Meinung

70 Jahre NATO: Kein Grund zum Feiern

Dutzende Veranstaltungen werden allein in Deutschland abgehalten, um den 70. Geburtstag des transatlantischen Militärbündnisses zu begehen. Doch gibt es aber überhaupt einen Grund zum Feiern? Nicht einmal das Weiße Haus in Washington scheint dafür in Stimmung zu sein.
70 Jahre NATO: Kein Grund zum Feiern Quelle: AFP © Jim Watson

von Zlatko Percinic

Die NATO wurde am 4. April 1949 offiziell durch die Unterschriften der Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Portugal gegründet. Bereits im Jahr davor wurde das erste militärische Bündnis Europas nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Brüsseler Pakt geschlossen, welcher aus Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg und den Niederlanden bestand. Doch diese Länder suchten nach einem starken Partner, und die USA suchten nach Möglichkeiten, ihren Einfluss in Europa zu institutionalisieren. So beschreibt sogar die offizielle US-Geschichtsschreibung den Gründungsakt der NATO.

Grundlage des Nordatlantikvertrages bildet Artikel 52 der Charta der Vereinten Nationen, die selbst nur vier Jahre vor dem Militärbündnis gegründet wurde. Dieser Artikel erlaubt explizit die Schaffung von "regionalen Abmachungen oder Einrichtungen zur Behandlung derjenigen die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffenden Angelegenheiten". Voraussetzung sei allerdings, "dass diese Abmachungen oder Einrichtungen und ihr Wirken mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen vereinbar sind".

Zudem müssen sich jene Mitglieder der Vereinten Nationen, die "solche Abmachungen treffen oder solche Einrichtungen schaffen", nach "besten Kräften" bemühen, durch "Inanspruchnahme dieser Abmachungen oder Einrichtungen örtlich begrenzte Streitigkeiten friedlich beizulegen".

Die NATO sollte sich also bemühen, begrenzte Streitigkeiten nach besten Kräften friedlich beizulegen und ihr Wirken mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen vereinbar sein.

Soweit also die Theorie. Wie so oft, weicht die Praxis von der Theorie deutlich ab. Indem man die NATO als "transatlantisches Bündnis" beschreibt, lässt sich leicht die Tatsache übersehen, dass es am Ende ein Militärbündnis ist. Und eine Armee, egal ob es sich um eine nationale oder um eine Bündnisarmee handelt, ist nicht dazu geeignet, Streitigkeiten friedlich beizulegen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Feststellung eines UN-Mitarbeiters in "herausgehobener Position", der die Unterschiede zwischen UN und NATO mit den Worten beschrieb:

Die NATO steht für Krieg, und die Vereinten Nationen stehen für Frieden.

Das mag pathetisch klingen, hat aber durchaus einen wahren Kern. Solange die ursprüngliche, von Lord Hastings Ismay (erster NATO-Generalsekretär) formulierte, Losung galt, hatte die Allianz keinerlei Existenzprobleme. Demnach sollte "die Sowjetunion draußen bleiben, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten".  

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Aufgrund dieser Selbstwahrnehmung war die NATO auch nie an einer gemeinsamen Sicherheitslösung in Europa mit der Sowjetunion interessiert, geschweige denn an einer Aufnahme Moskaus in das westliche Militärbündnis. Jede Armee braucht allein schon zu Übungszwecken einen Gegner und nicht wenige kultivieren ein richtiges Feindbild. Für die NATO war die UdSSR der perfekte Feind.

Mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, der als Gegengewicht der NATO erst 1954 gegründet wurde, verlor der Westen einen Feind, den man vier Jahrzehnte lang bekämpft hatte. Obwohl als großer Sieg gefeiert, war es ein Verlust, der an die existenzielle Substanz der Allianz ging. Bis zum Zeitpunkt der Auflösung der Sowjetunion bzw. des Warschauer Pakts wussten alle, wofür die NATO stand und was man zu tun hatte. Der Verlust dieser klaren Linie sorgte dafür, dass sich das Militärbündnis einen neuen Zweck und einen neuen Feind suchen musste.

In der Kosovo-Krise von 1999 zeigte sich dann zum ersten Mal, was für Konsequenzen diese unipolare Weltordnung auch für die NATO hatte. Zur Erinnerung: Gemäß UN-Charta sollten örtlich begrenzte Streitigkeiten nach besten Kräften friedlich beigelegt werden. Stattdessen entschloss man sich, zum ersten Mal in der eigenen Geschichte tatsächlich zu den Waffen zu greifen und durch Eigenermächtigung einen Krieg gegen Serbien zu führen. Dort wurde nach besten Kräften versucht, den Konflikt nicht friedlich beizulegen, sondern genau das Gegenteil mit allen Mitteln zu erreichen.

