Meinung

Venezuela: zwischen Washington und Havanna liegen Welten – und Berlin schwebt im Paralleluniversum

Während die Vereinigten Staaten seit Jahren krampfhaft versuchen, ihre Statthalter in Caracas zu positionieren, positioniert Kuba seit Jahren seine Ärzte im Land. In der Bundesregierung will man davon nichts wissen.
Venezuela: zwischen Washington und Havanna liegen Welten – und Berlin schwebt im ParalleluniversumQuelle: Reuters © Carlos Jasso

von Flo Osrainik

Im Dezember 1998 stimmten die Bürger von Venezuela für einen neuen politischen Kurs. Hugo Chávez erhielt damals über 50 Prozent der Stimmen, also in etwa doppelt so viele, wie der damals zweitplatzierten Henrique Salas Römer. Chávez übernahm wenige Jahre zuvor, genau genommen im Jahr 1992, vor TV-Kameras die Verantwortung für einen gescheiterten Putschversuch junger Offiziere. Damit beförderte er sich nicht nur in die Herzen der Venezolaner, sondern auch für zwei Jahre ins Gefängnis.

Bis ins Jahr 1999 wurde Venezuela von den USA praktisch in kolonialer Abhängigkeit gehalten und US-Konzerne hatten mehr oder weniger ungehinderten Zugriff auf die Ölvorkommen im Land. Die Welt schrieb einst über Chávez und die Lage in Venezuela vor dessen erster Präsidentschaft: "Ein Patriot, jemand, der Verantwortung übernimmt und Mut hat – so sahen ihn die Venezolaner damals, als die Traditionsparteien täglich tiefer im Sumpf von Korruption und Misswirtschaft versanken und die neoliberale Wirtschaftspolitik sowie der niedrige Erdölpreis das einst reiche Land in den sozialen Abgrund führten." In den Jahren 2000, 2006 und 2012 wurde Chávez wiedergewählt.

Washingtons Kurs

Doch schon die erste Wiederwahl von Chávez und seinen Vorstellungen vom Sozialismus im 21. Jahrhundert war eine Wiederwahl zu viel für Washington. Im April 2002 kam es zu einem Putschversuch. Mit einem Volksaufstand und dem Einsatz der Nationalgarde wurde der Staatsstreich abgewehrt. Der vorübergehende Putsch-Präsident und industrielle Pedro Carmona setzte sich später über Kolumbien in die USA ab. Carmona bestätige im März 2011 die Unterstützung des Putschversuchs durch die Organisation Amerikanischer Staaten, OAS, sowie die Billigung der Auflösung demokratischer Institutionen und Neuwahlen. Die OAS hat ihren Hauptsitz in Washington. Zahlreiche Hinweise deuteten eine Beteiligung der USA unter US-Präsident George W. Bush sowie Spaniens unter José María Aznar beim Putsch gegen Chávez an. Hugo Chávez starb im März 2013 an den Folgen einer Krebserkrankung. Mit der Wahl seines sozialistischen Nachfolgers Nicolás Maduro hat sich an Washingtons Kurs gegenüber Venezuela aber nichts geändert. Im Gegenteil.

Es wird sanktioniert, blockiert, terrorisiert und geputscht. Man versuchte, etwa internationale Menschenrechtsorganisationen zu instrumentalisieren und beschloss im März 2015, noch unter US-Präsident Barack Obama, erste Sanktionen gegen Venezuela. Mit dem Präsidialdekret 13692 wurde Venezuela zur "außergewöhnlichen Bedrohung für die nationale Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten" erklärt. Die USA torpedierten Verhandlungen oder blockierten Anfang des Jahres Konten des staatlichen venezolanischen Ölkonzerns PDVSA und dessen US-Tochterunternehmens Citgo, der wichtigsten Devisenquelle Venezuelas. Rund sieben Milliarden US-Dollar wurden eingefroren, um die wirtschaftliche Situation im Land weiter zu verschlechtern und einen Sturz der Regierung voranzutreiben.

