Meinung

Anspruch und Realität – Ein Nachtrag zum runden Geburtstag der NATO (Teil 1)

Anfang April feierte die NATO ihr 70. Gründungsjahr. Freunde der Militärallianz und Mainstreammedien jubelten. Der Warschauer Pakt konnte nicht gratulieren, er existiert nicht mehr. Nur die NATO will ihm einfach nicht in die Geschichtsbücher folgen. Teil 1 von 2.
Anspruch und Realität – Ein Nachtrag zum runden Geburtstag der NATO (Teil 1)Quelle: Sputnik

von Flo Osrainik

Am 04. April des Jahres 1949, nicht lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde die "North Atlantic Treaty Organization" von zwölf Ländern "zur kollektiven Selbstverteidigung" gegründet, da die Spannungen zwischen den Alliierten Siegermächten zunahmen, die schließlich im Ost-West-Konflikt mündeten. Zu den Gründungsnationen zählten die USA, Großbritannien, Portugal, Norwegen, die Niederlande, Luxemburg, Kanada, Italien, Island, Frankreich, Dänemark und Belgien. In den 1950er Jahren kamen Griechenland und die Türkei sowie die Bundesrepublik Deutschland dazu. In den 1980er Jahren wurde Spanien aufgenommen. 

Ebenfalls 1955, im Jahr der Aufnahme Deutschlands, gründete sich ein anderes kollektives Bündnis zur Selbstverteidigung: der Warschauer Pakt. Das östliche Militärbündnis bestand aus den acht Mitgliedsstaaten Sowjetunion, Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien, Polen, der Deutschen Demokratischen Republik, Bulgarien und Albanien. Weitere Aufnahmen gab es nicht. 

Durch die von Sowjetchef Michail Gorbatschow eingeleitet Perestroika, dem Fall des Eisernen Vorhangs und der sowjetischen Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 – man entließ die Nationale Volksarmee der DDR  aus dem Warschauer Pakt – sollte Moskau dem Druck der anderen Mitgliedsstaaten zur Auflösung des Warschauer Pakts bald nachkommen. Aber es wurde auch eine Auflösung der NATO gefordert. Auf der blockübergreifenden Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im November 1990 in Paris bekräftigten die Staaten des Warschauer Pakts und der NATO zunächst ihre Verpflichtung zum Nichtangriff. Außerdem definierte man sich nicht weiter als Gegner, sondern als Partner, die gewillt sind, "einander die Hand zur Freundschaft zu reichen". Die Initiative dazu ging von den Vertragsstaaten des Warschauer Pakts aus. 

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Mit der Charta von Paris, dem Schlussdokument des KSZE-Sondergipfels, wurde die Spaltung Europas für beendet erklärt. Die Präambel der Charta von Paris beginnt mit folgenden Worten:

Wir, die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sind in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und historischer Erwartungen in Paris zusammengetreten. Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden.

Außerdem sprachen sich die Teilnehmer 32 europäischer Länder sowie der USA und Kanadas in Paris noch für Demokratie, Frieden und Einheit sowie für "wirtschaftliche Freiheit", "soziale Gerechtigkeit" und "gleiche Sicherheit für alle unsere Länder" aus. 

Zwei-Plus-Vier-Vertrag wird zur Makulatur  

Die Sowjetunion stimmte der Wiedervereinigung Deutschlands zu – und damit  dem Anfang vom Ende des Warschauer Pakts. Man ging davon aus, dass der reduzierte Einfluss der Sowjetunion in Mitteleuropa durch in Aussicht gestellte neue Formen der Zusammenarbeit mit dem vereinten Deutschland (1), und damit einer "neuen Qualität" im deutsch-sowjetischen Verhältnis, (2) ausgeglichen würde. 

Es war die britische Regierung von Margaret Thatcher, die eine Wiedervereinigung Deutschlands verzögern wollte, um militärische Manöver in Ostdeutschland abhalten zu können. Auf Drängen des westdeutsche Außenministers Hans-Dietrich Genscher stimmte dessen US-Amtskollege James Baker die Briten um. Mit dem "Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" beschlossen die vier Siegermächte – Frankreich, die Sowjetunion, Großbritannien und die USA –,  auf ihr Vorbehaltsrecht in Bezug auf Deutschland zu verzichten.  Der Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde im Jahr 1991 von den Vertragsstaaten anerkannt. Mit dem Vertrag, der das Ende alliierter Hoheitsrechte vorsah, würde Deutschland seine volle Souveränität über die inneren und äußeren Angelegenheiten erlangen. 

