Sea-Watch 3, "Folterstaat" Venezuela, von der Leyen: Ein Wochenrückblick auf den medialen Abgrund
von Thomas Schwarz
Um das von Wirtschaftskrieg und Umsturzversuchen geplagte Venezuela war es in den vergangenen Wochen relativ ruhig geworden. So ruhig, dass man bereits fast an der Entschlossenheit und auch an der Fähigkeit der USA zweifeln konnte, endlich wieder einmal im "eigenen Hinterhof" über Wohl und Wehe von gewählten Regierungen zu bestimmen. In dieser Woche zeigte sich: Diese Ruhe war mutmaßlich trügerisch – jedenfalls, wenn man die neuerlichen medialen Angriffe gegen die Regierung Venezuelas als Maßstab nimmt. Denn die haben in den letzten Tagen wieder das gewohnte Maß erreicht.
UN-Bericht zum "Folterstaat Venezuela"
Bestimmend waren dabei zwei Vorgänge. Auf der einen Seite stand die Rückkehr des deutschen Botschafters nach Venezuela und eine damit verbundene (vorschnelle?) Hoffnung auf eine (relative) Normalisierung der Beziehungen zwischen den Ländern. Möglicherweise damit im Zusammenhang stand aber auf der anderen Seite eine politische und mediale Offensive gegen die venezolanische Regierung und ihre Sicherheitskräfte. Diese Offensive stützte sich vor allem auf einen Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet. Darin macht sie der Regierung Venezuelas schwerste Vorwürfe, die etwa das ZDF – wie fast alle großen Medien – übernommen hat. Der Sender verkündete unter der unmissverständlichen Überschrift, "UN-Bericht: Venezuela ist ein Folterstaat":
Außergerichtliche Hinrichtungen, Folter, systematische Unterdrückung der Opposition und der Einsatz der Sozialprogramme als Mittel der Kontrolle: Der Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin zur Lage in Venezuela ist ein politisches Debakel für die sozialistische Regierung von Präsident Nicolas Maduro in Caracas.
"Zustände wie in Syrien"
Zur (angeblichen) Bestätigung des Inhalts verweist das ZDF auf "renommierte Nichtregierungsorganisationen", die Ähnliches "seit Jahren aus und über Venezuela berichten" würden. Dieser unkritischen Haltung gegenüber schwersten Anschuldigungen schlossen sich fast alle Medien an, unter vielen anderen die taz und die Frankfurter Rundschau. Noch weiter als deutsche Medien wagten sich ausländische Zeitungen vor. So leitet die österreichische Presse aus dem Bericht eine "Schreckensherrschaft des Nicolás Mauro" ab. Und für die mexikanische Zeitung LA CRONICA DE HOY ist derweil klar:
In Venezuela wird gefoltert, und die Verantwortung dafür trägt Nicolás Maduro. Die Zahlen aus dem Bericht erinnerten an ein Bürgerkriegsland wie etwa Syrien. Wie Assad scheut Maduro auch nicht davor zurück, auf die eigene Bevölkerung zu schießen.
Die venezolanische Zeitung ANALITICA tritt erstaunlicherweise nebenbei den Beweis an, dass die behauptete "Unterdrückung oppositioneller Medien" anscheinend noch immer gar keine umfassende Wirkung zeigt:
Der Bruch zwischen Maduro und der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung ist inzwischen vollständig. Venezuela und Maduro passen nicht mehr zueinander. Die Probleme der Nation werden nicht von diesem Regime gelöst werden, sondern sich nur weiter verschärfen.
Was sagt denn die venezolanische Regierung dazu?
Und was sagt die venezolanische Regierung zu den Vorwürfen? Schwer zu sagen, denn deren kritische Stellungnahme wird, wenn überhaupt, nur selektiv und stark verkürzt zitiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Medien wird diese Erklärung im ZDF wenigstens erwähnt, ohne aber die wichtigen Details zu nennen:
Die venezolanische Regierung hat Änderungen an einem UN-Bericht über Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land verlangt. Der Bericht von UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet über Folter, sexuellen Missbrauch und ungesetzliche Tötungen sei einseitig und beschreibe nicht 'die Wirklichkeit in unserem Land', sagte Vize-Außenminister William Castillo. Er monierte schwere methodische Fehler und einen Mangel an Genauigkeit.
