"Ich bin zwar Milliardär – aber ein Ordinary Guy wie ihr!" – Das Erfolgsrezept des Donald Trump

Warum wird Donald Trump auch von Menschen gewählt, die ihn aufgrund ihrer "Klassenlage" gar nicht wählen dürften? Was verbindet den Milliardär mit Menschen in prekären Lebensverhältnissen? Bourdieus Begriff des ‚kulturellen Kapitals‘ könnte diese Frage erhellen.
"Ich bin zwar Milliardär – aber ein Ordinary Guy wie ihr!" – Das Erfolgsrezept des Donald TrumpQuelle: Reuters © Mike Blake

von Leo Ensel

Es ist die Frage, die orthodoxe Marxisten seit über hundert Jahren regelmäßig in den Wahnsinn treibt: Wie ist es möglich, dass Menschen immer wieder freiwillig ihre Metzger selber wählen? Oder klassisch formuliert: Wie können Menschen so eklatant ihren ‚objektiven Interessen‘ zuwiderhandeln? Warum, und damit kommen wir zur Gegenwart, wählen zum Beispiel in den USA Arbeitslose oder von der Deklassierung bedrohte Geringverdiener auch noch einen Mann zum Präsidenten – oder bei den Midterm-Wahlen, zwei Jahre später, dessen Partei –, der niemals einen Hehl daraus gemacht hat, einmal an die Macht gekommen, auch noch die letzten Reste des Sozialstaats zu schleifen? Warum kommt ein Mann, der den Sexismus zu seinem Markenkern erklärt hat, bei gar nicht so wenigen Frauen erschreckend gut an? Warum haben sogar Schwarze und Hispanics Trumps Republikaner gewählt? 

Die prompte Replik aus dem marxistischen Lehrbuch, nämlich die vom „falschen Bewusstsein“, ist, bei Tageslicht betrachtet, nichts anderes als ein hilfloser Ausdruck akademisch verbrämter Ratlosigkeit. „Sie müssen es doch kapieren!!“, der verzweifelte Stoßseufzer dringt dieser Formel noch durch alle Poren. Oder, wie Brecht zu Zeiten seines Honeymoons mit dem Kommunismus dichtete: 

Wer seine Lage erkannt hat, wie sollte der aufzuhalten sein?

Ja, denkste! Das hatte schon 1918/19 und 1933 nicht so richtig geklappt. Und auch heute scheitern die zahllosen gutgemeinten linken Aufklärungskampagnen regelmäßig – nicht nur in Trumps Amerika. Woran also liegt es? 

Ökonomisches versus kulturelles Kapital 

Ich denke, es hat etwas mit der alle anderen sozialen Momente ausschließenden marxistischen Fixierung auf die Ökonomie zu tun. Eine Unterscheidung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu könnte hier weiterhelfen. In seinem 1979 erstmals erschienen Klassiker „La distinction“ (auf Deutsch: „Die feinen Unterschiede“) hat Bourdieu die Unterscheidung zwischem ökonomischem und kulturellem Kapital eingeführt. Zum ökonomischen Kapital rechnet er Einkommen, Vermögen, Kunden- und Patientenstämme, Patente, Rechte, Ansprüche etc.

Kulturelles Kapitalist alles, was Distinktion verschafft: Der Grad der Schul- und Hochschulbildung und weitere Bildungszertifikate; die Anzahl der Bücher, Gemälde und anderer Distinktion verleihender Gegenstände; das Ausmaß an Wissen nicht nur im engeren beruflichen Bereich, sondern vor allem in den Bereichen Literatur, bildende Kunst und Musik; die Musikinstrumente, die man beherrscht; die Anzahl der Sprachen, die man spricht; die Zahl der Länder, die man besucht hat, und deren Kulturgüter man kennt; die Weltläufigkeit, mit der man sich bewegen und reden kann; das Ausmaß der kulinarischen Fähigkeiten, über die man verfügt; das Wissen darüber, wie man sich in welcher Umgebung zu verhalten hat; die Kleidung, die man trägt; die Themen, die man anspricht oder vermeidet; der Witz, mit dem man jede Situation meistert. 

Bourdieu spricht in beiden Fällen von „Kapital“, weil sowohl ökonomisches auch kulturelles Kapital dazu dienen, die Position im sozialen Raum zu verbessern. Ökonomisches Kapital muss man sich in der Regel erarbeiten. In besonderen Fällen jedoch – Erbschaft, Lottogewinn, erfolgreiche Börsenspekulation oder in wilden Umbruchszeiten wie Anfang der Neunziger Jahre im postkommunistischen Raum – können Menschen bisweilen auch ohne eigene Anstrengung innerhalb kürzester Zeit zu einem gigantischen Vermögen kommen. Und es möglicherweise genauso schnell wieder verspielen! Kulturelles Kapital muss sich jeder Mensch selbst erwerben – wobei natürlich die Startvoraussetzungen völlig unterschiedlich sein können. Wer in eine Professorenfamilie hineingeboren wird, hat andere Startchancen als ein Kind von Harz IV-Eltern. Im Gegensatz zum ökonomischen kann man kulturelles Kapital aber auch nicht so leicht verlieren. Es sei denn, man erkrankt zum Beispiel an Alzheimer. 

