Stanislaw Petrow in Oberhausen – Warum im Ruhrpott ein Denkmal für den Russen steht

Am zweiten Todestag wurde zu Ehren des Mannes, der im Herbst 1983 durch besonnenes Handeln vermutlich einen Atomkrieg verhinderte, in Oberhausen das erste Denkmal weltweit enthüllt. Warum? Dahinter verbirgt sich eine herzzerreißende deutsch-russische Geschichte.
Stanislaw Petrow in Oberhausen – Warum im Ruhrpott ein Denkmal für den Russen steht

von Leo Ensel

So hatte sich der Oberstleutnant a.D. der Sowjetarmee diesen Samstag mit Sicherheit nicht vorgestellt. An jenem Mittag des kalten 21. November 1998 saß er alleine – und seit dem frühen Tod seiner geliebten Frau anderthalb Jahre zuvor zunehmend vereinsamt – in der Küche seiner 60 Quadratmeter großen Plattenbauwohnung in Frjasino nördlich von Moskau, als es plötzlich an der Wohnungstür klopfte. Stanislaw Petrow öffnete und draußen im Treppenhaus standen zwei Männer, Mitte 40.

"Are you Mr. Petrow?" – Der ehemalige Offizier der Sowjetarmee nickte. – "This is Mr. Höhn and I am Mr. Schumacher. We come from Germany. Only to say 'Thank you'! Not more." – Petrow blickte einen Moment erstaunt auf, dann lachte er. – "Come in!" – Die drei begaben sich in die sieben Quadratmeter große Küche, Petrow setzte in seinem Kocher Wasser für den Instantkaffee auf, und Karl Schumacher legte einen Zeitungsausschnitt aus der Bild-Zeitung auf den Tisch. "Verarmt und traurig" stand dort in dicken Lettern. Und obendrüber in etwas kleineren Buchstaben: "Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte."

Am Anfang war die Bild!

Rückblende. Am 8. Oktober 1998 hatte der Oberhausener Bestatter Karl Schumacher diesen kurzen Artikel in Deutschlands auflagenstärkstem Boulevardblatt gelesen und war, wie er später schrieb, "wie vom Donner gerührt". Damals war die mittlerweile zu recht berühmt gewordene Geschichte von der Nacht vom 26. September 1983 noch völlig unbekannt: Als diensthabender Offizier im sowjetischen Raketenabwehrzentrum bei Moskau hatte Petrow die Nerven behalten, als das Frühwarnsystem den Start einer amerikanischen Interkontinentalrakete meldete. Er hielt auch dann noch an seiner Einschätzung fest: Fehlalarm infolge Computerirrtums, als das System unmittelbar darauf noch vier weitere Male Alarm schlug – und er behielt recht!

Anders als 99 Prozent seiner Zeitgenossen hatte Schumacher den Mut, Eins und Eins zusammenzuzählen: "1983 wohnten wir nur etwa 500 Meter von der Gute-Hoffnungshütte (GHH) entfernt, die damals noch ein Stahlkonzern von Weltgeltung war. Ein Volltreffer einer sowjetischen Atomrakete auf die GHH hätte so auch für mich und meine Familie das Ende bedeutet. Und nun las ich, dass dieses Szenario beinahe wahr geworden wäre, hätte es damals nicht einen gewissen Herrn Petrow, Oberstleutnant der Sowjetarmee, gegeben, der gerade dies verhindert hatte." Und eben dieser Mann, der durch seine Besonnenheit die Welt vor dem Untergang bewahrt hatte, sollte – laut Zeitungsbericht – nur etwa 15 Jahre später in bescheidensten Verhältnissen in einem Vorort von Moskau sein Dasein fristen!

Ein Flug nach Moskau ins Blaue

Der Gedanke ließ Schumacher keine Ruhe mehr: Er musste etwas für den Mann tun, dem er und Millionen, gar Milliarden andere Menschen ihr Leben verdankten! Nach zwei Wochen Telefonaten mit Bild, Hamburg, Berlin, Manchester, London und Moskau hatte er endlich die Adresse: 141195 Frjasino bei Moskau, ulitsa 60 let SSSR, d 1, kw 152. Telefonisch Kontakt mit Petrow aufzunehmen, war unmöglich, da sein Anschluss nicht funktionierte. Schumacher sprach seinen Freund Helmut Höhn an, der ein paar Brocken Russisch beherrscht, und am Freitag, den 20. November 1998, flogen die beiden auf gut Glück für ein Wochenende nach Moskau.

