Mitverschuldetes Schicksal? Polens Rolle im Zweiten Weltkrieg
von Wladislaw Sankin
Polen hat eine bewegende, dramatische Geschichte. Messianismus, Großmachtstreben, Hochkultur gehen mit Verlust eigener Staatlichkeit und politischen Abhängigkeiten einher. Es gilt nun auch offiziell als Formel, dass dieses Land wegen seiner "schwierigen Nachbarschaft", vor allem zu Deutschen und Russen, auf dem diplomatischen Parkett eine schonendere Behandlung verdiene.
In Russland ist das Bild von Polen zwiespältig. In der frühen Neuzeit standen Polen und Russland mehrmals jahrzehntelang miteinander im Krieg. Legendär war die polnische Einnahme des russischen Machtzentrums Moskauer Kreml in den Jahren 1610 bis 1612. Bislang und seither gelang dies keinem der anderen Invasoren in Russland. Und seit frühester Zeit haben sich viele polnische Eliten mit abstrusen russophoben Theorien hervorgetan.
Nach der Auflösung des Rzeczpospolita Ende des 18. Jahrhunderts wurden große Teile des Landes mit der Hauptstadt Warschau ein Teil des russischen Vielvölkerstaates. Teile der polnischen Eliten integrierten sich in die russische Obrigkeit, polnische Intellektuelle lehrten an russischen Universitäten, einige erreichten sogar Ministerämter in Sankt Petersburg. Einer der berühmtesten russischen Polen der frühen Sowjetzeit war der "eiserne" Feliks Dzierżyński, der Gründer des berühmt-berüchtigten Sicherheitsdienstes Tscheka der Bolschewiki, also des Vorläufers vom KGB.
Dasselbe Gymnasium wie Dzierżyński in Vilno (jetzt Vilnius, die Hauptstadt Litauens) besuchte Ende des 19. Jahrhunderts ein anderer berühmter Pole – der spätere Gründer des unabhängigen polnischen Nationalstaates Józef Piłsudski. Zur Zarenzeit war er Revolutionär und kämpfte gegen das Zarenreich, sein Lebensweg hatte Parallelen zum Leben Lenins.
Er träumte von einer neuen Rzeczpospolita, der "gemeinsamen Sache aller Polen", die sich vom Schwarzen bis zum Baltischen Meer erstreckt, die litauischen, belorussischen und ukrainischen Ländereien einschließen und Russland vom Resteuropa trennen sollte – als Intermarium. Revolutionäre Wirren in Russland nutzte Piłsudski für die Eroberung beträchtlicher ukrainischer und belorussischer Territorien. Im Frühsommer 1920 standen seine Streitkräfte in Kiew und Minsk.
Die Rote Armee schlug die polnischen Streitkräfte zurück, konnte jedoch die Landgewinne Piłsudskis nur zum Teil zurückerobern – so blieb fast ein Drittel des belorussischen Territoriums seinerzeit in polnischer Hand, in der Ukraine waren es ebenso die Regionen Wolhynien und Ost-Galizien. In diesen Gebieten begann die Polonisierung.
Seit Mitte der 1920er Jahren herrschte dann in Polen de facto eine Militärdiktatur, in der bis zu seinem Tod Marschall Piłsudski die Fäden der Macht in der Hand hielt. Nach der Machtübernahme durch die Nazis in Deutschland unterhielt Piłsudski durchaus gute Kontakte zu Hitler-Regierung. Und Polen war auch der erste Staat, der einen Nichtangriffspakt mit Hitler-Deutschland in Januar 1934 unterzeichnete – für damalige Zeit allerdings eine übliche Praxis, um einem drohenden Angriff des "Dritten Reiches" hoffentlich entgegenwirken zu können.
