche überhaupt zu erwähnen, wird durch das benutzte Vokabular unmöglich gemacht, wenn Europa mit der EU gleichgesetzt wird, wenn Europa eigentlich nur noch aus der "EU" besteht. Das macht aber auch deutlich, von wem Aggressivität ausgeht. Deutschland und die EU sind getragen von einem immer tieferen Unwillen zu Frieden und Interessen ausgleichender Verständigung auf dem Kontinent Europa als Ganzes. 

Generell war die Rede von der Leyens ein erstaunliches Zeitzeugnis am Beginn ihrer neuen Karrierestufe. Sicherlich erwartet man keine Grundsatzkritik am Zustand der EU von einer Rede einer angehenden Kommissionspräsidentin. Aber das, was von der Leyen hier mal mit mütterlichem, mal mit präsidialem Gestus vorträgt, trägt den Charakter von Realitätsverweigerung. 

Kurz darauf gibt dann noch Bundesaußenminister Maas dem Spiegel ein Interview, in dem auch er sich bedingungslos zur NATO bekennt. Die Wortwahl ist dieselbe wie schon bei von der Leyen und Kramp-Karrenbauer. Die Bedrohung der europäischen Werte durch Russland und China zwinge "uns" zu einer Militarisierung. 

Der Mainstream nimmt all das nur zu dankbar und bereitwillig auf. Die Diskussion um "Verteidigungs"-Ausgaben genannte Militäretats, um Auslandseinsätze und Engagement in der Welt ist voll im Gange. Wenn "wir" dabei sind, wird es gut, denn "wir" haben "Werte", die anderen nicht – so der allgemeine Tenor. Die NATO wird als angebliches Werte-Bündnis beschworen. Es mag da belustigen, wenn der Sozialdemokrat Maas als Weg zur Reform der NATO die Gründung eines Arbeitskreises vorschlägt. Allerdings geht es auch gar nicht um den Vorschlag selbst. Der ist natürlich nicht ernst zu nehmen. Es geht darum, die immer gleiche Botschaft aufrechtzuerhalten.

Dabei ist einer angeblichen "Gefahr", die von China und auch Russland ausgeht, mit militärischen Mitteln in keiner Weise zu begegnen. Die Ukraine ist hierfür herausragendes und im wahrsten Sinn des Wortes ein "naheliegendes" Beispiel. Die Unterstützung angeblich "demokratischer Kräfte" durch die EU, den Westen und allen voran Deutschland hat die Ukraine in kurzer Zeit ökonomisch in Schutt und Asche gelegt. Die Ukraine ist nach Moldawien heute das zweitärmste Land ganz Europas. Anders sieht es dagegen auf der angeblich annektierten Krim aus: Dort geht die wirtschaftliche Entwicklung – dank enormer Investitionen – steil aufwärts. Wohlstand und Wachstum, an dem alle teilhaben. Hier zeigt sich der Gegenentwurf zum westlichen Modell des gern gepriesenen Liberalismus.

Auch beim Afrika-Gipfel, den die Bundesregierung in der letzten Woche abhielt, offenbarte sich, wie unattraktiv das westliche Modell inzwischen ist. Zwölf afrikanische Staaten waren vertreten. Zur Erinnerung: Am Russland-Afrika-Gipfel in der russischen Schwarzmeermetropole Sotschi Ende Oktober nahmen 44 afrikanische Staatsoberhäupter teil. Deutschland bietet eventuell Investitionen, allerdings nur dann, wenn sich die Länder zuvor "Reformen" unterwerfen, nämlich Sozialstandards senken, Arbeitsrechte zurückgebauen, Märkte deregulieren usw. – der ganze neoliberale Giftschrank also. Das ist nicht attraktiv. 