Außerdem bekräftigte das vereinigte Deutschland sein Bekenntnis zum Frieden. Unter anderem wären die deutschen Streitkräfte noch auf 370.000 Mann zu reduzieren und in Ostdeutschland dürften keine ausländischen Truppen und Atomwaffen stationiert oder verlegt werden. Und weiter:

Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erklären, daß das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen.

Hier hätte die Geschichte über die US-geführte NATO enden sollen oder können. Dem war aber nicht so. Stattdessen verstießen die NATO-Staaten gegen gemachte Zusagen oder den Zwei-Plus-Vier-Vertrag. Deutschland zum Beispiel mit der Beteiligung am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien nur wenige Jahre später. Die Worte des KSZE-Treffens von Paris entpuppten sich schon bald als das Papier nicht wert, auf dem man sie schrieb, wenn man etwa daran denkt, dass die "Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen" sollten. Dabei hatte doch schon der erste NATO-Generalsekretär Hastings Ismay verkündet, der Zweck des transatlantischen Bündnisses in Europa bestünde darin, "die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten" zu halten. 

NATO nutzt die Gunst der Stunde  

Bis Anfang der 1990er Jahre war die NATO offiziell ein Defensivbündnis zur kollektiven Selbstverteidigung. Doch nach der Auflösung des Warschauer Pakts im Mai 1991 und der Sowjetunion im Dezember 1991 war keine Militärallianz zur Selbstverteidigung mehr nötig. Es war aus transatlantischer Sicht ja auch kein "Feind" mehr da, vor dem man sich hätte kollektiv schützen müssen. Die Gefahr einer militärischen Invasion Nordamerikas oder West- und Mitteleuropa war nicht mehr gegeben. 

Sogar das Bundesverteidigungsministerium gestand ein, dass das westliche Verteidigungsbündnis seine Aufgabe erfüllt hatte. Der Kalte Krieg war beendet  und dem Frieden der Weg geebnet. Um alles andere hätten sich die Vereinten Nationen mit ihren Blauhelmen auf Grundlage des Völkerrechts kümmern können. Es war die Gelegenheit zu beweisen, dass sich die Menschheit zivilisiert. Das wäre gut für die Menschen gewesen, aber  schlecht für den militärisch-industriellen Komplex des Westens, insbesondere für den der USA mit seinen gigantischen Ausgaben, die nun kaum noch zu rechtfertigen waren. 

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Um die Geschichte an dieser Stelle etwas zu beschleunigen: "Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs setzte die NATO auf Expansion. In schneller Folge wurden vor allem Staaten des ehemaligen Ostblocks aufgenommen", so das Bundesverteidigungsministerium. Es folgte die NATO-Osterweiterung. Konkret kamen im Jahr 1999 Polen, Tschechien und Ungarn, im Jahr 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, und im Jahr 2009 dann Albanien und Kroatien sowie im Juni 2017 das kleine Montenegro dazu. Demnächst soll auch noch Nordmazedonien geschluckt werden.

Im Mai 2018 wurde sogar Kolumbien als "globaler Partner" aufgenommen und US-Präsident Donald Trump stellte bereits dem rechtsextremen Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, eine Aufnahme in Aussicht – "und zwar unter Verletzung des NATO-Statuts und ohne Absprache mit den Verbündeten", wie Wolfgang Bittner auf den NachDenkSeiten schreibt

Mit der Osterweiterung verstieß die NATO zwar gegen keine schriftlichen Verträge. Aber sehr wohl, wie bereits erwähnt, gegen die gemachte Zusage, dass man sich "keinen Zoll" nach Osten ausdehnen wolle, wie etwa ein vom US-Außenministerium verfasstes Protokoll eines Gesprächs zwischen US-Außenminister James Baker und Gorbatschow bestätigt. Und in einem Transkript einer Unterhaltung zwischen Baker mit seinem sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse sprach sich der US-Diplomat dafür aus, dass ein wiedervereinigtes Deutschland der NATO angehören sollte. Um die sowjetische Zustimmung dafür zu bekommen, müsse es "natürlich eine eiserne Garantie geben", dass sich die NATO nicht weiter nach Osten ausdehnt.

