Meinung

Nicaragua: Präsident Ortega lässt Gefangene frei - Opposition zeigt sich unnachgiebig

Der nicaraguanische Präsident Daniel Ortega lässt weitere hundert Gefangene frei. Trotz des brüchigen Dialogs mit der Opposition hält die Regierung ihre Zusagen ein. Gewalt-Provokationen gefährden den Fortgang der Gespräche.
Nicaragua: Präsident Ortega lässt Gefangene frei - Opposition zeigt sich unnachgiebig Quelle: Reuters

von Maria Müller

Nach einer mehrmonatigen Unterbrechung des Dialogs rief die nicaraguanische Regierung von Daniel Ortega am 21. Februar zur Wiederaufnahme von Gesprächen mit der Opposition. Als Zeichen des guten Willens wurden am 26. März, einen Tag vor Verhandlungsbeginn, hundert Gefangene freigelassen. Diese waren im Rahmen der teilweise gewaltsamen Proteste seit August 2018 inhaftiert, einige waren bereits verurteilt worden.

Am 15. März kamen erneut 50 Gefangene frei, am 6. April weitere 50 Inhaftierte, und am 16. April nochmals 36 Personen. Am 20. Mai hat die Regierung wieder hundert Inhaftierte aus den Zellen entlassen. Damit hat es insgesamt 336 Freilassungen gegeben.

Die Zahlen wurden am Verhandlungstisch gemeinsam geprüft. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (CICR) kontrollierte den Vorgang. Sowohl von der Regierung als auch von der Opposition erhielt die Organisation Listen von Inhaftierten, um die jeweils unterschiedlichen Angaben zu überprüfen. Es stehen noch 150 Personen auf der letzten Liste. Der vereinbarte dreimonatige Zeitrahmen für das gesamte Verfahren endet am 18. Juni.

Die Opposition kritisierte bisher, dass alle Freilassungen überwiegend in Hausarrest umgemünzt wurden. Sie beschuldigt die Regierung deshalb, die Dialogvereinbarungen nicht einzuhalten und fordert eine Generalamnestie. Die Regierung argumentiert hingegen, dass die Freilassungen im Rahmen des geltenden Rechtssystems durchzuführen sind, welches diese Verfahrensweise erlaubt. Sie bezieht sich damit auf die Dialogvereinbarungen.  

Insgesamt ein riskantes Unterfangen, da sich unter den "politischen" Gefangenen Personen befinden, die wegen schwerer Delikte verurteilt wurden. Es hat Tote auf beiden Seiten gegeben, es gab Schiessereien zwischen Polizisten und bewaffneten Demonstranten. Sandinisten und Bauernführer wurden entführt, gefoltert und getötet. Das Gebäude des Familienministeriums brannte, auch mehrere öffentliche Gebäude, sogar ein Museum. Auch die nationale Kooperativen-Bank, Krankenhäuser, Gesundheitsposten, zwei Radiosender, Straßen und Infrastruktur fielen den "demokratischen" Brandsätzen zum Opfer.

Wo Barrikaden aufgetürmt wurden, beobachteten die Anwohner kriminelle Banden aus Honduras und El Salvador. Die Menschen schlossen sich aus Angst in ihren Häusern ein. In manchen Stadtvierteln hatten sich Nachbarn organisiert, um die öffentliche Infrastruktur vor Vandalismus und Sabotageaktionen zu schützen. Dabei kam es zu bis heute ungeklärten Todesfällen.

Entgegen allen Falschmeldungen in den internationalen Medien hat die sandinistische Regierung die OAS explizit um eine Delegation von "Zeugen und Begleitern" unter Leitung des früheren uruguayischen Verteidigungsministers Luis Rosadilla ersucht. Sie traf am 11. März in der Hauptstadt Managua ein, nimmt seitdem an den Sitzungen teil und konnte in mehreren Krisensituationen auf die Fortsetzung der Gespräche hinwirken. 

Die Leitmedien, darunter auch die DW, lanzierten dazu eine absurde Falschmeldung: Ortegas Regierung verweigere die Teilnahme von OAS-Beobachtern, und verhindere so den Dialog.