Wie kam der UN-Bericht eigentlich zustande?
Wie kam die UN-Kommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, überhaupt zu ihrem vernichtenden Urteil? Dazu schreibt die Frankfurter Rundschau:
Der Bericht Bachelets gründet sich im Wesentlichen auf ihrem dreitägigen Besuch in Venezuela vom 19. bis 21. Juni und Interviews mit 558 Opfern staatlicher Gewalt.
Bachelet hat sich also drei Tage in Venezuela aufgehalten und in dieser Zeitspanne das Pensum bewältigt, mit etwa 600 "Opfern staatlicher Gewalt" zu sprechen. Interessant wäre hier, wie daraus die verzehnfachte Zahl von über 5.000 angeblich "hingerichteten" Oppositionellen wurde. Und auch, wie Bachelet die Schuldfrage angesichts der gewalttätigen Eskalationen in Venezuela beantworten würde. Ebenfalls interessant ist, wie der Besuch von Bachelet überhaupt zustande kam. Das erfährt man nicht in den großen Medien, sondern etwa beim Portal Amerika 21. Demnach folgte die UN-Kommissarin einer Einladung der Regierung Venezuelas:
Venezuelas Präsident Nicolás Maduro empfingBachelet am Freitag im Präsidentenpalast Miraflores. Die UN-Kommissarin war einer offiziellen Einladung der venezolanischen Regierung gefolgt.
Dazu schrieb Amerika 21:
Die UN-Kommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, hat sich zum Ende ihres dreitägigen Besuchs in Venezuela mit einer differenzierten Sichtweise zur aktuellen Situation in dem südamerikanischen Land geäußert. Die ehemalige Präsidentin Chiles zeigtesich nach Treffen mit Vertretern von Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft aufgrund der humanitären Situation des Landes besorgt und rief zu einer friedlichen Lösung der Krise unter Beteiligung aller Akteure auf. Sie äußerte jedoch auch mit klaren Worten ihre Besorgnis wegen der negativen Auswirkungen durch die verhängten Wirtschaftssanktionen.
Kürzlich noch lobte die UN-Kommissarin Venezuelas Regierung – Wie kam es zu dem radikalen Sinneswandel?
Weiterhin lobte die UN-Kommissarin damals "die Bereitschaft der Regierung, einer Delegation den Zugang zu Gefängnissen zu ermöglichen, um die Haftbedingungen und den gesundheitlichen Zustand der Inhaftierten einschätzen zu können". Gleichzeitig pries die UN-Kommissarin die Bemühungen der venezolanischen Regierung, mittels von Sozialprogrammen im Umfang von 75 Prozent des Staatshaushaltes den universellen Zugang der Bevölkerung zu den sozialen Grundrechten sicherzustellen. Die Ursachen für die wirtschaftliche Krise, die sich seit dem Jahr 2013 dramatisch verschärft habe, seien vielfältig. Besorgt zeigte sich Bachelet etwa über die jüngsten US-Sanktionen gegen den Export von Erdöl und den Handel mit Gold, die die ökonomische Krise nur verschärften.
Das klingt alles erheblich ausgewogener als das, was Michelle Bachelet nun der UNO vorgelegt hat. Es scheint also zwischen dem Besuch des Landes und der Vorlage des Berichts ein radikaler Sinneswandel bei der UN-Kommissarin stattgefunden zu haben. Weder die Einladung durch die Regierung noch die zunächst teils positiven Äußerungen Bachelets spiegeln sich in den aktuellen Berichten wider.
Das Medienversagen der Woche: Bühne frei für den "demokratischen" Putschisten
Der wohl unverschämteste Medienbeitrag der Woche zum Thema Venezuela kommt vom Deutschlandfunk. Das Interview mit dem am Putsch von 2002 beteiligten venezolanischen Ex-Offizier Otto Gebauer zeigt eine skandalöse Interviewführung. Der geständige Putschist darf hier etwa unwidersprochen die deutsche LINKE diffamieren und sich als "Demokrat" bezeichnen. Dieses Dokument des medialen Totalversagens findet sich hier.