Und sie hatten Glück. Nicht nur, dass der Taxifahrer – ohne Navi, versteht sich! – die Adresse in dem riesigen Gebäudekomplex, 50 Kilometer nördlich vom Moskauer Stadtzentrum schließlich fand; nicht nur, dass Petrow tatsächlich zuhause war; auch die 'Chemie' zwischen den dreien stimmte auf Anhieb! Der passionierte Raucher Karl Schumacher: "Am besten hat mir sein Aschenbecher gefallen. Und dann diese Erfahrung: Diesen Mann gibt es wirklich!" Fast drei Stunden lang radebrechten die drei bei Instantkaffee im Zigarettenqualm auf Russisch und Englisch in Petrows mit 25 Grad für deutsche Verhältnisse reichlich überheizten Miniküche – nicht über die Nacht, sondern über ihre Familien und das aktuelle Leben in Russland und Deutschland. Dann stand der Plan fest: Petrow sollte für zwei Wochen nach Oberhausen kommen! Schumacher stattete den Oberstleutnant a. D., der sich von seiner damaligen 1000-Rubel-Rente gerade mal zehn Tassen Kaffee in einem Hotel im Moskauer Zentrum hätte leisten können, mit den notwendigen finanziellen Mitteln aus – allerdings galt es noch mindestens eine größere Hürde zu nehmen: Petrow besaß gar keinen Pass und wusste nicht, ob er als ehemaliger Geheimnisträger überhaupt eine Genehmigung erhalten würde, sein Land für 14 Tage zu verlassen. (Aus genau diesem Grunde hatte Petrow selbst seiner Ehefrau niemals etwas von seiner weltrettenden Entscheidung erzählt.)

Der Held, der keiner sein wollte, in Oberhausen

Und wieder klappte alles: Am 8. April 1999 war der Ex-Sowjetoffizier zum ersten Mal in seinem Leben im Ausland, will sagen: in Oberhausen! Schumacher organisierte ein äußerst vielseitiges lokales Programm für den Retter der Welt: Besuche im Bottroper Movie-Park, im Tiergehege des Oberhausener Kaisergartens, ein Blueskonzert, Visite in einer Oldtimerwerkstatt und bei der Filiale der örtlichen Volksbank, ein Blick vom Gasometer. Schumacher: "Ich nahm ihn überall hin mit. Er interessierte sich einfach für alles! Er pfiff sogar ein Fußballspiel an, das mein Sohn als Schiedsrichter leitete. Und musste ich zum Zahn- oder Augenarzt, dann ließ ich ihn, Petrow, gleich mit untersuchen." Natürlich durfte ein Empfang beim Bürgermeister im Rathaus mit Vertretern der Parteien nicht fehlen, ebenso eine Geschichtsstunde, bei der Petrow vor Schülern des örtlichen Sophie-Scholl-Gymnasiums sprach sowie Interviews für den WDR und SAT1. Nur Stern TV sagte ab, da man dort für den entsprechenden Abend "Wichtigeres" (nämlich einen Bericht über einen mobilen Pudelfriseur!) ins Programm genommen hatte. Dafür berichtete die lokale Presse ausführlich über den damals noch so gut wie unbekannten Helden, der keiner sein wollte.

Schumacher fuhr mit Petrow quer durchs Ruhrgebiet bis zum Kölner Dom – kurz: er zeigte ihm all das, was es aufgrund Petrows weltrettender Entscheidung noch gab! "Der Besuch tat ihm sichtlich gut. Am wohlsten aber", schmunzelt Schumacher, "hat er sich gefühlt, als meine Mutter, die damals noch lebte, ihn im Ruhrpott-Slang anknuffte: 'Stanislaw, ob Du die Welt jerettet hast oder nicht, dat intressiert mich jetzt überhaupt nicht! Du isst jetzt meine Erbsensuppe und dann sagste mir, ob se Dir jeschmeckt hat!' "

Als Stanislaw Petrow zwei Wochen später wieder nach Moskau zurückflog, war der Grundstein für eine deutsch-russische Freundschaft gelegt, wie sie zauberhafter nicht sein könnte. Und nicht nur das: Auch infolge dieser ersten Veröffentlichungen zog die Geschichte um Petrow langsam international Kreise. Acht Jahre später, 2004, wurde ihm im UN-Hauptquartier in New York der World Citizen Award verliehen, es folgten in Deutschland 2011 der Deutsche Medienpreis mit einer Laudatio von Ex-Bundespräsident Roman Herzog, und im Februar 2013 der Dresdner Friedenspreis. Es wurde auch ein abendfüllender Film über ihn gedreht, den man allerdings besser vergessen sollte!