Zuvor kam es in Venezuela durch die zerstrittene rechte Opposition und ihre Paramilitärs, finanziert von nordamerikanischen Agenturen, mehrmals zu Eskalationen – etwa in den Jahren 2013, 2014, 2016 oder 2017. Dabei gab es immer wieder Tote. Maduro selbst entging erst im August 2018 einer Drohnenattacke, deren Drahtzieher die Regierung von Maduro in Kolumbien und den USA vermutet. Und der bis dahin weitgehend unbekannt "Hinterbänkler" Juan Guaidó, der sich in den USA und mit Geheimdienstlern anderer lateinamerikanischer Staaten über militärische Interventionen verständigt hat, was Landesverrat ist, ernannte sich am 23. Januar 2019 in Absprache mit der US-Regierung kurzerhand selbst zum Übergangspräsidenten.

Der nächste Putschversuch im fast 20-jährigen Kampf der USA zur Rückeroberung von Caracas. "Eingefädelt wurde der Putsch von Vizepräsident Mike Pence, Außenminister Mike Pompeo, dem rechtsextremen Senator Marco Rubio und dem nationalen Sicherheitsberater John Bolton. Letzterer gab in einem TV-Interview am 26. Januar auch unumwunden zu, es gehe darum US-amerikanischen Öl-Konzernen die Hoheit über das venezolanische Erdöl zu geben", wie das Portal amerika21  schreibt.

Während der Putsch im Jahr 2002 vom Volk und der Nationalgarde allerdings rasch niedergeschlagen wurde, kann sich Guaidó noch immer frei in Venezuela bewegen und, wie auch die US-Administration, öffentlich ungehindert zum Umsturz des gewählten Präsidenten Maduro aufrufen. Was wohl weder in westlichen Staaten, noch in irgendeiner Diktatur, die etwas auf sich hält, möglich wäre. Seitdem setzt Washington verstärkt auf Eskalation, auch durch Propaganda. US-Präsident Donald Trump drohte ja bereits mehrmals, dass man sich alle Optionen offenhalten würde.

Kubas Kurs

Während Washington also traditionell Söldner, Statthalter oder eigene Soldaten positioniert, um die Kontrolle über ferne Ölquellen zu erlangen, wendet man in Kuba eine ganz andere Strategie an, um an günstiges Öl zu kommen.

Der sozialistische Inselstaat ist den USA – und nach der Ansicht von Trump werden die USA nie ein sozialistisches Land wie das links regierte Venezuela werden – nicht nur ein Dorn im Auge, sondern für seine medizinische Grundversorgung und Ausbildung von Ärzten bekannt. Auch in den USA.

Auf der Insel bekommt nicht nur jeder Bürger eine kostenlose medizinische Versorgung garantiert, man bildet außerdem Ärzte aus Entwicklungs- und Schwellenländern aus. Auch Studenten aus den USA, wenn sich diese ein Medizinstudium in der Heimat nicht leisten können. Und da es in Kuba eine hohe Dichte an Ärzten gibt – es sollen um die 77.000 sein, dazu kommen noch Zahnärzte, Pflegepersonal und Medizinstudenten – schickt Havanna seine Ärzte auch ins Ausland. Die Entsendung von medizinischem Personal ist eine Devisen-Haupteinnahmequelle des Landes. So finanziert man etwa das kostenlose Gesundheitssystem auf Kuba und hat mehr als 35.000 Medizinstudenten aus 138 Ländern ein ebenso kostenloses Studium ermöglicht.

Nach Angaben der staatlichen kubanischen Tageszeitung Granma sind kubanische Mediziner etwa allein im Rahmen der seit 18 Jahren bestehenden Mission "Barrio Adentro Salud" in 24 Bundesstaaten und 335 Gemeinden Venezuelas tätig – sowohl in Armen- als auch in Mittelklassevierteln. Dabei sollen sie ihre Dienste an über 1.500 Stellen anbieten. Im Gegenzug erhält Havanna Öl zu bevorzugten Konditionen von Caracas. Wegen der wirtschaftlichen und politischen Krise in Venezuela sind die Lieferungen in den letzten Jahren aber deutlich zurückgegangen.