Wie sich Gebauer in Deutschland als offizieller Vertreter venezolanischer Institutionen aufspielen darf, hatte RT bereits hier beschrieben und kommentiert.
Gutes Timing: Soll UN-Bericht Annäherung mit Venezuela bremsen?
Wie gesagt: Diese Medien- und UNO-Offensive entfaltet sich just zu jenem Zeitpunkt, da sich die Beziehungen zwischen einigen EU-Ländern und der rechtmäßigen Regierung Venezuelas zu normalisieren schienen, wie man erneut fast ausschließlich bei Amerika 21 nachlesen kann:
Vertreter des deutschen Auswärtigen Amtes haben sich am Montag mit dem venezolanischen Vizeaußenminister Yván Gil getroffen und damit ein erstes diplomatisches Zeichen der Entspannung in Richtung der Regierung von Nicolás Maduro gesetzt. Diese reagierte umgehend und widerrief die im März getätigte Ausweisung des deutschen Botschafters in Venezuela, Daniel Kriener. Bereits in der vergangenen Woche war der Außenminister von Venezuela, Jorge Arreaza, mit seinen Amtskollegen aus Spanien und Portugal zusammengekommen. Somit scheinen einige Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) von ihrer umstrittenen Haltung abzurücken, den selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó und die von ihm berufenen Vertreter als einzig legitimierte venezolanische Gesprächspartner anzuerkennen.
Man kann nur hoffen, dass sich diese EU-Regierungen nun nicht von der aktuellen mutmaßlichen Kampagne durch Medien, UNO und Politik bremsen lassen.
Von der Leyen: Die EU-Posten und die Krokodilstränen für die "EU-Demokratie"
Wer sich von der etwa hier beschriebenen Show um die EU-Wahl und die "Spitzenkandidaten" hat beeindrucken lassen, für den muss das folgende Postengeschacher und die Nominierung Ursula von der Leyens ein böses Erwachen gewesen sein. Diese Formulierung vom "Erwachen" setzt aber bereits einen "Schlaf" voraus. Jene Bürger aber, die für die allseits angestimmten Schlaflieder nicht empfänglich waren, empfinden das aktuelle Pokern der Hinterzimmer lediglich als logische Fortsetzung der leidlich bekannten internen EU-Machtkämpfe.
Dass sich diese desillusionierte Haltung nicht in den deutschen Medien spiegelt, ist allerdings auch erwartungsgemäß. So vergießt etwa die Neue Osnabrücker Zeitung Krokodilstränen für die "EU-Demokratie":
Die Tatsache, dass Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Jean-Claude Juncker beerben soll und nicht jemand, der sich bei der Europawahl behauptet hat, sendet ein fatales Signal. Die EU-Lenker entsorgen ohne Not das Spitzenkandidatenprinzip, das doch erst mit für eine steigende Wahlbeteiligung gesorgt hatte.
Der Südkurier beklagt ebenfalls:
"Mit Ursula von der Leyen als Nachfolgerin für Jean-Claude Juncker war nun wahrlich nicht zu rechnen. Ihre Nominierung erlaubt es allen, ihr Gesicht zu wahren. (…) Der Haken ist nur, dass sie mit Demokratie nichts zu tun hat."
Und auch die Märkische Oderzeitung erlebt erst jetzt ihr "Erwachen":
Das Parlament, das eben noch einen Vertrauensvorschuss erhalten hatte, torpediert auf beispiellose Weise zerstritten den demokratischen Prozess, einen Kommissionspräsidenten zu benennen.
Analytischer geht da schon die Leipziger Volkszeitung ran, die schreibt:
Angela Merkel, maulten Missgünstige, sei in der EU isoliert. Deswegen könne sie, logisch, auch beim Ringen um die Brüsseler Posten nichts durchsetzen. In Wirklichkeit hat die Kanzlerin nun einen Riesenerfolg errungen. Ihre langjährige Vertraute Ursula von der Leyen soll die EU-Kommission führen. Zum ersten Mal seit den 50er Jahren kommt Deutschland in Brüssel zum Zug.