Der einsame Tod des Mannes, der die Welt gerettet hatte

Am 7. September 2017 rief Karl Schumacher in Frjasino an, um Petrow, wie jedes Jahr, zum Geburtstag zu gratulieren. Am anderen Ende der Leitung hörte er eine ihm unbekannte Stimme in gebrochenem Englisch: "Dmitrij here. Father dead!" Stanislaw Petrow, war – wie sich nun herausstellte – bereits am 19. Mai desselben Jahres verstorben und im engsten Familienkreis in Frjasino beigesetzt worden. Durch die Traueranzeige, die Schumacher zwei Tage später in der WAZ Oberhausen veröffentlichte, erfuhr die Welt mit einer Verspätung von dreieinhalb Monaten vom einsamen Tod des Mannes, der die Welt gerettet hatte. Wenige Tage später stand Schumachers Telefon nicht mehr still: Nachrichtenagenturen rund um den Globus wollten Einzelheiten wissen, die Weltpresse in 150 Staaten berichtete.

Damit aber war Schumachers Einsatz für seinen russischen Freund noch lange nicht beendet. Am ersten Jahrestag des Todes von Petrow war er mit Helmut Höhn wieder in Frjasino. Diesmal legten die beiden auf dem Grab Petrows und seiner Frau Raissa eine Marmorplatte nieder mit der kurzen Inschrift in kyrillischen und lateinischen Lettern: "Stanislaw Petrow, 7.9.1939 – 19.5.2017. Спасибо – Thank You – Danke".

Das erste Denkmal weltweit

Vorletzten Sonntag enthüllte nun Schumacher an Petrows Todestag das weltweit erste Denkmal für den Retter der Welt: eine Gedenk-Stele in deutscher, englischer und russischer Sprache im Oberhausener Park an der Vestischen Straße – also dort, wo Petrow im April 1999 ein TV-Interview über die Ereignisse der Nacht vom 26. September 1983 gegeben hatte. Eingeladen waren aus Frjasino Petrows Kinder Dmitrij und Elena mit Ehemann. Alle Parteien im Oberhausener Stadtrat (das hatte es dort noch nie gegeben!) hatten Schumachers Initiative einstimmig zugestimmt. Überflüssig zu betonen, dass Schumacher sämtliche Kosten für das Denkmal und die Einweihungsfeier (inclusive Musikband), an der um die 150 Personen teilnahmen, aus eigener Tasche übernahm.

Manche nennen Karl Schumacher den "Mann, der den Mann gerettet hat, der die Welt gerettet hat". Schumacher, durchaus mit solidem Selbstbewusstsein ausgestattet, mag es hier lieber ein paar Nummern kleiner: "Ich bin der Mann, der 'Danke!' gesagt hat." Und er findet auch sonst die passenden Worte. Seine Laudatio auf den russischen Freund gipfelte in der folgenden lapidaren Sentenz: "Der Mensch ist ein Versuch Gottes oder der Natur. Dank Stanislaw Petrow geht dieser Versuch weiter."

Genau das richtige Signal in dieser neuen spannungsgeladenen Zeit. Hoffen wir, dass es gehört wird!

 

Der Autor

Dr. Leo Ensel ("Look at the other side!") ist Konfliktforscher und interkultureller Trainer mit Schwerpunkt "Postsowjetischer Raum und Mittel-/Ost-Europa". Autor einer Reihe von Studien über die wechselseitige Wahrnehmung von Russen und Deutschen. Im Frühjahr 2013 nahm er Kontakt mit Stanislaw Petrow auf und besuchte ihn im Sommer 2016 in seiner Wohnung in Frjasino bei Moskau.

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