Meinung

Edward Snowden in Berlin: Die Russen hatten genauso viel Angst vor mir wie ich vor ihnen

Für die einen ist der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter ein Verräter. Für die anderen ist Snowden ein wahrer Patriot, der tatsächlich dem einst gemachten Eid zur Verteidigung der amerikanischen Verfassung verpflichtet ist. Die Berliner feierten ihn wie einen Helden.
Edward Snowden in Berlin: Die Russen hatten genauso viel Angst vor mir wie ich vor ihnenQuelle: RT

von Zlatko Percinic

Pünktlich zur Veröffentlichung seines Buches "Permanent Record: Meine Geschichte" auf dem deutschsprachigen Markt gewährt der Whistleblower Edward Snowden einigen Medien Live-Interviews aus seinem Exil in Russland. Am Dienstagabend machten die ZEIT und der S. Fischer Verlag eine öffentliche Veranstaltung aus der Übertragung, die gut und gerne 400 Personen besucht haben. Moderiert wurde das Interview von Holger Stark, dem Leiter des Investigativressorts der Zeitung, der 2013, damals noch beim Spiegel, bei dem wohl größten Coup seiner Karriere an der Auswertung und teilweisen Veröffentlichung der Dokumente von Snowden mitgewirkt hatte.

Wie wütend die US-Regierung über die Veröffentlichung war und sämtliche Masken der diplomatischen Gepflogenheiten fallen ließ, zeigte sich in einem bis dahin noch nie dagewesenen Zwischenfall Anfang Juli 2013. Allein schon die Gerüchte, dass sich im Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Evo Morales der zu dem Zeitpunkt meist gesuchte Mann der Welt befinden könnte, reichten für Washington aus, so viel Druck auf die europäischen Regierungen auszuüben, dass sie ihre Lufträume für das Flugzeug sperrten und es zu einer Zwischenlandung in Wien zwangen. Die österreichische Regierung "verlangte" Zugang, um zu sehen, ob sich Snowden tatsächlich im Flugzeug befand, während er immer noch im Transitbereich des Moskauer Flughafens ausharrte, wo er aus Hongkong kommend gestrandet war.

Dass Washington so wütend auf den ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter war, ist verständlich. Er hat nicht nur streng geheime Dokumente gestohlen und sie Journalisten zur Auswertung und Veröffentlichung übergeben. Was viel schwerer wog, war die Aufdeckung der systematischen Überwachung und des Sammelns von Daten Hunderter Millionen Menschen weltweit, einschließlich befreundeter Regierungen. Snowden stellte in der Live-Übertragung klar:

Unsere Daten sind wir (selbst). Was ausgebeutet wird, sind nicht Daten, sondern (die) Menschen.

Dennoch sind die Daten nur ein Teil eines selbst, meinte er weiter. Die Geheimdienste und Unternehmen wie Amazon, Facebook oder Google könnten sie zwar alle sammeln, aber die daraus hergeleiteten Analysen wären unberechenbar, "weil wir unberechenbar sind". Am Ende ginge es aber um nichts weiter als um reine Macht. Unter dem Deckmantel des "Krieges gegen den Terror" und der in vielen Ländern immer wieder heraufbeschworenen Angst vor dem Terror haben anfänglich vor allem die westlichen Länder damit begonnen, die Freiheiten und Rechte der Menschen zurückzudrängen.

In einem freien Land sollte man der Regierung nicht trauen.

Das gilt insbesondere für jene, die freiwillig und ohne Zwang Informationen über sich selbst und andere im Internet teilen, die am Ende dann von unbekannten Analysten der Regierungen gesammelt und ausgewertet werden. Deshalb ist die  mehrheitliche Haltung "Ich habe ja nichts zu verbergen" höchst naiv und zeigt, wie wenig bewusst man sich der Konsequenzen des eigenen Tuns ist.

Kritik äußerte Edward Snowden vor allem an die Adresse der sogenannten freien Welt, weil sie unehrlich ist. Es wird der Anschein erweckt, als würden die Regierungen ihre Bürgerinnen und Bürger vor der Massenüberwachung und Sammlung von Daten beschützen. Warum sieht man in Europa, ausgerechnet unter den US-Alliierten, keine Länder mehr, die Whistleblower beschützen? "Sie haben Angst", sagt er. Angst davor, selbst keine Daten mehr aus den USA zu erhalten.

Stattdessen erlebt man auch in Europa die negative Entwicklung, dass kritische Journalisten vermehrt als Bedrohung betrachtet werden. Dabei gehe es Whistleblowern gar nicht darum, ihre Regierungen in irgendeiner Form für ihr Fehlverhalten zu "bestrafen", sondern sie verstehen sich vielmehr als "Partner" der Bevölkerung, die sich das zurückzuholen soll, was ihr genommen wurde.