Dass die Zeitung mit dieser Deutung mutmaßlich auf dem Holzweg ist, hat Jens Berger auf den NachDenkSeiten beschrieben, der etwa hier und hier den Fall "von der Leyen" näher beleuchtet.
Demontieren Transatlantiker momentan die Transatlantikerin?
Einen "schweren Machtkampf" in der EU wünscht sich erstaunlicherweise die Süddeutsche Zeitung in fast schon fatalistischer Manier herbei. Die Zeitung empfiehlt den Europaabgeordneten:
Sie sollten von der Leyen durchfallen lassen. Gewiss, das würde in Zeiten von Brexit, Trump, Klimawandel und einem aggressiven China die EU in einen schweren Machtkampf stürzen. Aber da muss Europa durch. Nur eine wirklich demokratische Union, in der die Bürger das entscheidende Wort sprechen und das Parlament das Machtzentrum ist, kann aus künftig 27 Staaten mit egoistischen Regierungen eine Einheit formen und so die genannten Herausforderungen bestehen.
Doch warum fordern ausgerechnet die mutmaßlichen "Transatlantiker" von der Süddeutschen Zeitung diese Höchststrafe für die mutmaßlich vorbildliche "Transatlantikerin" Ursula von der Leyen? Allgemein irritiert aktuell ein bisschen, dass vor allem US-orientierte Blätter wie SZ oder Spiegel die doch weithin als US-orientiert beschriebene Ursula von der Leyen vor der EU-Abstimmung besonders hart kritisieren - beziehungsweise ihr "schweres Erbe" für die Bundeswehr und das Verteidigungsministerium, wie etwa ganz aktuell hier oder hier oder hier zu lesen ist.
Die "Sea-Watch 3" und die Moral
Anlässlich der vorübergehenden Verhaftung der Kapitänin der "Sea-Watch 3" wurde in deutschen Medien in dieser Woche ein wahres Feuerwerk des rigorosen Moralismus abgebrannt. Das muss in der Gleichförmigkeit hier nicht protokolliert werden. Als Beispiel sei etwa ein Gastbeitrag in der Zeit zitiert:
Die Pflicht zum Ungehorsam gilt nicht nur für tyrannische oder totalitäre Systeme. Sie ist das Salz der Demokratie. Die Bürger sind keine Untertanen. Sie brauchen ein Gesetz, das die verfassungsmäßigen Grenzen überschritten hat, nicht unterwürfig zu akzeptieren. Als ob es natürlich wäre, die Rettung zu einem Straftatbestand zu machen! Als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre, die Ethik auf den Kopf zu stellen: Wer sich dazu verpflichtet, Menschenleben zu retten, macht sich schuldig, wenn er dies unterlässt. Eine Umkehrung ist nicht akzeptabel.
Das "kalte" Beharren auf dem Rechtsstaat
Dieser anscheinend eindeutigen, dadurch aber nicht weniger vereinfachenden Sicht steht ein vielerorts als "kalt" empfundenes Beharren auf den Regeln des Rechtsstaats gegenüber, das ebenfalls Züge der Vereinfachung trägt. Dazu soll hier beispielhaft aus der Welt zitiert werden:
Wenn ein deutscher Kapitän beliebigen Geschlechts das Verbot, in einen Hafen zu fahren, missachtet und ein italienisches Zollboot bedrängt, ist das unzweifelhaft Widerstand gegen die italienische Staatsgewalt und strafbar. Wenn er oder sie ohne Genehmigung Ausländer in den Hafen bringt, ist das zweifellos Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Der italienische Innenminister Salvini, dem meine Sympathie nicht gehört, fragt nicht zu Unrecht, warum ein in den Niederlanden registriertes und von einer deutschen Besatzung betriebenes Schiff die Schiffbrüchigen nicht in die Niederlande oder nach Deutschland transportiert. Warum eigentlich nicht?
Deutschland verteilt mal wieder Noten
Einen zusätzlichen Aspekt nennt die taz in einem Gastkommentar:
Wieder mal hat Deutschland Noten verteilt. Und wieder mal ist Italien durchgefallen. Etwas weniger Selbstgerechtigkeit würde Deutschland und Europa guttun.
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