Obwohl Polen kurz danach auch den noch Jahre zuvor abgeschlossenen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion verlängerte, blieb die Ausrichtung der polnischen Politik weiterhin antisowjetisch. Sie basierte auf den antirussischen Vorbehalten, welche die polnischen Eliten über Jahrhunderte – trotz der vielfältigen geschichtlichen Verflechtungen – weiter pflegten. Deren Vorstellungen über die Wiederherstellung der Rzeczpospolita in den Grenzen des Jahres 1772 waren sehr lebendig – und gingen stets zu Lasten der von ihnen ersehnten Auflösung der UdSSR und Vereinnahmung des litauischen Territoriums.
Der russischer Historiker Michail Mjagkow, der wissenschaftliche Direktor der Militärhistorischen Gesellschaft, sagt im Gespräch mit RT, die Sowjetführung hätte in der Zwischenkriegszeit genug Gründe gehabt, in Polen eine ernstzunehmende Bedrohung zu sehen. Im Grenzgebiet zu Polen gab es immer wieder Provokationen und Scharmützel. Er wies dabei auf Dokumentenfunde der Roten Armee im Jahre 1945 hin, darunter aus dem Bestand des polnischen Generalstabs, die Karten mit detailliert aufgetragenen sowjetischen Verteidigungslinien in Weißrussland und der Ukraine enthielten. Dies lasse durchaus auf die Vorbereitung eines geplanten Angriffs schließen.
Die deutsche Führung wusste die antirussische Einstellung der polnischen Führung für sich zu nutzen und versuchte noch Anfang 1939, Polen sogar in ein Militärbündnis gegen die Sowjetunion einzubinden. Davor zeigte sich Polen bereits als bereitwilliger Partner Deutschlands und Ungarns bei der Aufteilung der Tschechoslowakei, als Polen nach dem "Münchner Abkommen" das tschechische Cieszyn-Gebiet (deutsch Teschen) für sich beanspruchte. Dieses kleinere Territorium mit einer starken Industrie war bereits einmal im frühen Mittelalter polnisch.
Nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen in die Tschechoslowakei und der Besetzung des Memel-Gebiets im heutigen Litauen war nun aber in der "Danzig-Frage" Polen plötzlich selbst dem starken deutschen Druck ausgesetzt. Hitler bot dem polnischen Außenminister Josef Beck bei dessen Besuch in Hitlers Anwesen auf dem österreichischen Obersalzberg in Januar 1939 im Gegenzug für die Rückgabe Danzigs durch Polen die vage Aussicht auf eine gemeinsame Aufteilung der Sowjet-Ukraine.
Polen ging darauf nicht ein, versperrte sich aber hartnäckig auch der Mitwirkung in den schwierigen Verhandlungen über eine französisch-britisch-sowjetische Allianz gegen Hitler. Zwar hatte der damalige britische Premierminister Neville Chamberlain noch Polen nach der Annexion und Auflösung der Tschechoslowakei Garantien für den militärischen Beistand im Falle eines Angriffs auf Polen gegeben.
Aber diese Hilfe konnte ohne eine Militärallianz mit der Sowjetunion nur wirkungslos bleiben, wie auch Briten und Franzosen wussten oder bald einsehen mussten. Ehe der deutsche Außenminister Ribbentrop in Moskau landen konnte, hat die Sowjetführung fast bis zum letzten Tag signalisiert, dass sie es mit dem Hilfsangebot an die Westalliierten bezüglich Polens es ernst meinte. Es waren jene Wochen vor Kriegsbeginn, als alle Optionen noch auf dem Tisch lagen.
Diese Allianz scheiterte sowohl an dem mangelnden Wunsch vor allem der Regierung in England, mit Sowjetunion zu kooperieren, als auch an den offenkundigen polnischen Ressentiments. Wenn es auch der Verhandlungsstrategie auf der englischen Seite zunächst "nur" um einen potenziellen Kriegsschauplatz tausende Kilometer weit vom eigenen Territorium auf der Insel ging, handelte es sich bei Polen vielmehr um das nackte Überleben ihres Staates. Trotzdem wollte die polnische Regierung auf keinen Fall zulassen, dass etwa Sowjettruppen im Kriegsfall als Verbündete auf polnischem Territorium erscheinen.