Die Elite, die Ausgegrenzten, die Avantgarde und …

Spannt man nun den sozialen Raum mit Hilfe dieser beiden Variablen von ökonomischem und kulturellem Kapital zu einem Koordinatensystem auf, so gelangt man zu vier groben, aber sehr erhellenden Quadranten. Am einfachsten ist es mit den Extremen: Menschen, die über viel oder sehr viel ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, bilden die Elite jeder Gesellschaft. Umgekehrt sind diejenigen, die weder über das eine noch über das andere verfügen, überall die Ausgegrenzten

Interessant wird es nun mit den beiden übrigen Kombinationen. Diejenigen, die über wenig ökonomisches, aber über viel kulturelles Kapital verfügen, bilden die Avantgarde einer Gesellschaft. (Klassisches Beispiel: Der Maler Vincent van Gogh, der in seinem Leben nur zwei oder drei Gemälde verkaufte, wenige Jahre nach seinem Tode aber stilbildend wurde.) Bleiben diejenigen, die über wenig kulturelles, dafür aber über viel bis sehr viel ökonomisches Kapital verfügen: Das sind selbstverständlich die – Neureichen! Alle Neue-Russen-Witze in- und außerhalb Russlands basieren genau auf dieser Differenz. Bourdieu betont die extreme Stilunsicherheit dieser Gruppierung. Da es an kulturellem Kapital stark mangelt, verbleiben als Distinktionsmittel – die goldenen Toiletten! 

Wo nun in diesem Koordinatensystem der derzeitige amerikanische Präsident anzusiedeln ist, bedarf nach den obigen Ausführungen keiner Erläuterung mehr. Und hier zeigt sich, was ihn mit vielen seiner Wähler verbindet, die ihn ihrer „objektiven Klassenlage“ nach eigentlich gar nicht wählen dürften. Ökonomisch mögen Welten zwischen Trump und seinen Wählern liegen, bezogen auf das kulturelle Kapital hat Trump nicht die geringsten Schwierigkeiten, ihnen glaubhaft zu vermitteln, dass er genauso ein ‚ordinary guy‘ ist wie sie! Und das ist er ja tatsächlich. 

Kurz: Trump wird von Vielen nicht gewählt, obwohl er unsäglich primitiv, verlogen, rassistisch und sexistisch ist, sondern eben weil er genau dieses Verhalten – und zwar völlig ungeniert – an den Tag legt. Angesichts dieser Verlockung siegt die Logik des (mangelnden) kulturellen über die des ökonomischen Kapitals. 

Der Spass am Ressentiment 

Aber wir brauchen gar nicht bis über den großen Teich schauen, wir haben es in Deutschland längst (wieder) mit demselben Phänomen zu tun. Dass die AFD ein dezidiert wirtschaftsliberales Programm verfolgt, hat bislang noch keinen ihrer deklassierten Wähler gestört! Und deswegen laufen auch alle gutgemeinten klassischen linken Lösungsversuche, seien sie gemäßigt oder etwas radikaler, ins Leere. 

Sozialdemokraten und Linke können noch so viele Kindergärten bauen, Schulen renovieren, Renten, Eltern- und Kindergeld erhöhen, den Sozialen Wohnungsbau ankurbeln, Frauen- und Behindertenparkplätze einrichten – kein einziger AFD-Wähler wird sich deswegen reumütig wieder zu ihnen zurückverirren. Für solch erbärmliche Linsengerichte lassen sich die Wenigsten ihren Spass am Ressentiment abkaufen! Die Menschen wählen nämlich nicht die AFD, um von ihr mit diesen klassischen Sozialstaatswohltaten beglückt zu werden, sondern damit sie den dunkelhäutigen Nordafrikaner oder die Pakistanerin mit Kopftuch nicht in der Fußgängerzone und erst recht nicht in ihrem Wohnviertel sehen müssen. Am Besten, man lässt sie erst gar nicht ins Land!

Bei den Erfolgen der AFD handelt es sich also nicht – wie die Linke immer noch irrigerweise annimmt – um einen fehlgeleiteten materiellen Klassenkampf, sondern um einen ‚Kulturkampf‘! Dass dessen Protagonisten und Mitläufern von ihren enttäuschten linken Betreuern prompt die Rassismuskeule um die Ohren geknallt wird, stört diese nicht im Geringsten. Und so muss man auch kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die gegenwärtige Spendenaffäre der AFD dieser nicht im mindesten schaden wird.

Ein wenig Doppelmoral hat noch niemandem den Genuss am Rassismus vermiest.

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