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Die NATO marschierte also keiner Auflösung und auch keinem Weltfrieden entgegen, sondern von Krieg (Jugoslawien) zu Krieg (Libyen), von Konfrontation (Ukraine-Putsch) zu Konfrontation (Raketenschild um Russland). Heute stehen NATO-Verbände einschließlich der Bundeswehr wieder schuss- und marschbereit an der russischen Grenze, während auf Moskau wieder Raketen gerichtet sind.  

Ein kleiner Exkurs zu den Medien…  

Und da die "repräsentativen Demokratien" der NATO-Staaten ihre imperialen Aggressionen gegenüber "Widerständen" in der Regel nicht unverblümt beim Namen nennen, müssen die Widerstände eben zu Bedrohungen transformiert werden. Damit diese "Täter-Opfer-Umkehr"  auch funktioniert und im Idealfall von der Öffentlichkeit geschluckt wird, macht man sich in PR-Agenturen und Denkfabriken, in die auch "Chefjournalisten" eingebunden sind, so seine Gedanken. (Die Verflechtungen führender deutscher Medienvertreter mit transatlantischen Netzwerken haben die Kabarettisten Max Uthoff und Claus von Wagner in ihrer Sendung "Die Anstalt" mit ein paar Strichen an einer Tafel aufgezeigt.)

Am Ende steht dann, wie wohl vor jedem Kriegsbeginn, eine von Medien und Politik verbreitete Lüge. Wie  vor dem US-Eintritt in den Vietnamkrieg (Tonkin-Zwischenfall), wie vor den Irakkriegen (Brutkastenlüge und Massenvernichtungswaffen) oder wie vor dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien zur Abspaltung des Kosovo (Hufeisenplan und Massaker von Račak). 

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Vermittelt wird die Einstimmung auf den Angriffskrieg, verharmlosend als militärische Intervention und humanitärer Einsatz beschrieben, dann von den "Qualitätsmedien" der eingebundenen Chefjournalisten. Alles Weitere funktioniert in der Regel per Rudelwerk, Hierarchie oder im "Rechercheverbund". Dass es sich dabei um keinen Journalismus, sondern um gewöhnliche Propaganda handelt, ist offensichtlich. Als Beleg dafür dient etwa die rasch verbreitete und noch rascher wieder verdrängte Lüge der Medien (und Politiker) über die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein im Irak – samt "eingebetteter Journalisten" als propagandistischem i-Tüpfelchen. Das brachte zwar jede Menge Terror und weitere Kriege mit  über einer Million Opfer hervor, aber nicht einen verantwortlichen Medienvertreter oder Politiker brachte es vor Gericht. 

Man kann auch einen Blick auf den Springer-Konzern mit seinen Zeitungen wie der Bild, der Welt oder der Berliner Zeitung werfen. Dort zählt die "Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika" und das Einsetzen "für eine freie und soziale Marktwirtschaft", also der kapitalistischen Wirtschaftsdoktrin des NATO-Bundes, zu den Unternehmensgrundsätzen. Und diesen Grundsätzen sind Springers Journalisten und Redakteure dann verpflichtet. Wie unter diesen Bedingungen unabhängiger Journalismus funktionieren soll, bleibt der Fantasie des Einzelnen überlassen. 

Das beste Beispiel für das Herbeifantasieren einer Bedrohung durch einen Aggressor zwecks umfassender Aufrüstung lieferte jüngst der Spiegel mit dem Titel "Putins Puppen" oder der ZDF-Moderator und hoch bezahlte Journalist Claus Kleber, ein Scharfmacher aus schusssicherer Entfernung. Mit seinen Mitgliedschaften in der Atlantik-Brücke und im Aspen-Institut ist Kleber ein ausgewiesener Transatlantiker – worauf das ZDF zur Schaffung von Transparenz ruhig mal aufmerksam machen könnte, wenn Kleber über transatlantischen Themen spricht. Mit einer "kurzfristigen Falschmeldung" verschärfte er jüngst im ZDF-heute-Journal ganz ungeniert die Feindbildpropaganda gegen Russland: 

Guten Abend, zu Wasser und zu Luft sind heute Nacht amerikanische, deutsche und andere europäische Verbündete unterwegs nach Estland, um die russischen Verbände zurückzuschlagen.

Da stellt sich die Frage, warum man als Angestellter des Öffentlich-Rechtlichen-Rundfunks gegen dessen Richtlinien verstoßen darf, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

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Fußnoten

(1) Vgl. Dieter Blumenwitz, NJW 1990, S. 3041 ff.

(2) Gesetz zu dem Vertrag vom 9. November 1990 über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

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