Zuvor ignorierten vor allem die USA die zahlreichen Warnungen, dass die Osterweiterung und Aufnahme von Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts die NATO nicht stärken, sondern langfristig schwächen würde. Abgesehen davon, dass die Regierung von George Bush Senior genau das gegenüber der sich in den letzten Atemzügen befindlichen Sowjetunion versprochen hatte, war offensichtlich die Versuchung unwiderstehlich, sämtliche Warnungen in den Wind zu schlagen.

Spätestens nach dem Georgien-Krieg 2008 war den Falken in den USA klar, dass sie endlich wieder jemanden als Feind aufbauen konnten, den sie fast zwanzig Jahre lang schmerzlich vermisst hatten: Russland. Ähnlich wie der NATO erging es auch dem Geheimdienst CIA, der nach 1991 mit einer Neuorientierung zu kämpfen hatte. Wie im Außenministerium auch, wurden beim CIA hunderte Experten für die Sowjetunion gefeuert und mit der Zeit der Fokus auf Arabisch sprechendes Personal gelegt.

Der Kampf um ein neues Selbstverständnis des Militärbündnisses führte 2011 erneut zu einem Angriffskrieg, der im Gegensatz zu Serbien 1999 mit einer, allerdings schwachen, UN-Resolution mandatiert wurde. Der UN-Sicherheitsrat billigte die Errichtung einer Flugverbotszone "mit allen notwendigen Mitteln" in Libyen, um die Zivilbevölkerung zu beschützen, die "unter der Bedrohung eines Angriffs" durch die libysche Armee stand. Das wurde als Freibrief für die Bombardierung des afrikanischen Landes und die anschließende menschenverachtende Jagd und Ermordung des langjährigen Diktators Gaddafi gewertet. Seitdem hat sich Libyen nicht wieder von der Zerstörung und Destabilisierung durch die NATO erholen können.

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Es sollte drei weitere Jahre dauern, bis die endgültige Rücktransformation in das alte West-Ost-Schema abgeschlossen sein sollte. Bis 2014 hatte sich niemand gewagt, Russland öffentlich als Feind zu bezeichnen. Doch der damalige NATO-Vizegeneralsekretär Alexander Vershbow setzte am 1. Mai 2014 ein klares Zeichen, als er sagte, dass man Russland von nun an "nicht mehr als Partner, sondern als Gegner" betrachte.  

Obwohl sich dieses Bild in den vergangen fünf Jahren weiter verfestigt hat, sorgt ausgerechnet das mit Abstand wichtigste Mitgliedsland für Furore. US-Präsident Donald Trump bezeichnete während seines Wahlkampfs die NATO als "obsolet" und ließ im vergangenen Jahr Möglichkeiten ausloten, wie sich die USA aus dem Militärbündnis zurückziehen könnten. Als Hauptgründe werden die finanzielle Belastung sowie die Weigerung Deutschlands genannt, den Forderungen nach einer massiven Erhöhung der Rüstungsausgaben nachzukommen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bleibt nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Er will keinerlei existenzielle Probleme beim Militärbündnis erkennen.

Obwohl es nun so gekommen ist, wie es viele Kritiker in den 1990er Jahren befürchtet hatten, als sie vor einer Osterweiterung bzw. generellen Erweiterung der Allianz warnten, weil es sie irgendwann zerreißen würde, wird nun die Forderung immer lauter, dass sich die NATO auch um die "Herausforderung" China kümmern müsse. Schon im Fall Russland hat sich gezeigt, dass längst nicht alle Mitgliedsländer den schon fast militanten anti-russischen Kurs der Briten, Polen und der baltischen Staaten fahren möchten.

Bei China wird es noch ungemein schwerer werden, eine konfrontativere Haltung einzunehmen, da die meisten Länder außerordentlich tiefgreifende wirtschaftliche Beziehungen mit Peking eingegangen sind. Solch ein Vorstoß könnte zu noch größeren Spannungen innerhalb der NATO führen, die vielleicht sogar irreversible Risse hinterlassen könnten.

In den ersten 40 Jahren ihres Bestehens hatte die transatlantische Allianz viel mehr Grund zu feiern, als weitere 30 Jahre später. Und niemand kann sagen, wie die Feiern in zehn oder zwanzig Jahren aussehen werden, sollte das Militärbündnis weitermachen, wie in den vergangen drei Jahrzehnten.  

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