Was Snowden aber wirklich bedauert, ist wie leicht er sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in "ein Werkzeug verwandeln lassen" hat. Er sei zutiefst davon überzeugt gewesen, dass die USA "eine Kraft für das Gute" wären, und habe sich enthusiastisch für den Geheimdienst beworben, um dessen Teil zu sein. Er erzählt davon, wie stolz er war, als er von der CIA angenommen wurde und zum ersten Mal als CIA-Mitarbeiter das Hauptquartier in Langley betrat.

So wie man den Stolz in seinem Gesicht erkennen konnte, als er über diese Episode seines Lebens sprach, sah man auch den Schmerz der Erkenntnis, als er nach "sehr, sehr, sehr vielen Jahren" feststellen musste, dass die USA nicht mehr und vielleicht sogar nie das Land waren, das seinem Bild entsprach. Der nach 9/11 verabschiedete und nach wie vor gültige "Patriot Act" hatte die Grundlage für den radikalsten Umbau des vermeintlichen Anführers der freien Welt geschaffen, der die Vorstellungen der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika, wie sie in der Verfassung verankert sind, ins völlige Gegenteil umgewandelt hat.

Wollen wir wirklich alle Freiheiten aufgeben, für die unsere Vorfahren gekämpft haben, nur um Regierungen mächtiger zu machen?

Wenn es tatsächlich das ist, was die Bevölkerungen wollen, nämlich die Freiheiten in Austausch für vermeintliche Sicherheit aufzugeben, dann sollten es die Menschen aber auch selbst entscheiden können, meint der im russischen Exil lebende Whistleblower. Dann wäre die Preisgabe von Bürgerrechten wenigstens demokratisch legitimiert, so aber würde sie von den Regierungen einfach schleichend vollzogen.

Über sich selbst spricht Snowden nicht gern, das merkt man ihm an, auch ohne dass er es sagen muss. Trotzdem verriet er interessante Details von seiner Zeit am Flughafen in Moskau, wo er 40 Tage lang in der Schlafzelle eines Kurzzeithotels ausharren musste, bevor er schließlich politisches Asyl in Russland erhielt.

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Der Moderator fragte Snowden, ob der russische Geheimdienst ihn zu rekrutieren versucht hätte. Eine bewusste Anspielung von Holger Stark auf die von den USA gestreute Diffamierung, er hätte im Grunde für Russland Spionage betrieben. Snowden gab zu, dass er in der Tat vom russischen Geheimdienst am Flughafen angesprochen wurde. Aber, fügte er hinzu, die Tatsache, dass er heute in einer Zweizimmerwohnung in Moskau lebt, spräche nicht gerade von einem erfolgreichen Rekrutierungsversuch.

Die Russen hätten nach seiner Ablehnung der Kollaboration nicht gewusst, meinte Snowden, was sie mit ihm anfangen sollten:

Sie hatten genauso viel Angst vor mir wie ich vor ihnen.

Dem Kreml wurde aber schnell klar, dass eine Zusammenarbeit mit Snowden angesichts der Brisanz und der Tragweite seiner Enthüllungen sowie der Jagd nach ihm am Ende für Russland nur schädlich sein könnte. Als sich die europäischen Länder ihm politisches Asyl verweigert hatten, entschied sich die russische Regierung aus humanitären Gründen – und wohl auch um wenigstens etwas Kapital aus der Situation zu schlagen –, ihm Asyl zu gewähren und ihn einfach in Ruhe zu lassen.

Das war vor sechs Jahren. Seitdem lebt Snowden mit seiner Frau in Moskau ein zurückgezogenes, aber dennoch "normales Leben", wie er sagt. Soziale Kontakte zur russischen Umgebung suche er aber bewusst nicht, sagt er. Nicht, weil er etwas gegen sie habe, sondern weil die Menschen durch Kontakte zu ihm höchstwahrscheinlich selbst zu Zielscheiben für Überwachung und Verfolgung werden würden.

Die letzte Frage des Moderators galt dem Thema Asyl in Deutschland. Wie enttäuscht wäre Snowden von Angela Merkels Entscheidung, ihm kein politisches Asyl zu gewähren. Es sei "ok", antwortete er, aber man merkte ihm an, dass er die Angst der Europäer und ihre Weigerung, ihn aufzunehmen, doch nicht so gelassen hinnehmen kann. Dieselbe Frage wurde in der Bundespressekonferenz an den Regierungssprecher gestellt. Die Antwort war unmissverständlich und exemplarisch dafür, was Edward Snowden an Europa zu kritisieren hat: "Die Voraussetzungen für Asyl liegen nicht vor". Ob mit Merkel oder ohne.

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