In Venezuela würde man wissen, dass die ärztliche Betreuung kubanischer Ärzte aus medizinischer Ethik erfolgt und kein Kranker nach seiner politischen Neigung gefragt, von keinem jemals Geld verlangt wird und man sich "aus Achtung vor der Souveränität der Nationen und des internationalen Rechts, nicht in die inneren Angelegenheiten irgendeines Landes" einmischen würde. So hätte man sowohl Oppositionelle als auch Chávistas alle mit der gleichen Qualität und Bereitschaft betreut. Und Kubas Ärzte sind nicht nur in Venezuela im Einsatz.

Die New York Times  behauptet in einem Artikel vom 17. März allerdings das Gegenteil. Kubanische Ärzte hätten in Venezuela medizinische Leistungen vor den Wahlen im Jahr 2018 für parteipolitische Zwecke eingesetzt, um Venezuelas Präsidenten Nicolás Maduro zu begünstigen. In Interviews beschreiben Mitglieder der medizinischen kubanischen Mission in Venezuela, wie ihre Dienste angeblich absichtlich zur politischen Manipulation eingesetzt wurden, um Stimmen für die Sozialistische Partei zu sichern.

Auf diese Weise versuchte die New York Times, die Rechtmäßigkeit der Wahl Maduros infrage zu stellen und das medizinische Engagement Kubas in der Welt zu diskreditieren, so Granma. Kubanische Medien, Bürger und auch Politiker, darunter Präsident Miguel Díaz-Canel, reagierten empört auf den Text der New York Times, der "nach Propaganda im Rahmen der amerikanischen Politik gegen Venezuela und Kuba" aussehen würde, wie auch Telepolis  schreibt. Selbst renommierte Kuba-Kenner könnten sich vorstellen, dass die New York Times einer "orchestrierten Lüge aufgesessen ist", hieß es.

Tatsächlich wollen die USA das sogenannte "Medical-Parole-Programm" reaktivieren, um die kubanische Regierung zu schwächen, indem man gezielt kubanische Ärzte, Krankenschwestern und weiteres medizinisches Personal im Auslandseinsatz abwirbt. Unter anderem verspricht man US-Staatsbürgerschaften und Jobs in den USA, wie die Los Angeles Times im Januar 2017 schrieb.

Nach Angaben der Leitung des Büros zur Betreuung der "Sozialen Kubanischen Missionen in Venezuela" haben seit Beginn der medizinischen Zusammenarbeit über 140.000 Mitarbeiter ihre Dienste in Venezuela im Gesundheitsbereich geleistet und über 24.000 Gemeindeärzte dabei ausgebildet. Das medizinische Personal wäre die wirkliche kubanische Armee, heißt es laut Granma.

Und Berlin?

In Berlin weiß man auf Nachfrage allerdings nichts von Kubas humanitärer Hilfe für Venezuela. Der deutsche Außenminister Heiko Maas, SPD, erklärte, dass der Präsident Venezuelas Nicolás Maduro jegliche Hilfe von außen verweigern würde.

Da China, Kuba – einmal ganz abgesehen von der medizinischen kubanischen Mission – und die Panamerikanische Gesundheitsorganisation PAHO auf Ersuchen der Regierung in Caracas allerdings 933 Tonnen humanitäre Hilfe nach Venezuela schickten, und auch Hilfslieferungen des Roten Kreuzes und der Vereinten Nationen, sowie 300 Tonnen humanitärer Hilfe aus Russland, Venezuela ohne Probleme erreichten, muss man sich fragen, wie lange Außenminister Maas schon auf dem Mond zum Staatsbesuch verweilt. Die New York Times scheint es dort jedenfalls nicht zu geben. Die könnten aber Regierungssprecher Steffen Seibert oder Rainer Breul vom Auswärtigen Amt dorthin bringen. Anstatt ihre Zeit mit widerwillig abgehaltenen Bundespressekonferenzen zu verschwenden, könnten sie dann wenigstens Minister Maas mit wahrheitsgetreuen Informationen beliefern und müssten auch sonst niemanden mehr mit ihren Antworten beleidigen. Außerdem kämen die beiden dann auch mal hoch hinaus.

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