Am Verhandlungstisch sitzen der nicaraguanische Außenminister Denis Moncada, der Abgeordnete und Verfassungsrechtler Edwin Castro und drei weitere Politiker, die der sandinistischen Partei nahestehen. Die Delegation der Zivilgesellschaft mit Namen "Bürgerallianz" setzt sich aus Sprechern des Unternehmerverbands COSEP, aus mehreren Studentenführern und Vertretern von Oppositionsgruppen zusammen. Außerdem ist neben dem Abgesandten des Papstes Nuntius Waldemar Stanislaw Sommertag die OAS-Begleitergruppe zugegen. Bis zum 9. Mai fanden 35 Treffen statt.   

Die ersten Zusammenkünfte waren relativ erfolgreich. Man konnte sich bis zum 20. März auf einen gemeinsamen Arbeitsprozess einigen, der in der folgenden Themenliste festgehalten ist:

- Verbesserung des demokratischen Systems;

- Wahlreformen für kommende Wahlprozesse;

- Stärkung der Bürgerrechte und Rechtsgarantien;

- Freilassung aller Personen nach geltendem Recht, die ab dem 18. April 2018 im Zusammenhang mit den damaligen Ereignissen inhaftiert wurden. Umsetzung in 90 Tagen;

- Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung;

- Mechanismen, mit denen die erzielten Vereinbarungen umgesetzt werden können;

Die Teilnehmer des Dialogs verpflichten sich, auf internationaler Ebene Schritte zu unternehmen, um die notwendige Unterstützung zur Umsetzung der Übereinkünfte zu erzielen.

Sobald konsensfähige Vereinbarungen erreicht sind, werden die Dialogpartner einvernehmlich die internationale Staatengemeinschaft auffordern, die Sanktionen zu beenden. Das Recht auf menschliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Nicaragua muss gestärkt und die gefährdeten Bevölkerungsgruppen müssen unterstützt werden.

Die Dialogparteien kommen überein, die Fragen der Freilassung aller Gefangenen und Inhaftierten sowie die Wahlreformen unverzüglich und parallel zu erörtern.

Verhandlungsprozess nach Ausbruch neuer Gewalt gefährdet

Doch bereits im April kam die anfängliche Konsensbereitschaft wieder ins Stocken. Gewaltaktionen und Demonstrationen eines Teils der Opposition ließen das politische Klima eskalieren, wobei die Reaktionen der Polizei vor den Kameras der internationalen Presse teils zu Recht oder zu Unrecht als übermäßige Gewaltanwendung angeprangert wurde.

Die Provokateure auf der Straße konnten den Verhandlungsprozess so mehrfach zum Erliegen bringen, obwohl er durchaus Ergebnisse zeigte. Sie heizten den Konflikt immer wieder neu an, sobald sich die Situation beruhigte. Entsprechend boykottierte die Oppositionsallianz häufig die vereinbarten Gesprächstermine. Die Regierung kritisierte schließlich in einer Erklärung am 15. Mai die mangelnde Bereitschaft der Opposition, die insgesamt elf Mal bei den gemeinsam festgelegten Treffen fehlte. Auch würde sie häufig Vereinbarungen von einem Tag auf den anderen wieder verwerfen.

Die Oppositionszeitung La Prensa verunglimpfte mit Karikaturen den Vertreter des Papstes, der bisher eine engagierte Vermittlerrolle eingenommen hatte. Mehrere politische Parteien unterstützten daraufhin den päpstlichen Unterhändler – einige radikale Oppositionsgruppen kritisieren ihn jedoch weiterhin.

Die Oppositionsallianz am Tisch besteht aus heterogenen Kräften mit unterschiedlichen Interessen und Motiven. Während der Unternehmerverband anfänglich eine konstruktive Entwicklung und die Wiederherstellung des Friedens suchte, ging es anderen Gruppen bestenfalls darum, alle Gefangenen freizubekommen, um dann den Kampf zum Sturz der Regierung wieder aufzunehmen.

Es ist naheliegend, dass auch im Lager der sandinistischen Kräfte heterogene Positionen vorhanden sind. Nicht nur in Bezug auf den Verhandlungsprozess, von dem Manche befürchten, dass die Sanktionen trotz demokratischer Reformen bestehen bleiben, sondern auch hinsichtlich der Einschätzungen dieser neuen Aufstandsbewegung in Nicaragua.