Es galt die Formel: "Lieber von Deutschen besiegt als von Russen gerettet werden". Auch nachdem der polnische Außenminister Beck von Engländer am 18. August Genaueres über Hitlers Angriffsplan erfahren hatte, sagte er dem britischen Botschafter, er habe
nicht die Absicht, einem einzigen Sowjetsoldaten zu erlauben, seinen Fuß auf die heilige Erde Polens zu setzen, komme es, was wolle."
Der Historiker Mjagkow betont, dass Polen sich bewusst gegen die Optionen einer kollektiven europäischen Sicherheitsarchitektur entschieden hatte. Kurz vor dem nun als unabwendbar zu befürchtenden deutschen Angriff auf Polen unterzeichnete die Sowjetführung einen Nichtangriffspakt mit Deutschland und sicherte sich dabei in einem mittlerweile noch berühmteren Geheimprotokoll die von Polen ehemals in den Jahren 1919 bis 1920 besetzten Gebiete wieder als seine vorläufige Interessensphäre.
Zwar galt das Vordringen der Sowjettruppen bis zur Curzon-Linie in Augen der Westmächte England und Frankreich als keine Aggression, nichtsdestotrotz wird dieser sowjetische Vorstoß im heutigen Polen als eine Handlung gesehen, die neben dem Hitler-Angriff zur "vierten Teilung Polens" geführt habe. Im heutigen Weißrussland wird die Rückholung der westlichen Territorien von Weißrussland als "Wiedervereinigung des belorussischen Volkes" gewertet.
In dem Krieg, den Hitler-Deutschland gegen Polen entfesselte, starben sechs Millionen polnische Bürger, davon etwa drei Millionen Juden. Das Leid Polens im Krieg ist unbestritten. Aber die Verluste Polens hätten weit geringer sein können, hätte die Armija Krajowa, die offizielle polnische Partisanenorganisation, die der polnischen Regierung im britischen Exil unterstand, mit den Sowjetischen Streitkräften und den prosowjetischen Partisanenverbänden Wojsko Polskoe besser kooperiert.
So war der Warschauer Aufstand in August/September 1944 auch deshalb gescheitert, weil dieser mit der Führung der vorrückenden Roten Armee nicht abgestimmt war. Derzeit werden damalige Fehler der polnischen Regierung in ihr Gegenteil umgedeutet und die Sowjetführung wird der Schuld des Scheiterns des Aufstandes bezichtigt – ein absurder Vorwurf, wenn man sich den enormen Blutzoll der Roten Armee bei der Befreiung Polens – etwa 600.000 Mann – in Erinnerung ruft.
In der damals hungernden Sowjetunion der Jahre 1944 und 1945 hatte die Hilfe an dem vom Krieg gebeutelten Polen höchste politische Priorität. Hundertausende Tonnen Lebensmittel und sonstiger Hilfsgüter wurden nach Polen geschickt. Heute lässt die polnische Führung hunderte Denkmäler für jene sowjetischen Befreier abreißen. In Anlehnung an das Becks-Zitat – dürfen sowjetische (russische) Soldaten auch dann keinen Fuß auf Polen setzen, wenn sie aus Stein und den für das polnische Leben Gefallenen gewidmet sind.
Viele zeitgenössische Beobachter der 1930er Jahre – auch in den befreundeten Staaten des Westens – stellten bei den polnischen Eliten falschen Stolz, Überheblichkeit und Selbstüberschätzung fest. Heute stellt die Regierung in Warschau mit einer bemerkenswert entschlossenen Bereitwilligkeit ihr Land für fremde Armeen als Aufmarschgebiet gegen Russland zur Verfügung. Noch beständiger als Grenzen und Regierungsformen können zweifellos in der Geschichte jedes Landes durchaus die Denk- und Verhaltensmuster von Eliten sein. Das gilt natürlich nicht nur für Polen. Aber an diesem Erinnerungstag, am 1. September lohnt es sich, dabei auch an Polen zu denken.
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