Russland und China agieren da anders, denn sie sind in der Lage und gewillt, tatsächliche Win-Win-Situationen zu schaffen. Durch diese Fähigkeit der beiden Akteure geraten "wir", der Westen, die EU, Deutschland ins Hintertreffen. Das ist richtig. Allerdings ist dem nicht mit militärischen Mitteln, sondern nur mit einer Neuausrichtung der Wirtschaftsstrategie beizukommen. Und dieses Defizit überwindet man folglich nicht durch Konfrontation und Aggression, sondern durch Vernetzung und Kooperation. 

Zudem brächte eine einfache chronologische Auflistung der Ereignisse in Europa in Erinnerung, dass Russland weniger agiert, schon gar nicht aggressiv, sondern Schritt für Schritt reagiert hat. Es ging und geht keine Aggression von Russland aus. Die EU und die NATO sind aggressiv, wie sie aktuell erneut ganz deutlich mit der zunehmenden Militarisierung der Nordsee und Ostsee unter Beweis stellen. Diese Aggression richtet sich gegen die Sicherheitsinteressen Russlands. Folglich wird Russland auch darauf reagieren müssen.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass mittlerweile linke Bewegungen als Korrektiv in Deutschland weitgehend ausfallen. Signifikant für dieses Versagen ist Jutta Ditfurth, bekannt geworden als eine Ikone der Antifa. Sonst bei jeder Gelegenheit eine rechts-esoterische Verschwörung witternd und vor der Wiederkehr des Faschismus warnend, sehen Ditfurth und ihre Antifa-Groupies bei dieser aktuellen Entwicklung in Westeuropa keinen Grund zur Sorge. Dort herrscht Schweigen. Zuletzt bereiteten Jutta Ditfurth große "Sorgen" die Extinction Rebellion, davor die Gelbwesten, vor einiger Zeit die neue Friedensbewegung, davor der Zusammenschluss von WASG und PDS zur Partei Die Linke. Zur aktuellen Entwicklung hat sie nichts zu sagen. Das zeigt aber auch, wie ehemalige Linke inzwischen in der Radikalität der bürgerlichen Mitte angekommen sind.

Von ihnen ist kein Widerstand mehr gegen eine kriegerische Agenda zu erwarten. Im Gegenteil zeigen die Äußerungen Ditfurths zu Russland, wie unkritisch sie gegenüber dem Mainstream, wie unaufgeklärt und unemanzipiert ihre Haltung zur Presse und allgemein zur Funktion von Medien ist. Die Tatsache einer eklatanten Medienkrise ist bei ihr und ihrem Kreis ganz offensichtlich noch nicht angekommen. Ditfurth ist zwar symptomatisch, aber nicht allein. Sie steht hier lediglich als ein signifikantes Beispiel für das Versagen linker Bewegungen in Deutschland, wenn es um Friedenspolitik geht. Die Linksjugend Leipzig hat gerade auf dieses Defizit aufmerksam gemacht.   

So fehlt in Deutschland ein Korrektiv. Es geht nicht mehr um das "Ob" einer Militarisierung, sondern nur noch um das "Wie" und um die Geschwindigkeit. Das ist die Bandbreite, in der sich die Diskussion bewegt, die im Mainstream ausgetragen wird. Man wird heftig und intensiv über Finanzen, Partner, Akzentsetzungen, Zeitdruck und anderes sprechen. Das Projekt selbst steht dabei nicht mehr zur Debatte.

Das Korrektiv wird von außen kommen, indem die westliche und zunehmend auch deutsche Aggressivität weitgehend unbeantwortet bleibt. Und je weiter wir aufgrund verfehlter Wirtschaftspolitik ökonomisch zurückfallen, nicht mehr mithalten können, desto unbedeutender werden "unsere" Provokationen werden. Allerdings wird die zweite Chance auf ein gemeinsames Haus Europa von deutscher Politik gerade erneut verspielt. Dauerhaften Frieden, Sicherheit und Wohlstand von Lissabon bis Wladiwostok soll es nach deutschem Willen auch diesmal nicht geben. 

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