In den 1980er-Jahren gab es dort einen neunjährigen Krieg gegen die von den USA bewaffnete und finanzierte Söldnerarmee der "Contras".  Er forderte Tausende von Opfer. Diejenigen, die das erlebt haben, wollen das Land nicht einer neuen "Contra-Bewegung" überlassen. Manche interpretieren die aktuelle Entwicklung unter diesem Gesichtspunkt. Auch die "freiwilligen Hilfstruppen" der Polizei dürften sich aus dem Spektrum der früheren Kämpfer gegen die Contras rekrutieren. Ihnen wird ein Teil der Toten angelastet. Möglicherweise agieren auch Fraktionen im Staatsapparat außerhalb der Kontrolle der Regierung. Für diese Hypothesen gibt es zwar keine klaren Beweise, doch sie drängen sich aufgrund der traumatischen Geschichte des Landes auf.

Opposition ruft zum Generalstreik auf

Noch während dieser Text geschrieben wird, spitzt sich die Lage erneut zu. Anstatt die Freilassung der einhundert Gefangenen als Zeichen zu werten, dass die Regierung sich an die gemeinsam unterzeichneten Vereinbarungen hält, ruft die Opposition am vergangenen Dienstag zum Generalstreik auf. Sie erklärt außerdem, sich von der Dialogrunde zurückzuziehen. Grund: die Regierung müsse sofort die restlichen Gefangenen freilassen – obwohl der 18. Juni beiderseitig als Stichtag vereinbart war. Außerdem fordert man nun wieder vorgezogene Wahlen. Das bedeutet, dass die Opposition die gesamte Verhandlungsarbeit der vergangenen drei Monate innerhalb von Stunden zunichte macht.  

Sprecher der "Bürgerallianz" bei der Dialogrunde ist der Unternehmer Juan Sebastián Chamorro. Er erklärte gegenüber AFP, dass die größten Unternehmerverbände den Generalstreik unterstützen... Es verwundert, wie kurzfristig die bisherigen Friedensbemühungen über Bord geworfen werden.

Zwei Ereignisse lösten den plötzlichen Umschwung aus. Zum einen verschwand die Studentenführerin Zayda Hernández zwischen Freitag und Sonntag letzter Woche. Ihre angebliche Entführung ging wie ein Lauffeuer durch die Medien, man beschuldigte natürlich den "Diktator" Ortega. Am Sonntagmittag tauchte sie wieder auf und erklärte, sie sei von Unbekannten verhört und bedroht worden. Man habe sie mit Kissen geschlagen, um keine Spuren zu hinterlassen. Angebliche Folterspuren bestanden aus leichten Blutergüssen an den Handgelenken, die von Plastikfesseln stammen sollen.

Zayda Hernández besuchte im November 2018 in Washington den OAS-Generalsekretär Luis Almagro und die Autorin und Unterstützerin des Nica-Act-Gesetzes (Anm.: US-amerikanisches Gesetz über Investitionsbeschränkungen in Nicaragua), die Abgeordnete Ros Lethinen. Außerdem traf sie sich mit den Senatoren Marco Rubio, Berater von US-Präsident Donald Trump in Lateinamerika-Fragen, und Ted Cruz. Beide sind energische Befürworter von Sanktionen gegen Nicaragua und Venezuela und einer militärischen Intervention in Venezuela.

Angesichts der unmittelbar anstehenden Freilassung von einhundert Oppositionsgefangenen, von der sich die Regierung eine positive politische Wirkung erhoffte, steht eine solche Entführungsaktion im offenen Widerspruch dazu. Es drängt sich daher der Verdacht auf, dass es sich um eine Fake-Aktion handelte, um den Unmut gegen die Regierung weiter zu schüren.   

Zum anderen soll es am 16. Mai, während eines Besuchs des Rot-Kreuz-Komitees im Gefängnis "Das Modell", zu Auseinandersetzungen zwischen Wärtern und Gefangenen gekommen sein. Dabei soll der Gefangene Eddy Montes von einem Beamten erschossen worden sein. Der US-amerikanische Staatsbürger stand auf der Liste der Freizulassenden. Der Fall wird noch untersucht. Auch hier macht die Opposition die Regierung verantwortlich.  

Das Land kommt nicht zur Ruhe. Vieles wirkt wie eine Wiederholung der tragischen Ereignisse in Venezuela, so auch die Tatsache, dass sich in einem wachsenden Teil der Bevölkerung Zweifel und Ablehnung gegen die Gewaltaktionen breit machen. Die Opposition verliert zunehmend ihren Wert als Hoffnungsträger. 

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