Dr. Gniffkes Macht um Acht: Versagen als Erfolgsmodell

Empörungsrituale für die Tagesschau – Ein Scheinproblem entwickelt sich zur Staatsaffäre und verursacht eine Regierungskrise. Ein Geheimdienstchef wird zum Merkmal für das Bröckeln unserer Demokratiefassade.
Dr. Gniffkes Macht um Acht: Versagen als Erfolgsmodell

von Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam

Der Maaßen zeigt sich auf dem rechten Auge blind, aber die Koalitionäre Merkel, Seehofer und Nahles sind unfähig, das simple Personalproblem unverzüglich und sauber zu lösen. Die politische Klasse zelebriert wochenlang ein albernes Empörungsritual. ARD-aktuell-Chefredakteur Gniffke lässt es distanzlos auf die Wunderlampe im Wohnzimmer übertragen. Die Parteipolitiker aller Couleur schlagen Regierungskrisen-Schaum, und die korporierten Massenmedien seifen damit ihr Publikum ein. Bald kann die AfD zum Rasieren kommen.

Bis zur völligen Heiserkeit schwadroniert der Qualitätsjournalismus vom „öffentlichen Druck“ in der Causa Maaßen; es könne doch nicht sein, dass ein Spitzenbeamter für fehlerhaftes Verhalten belohnt und um zwei Besoldungsstufen befördert werden solle. Die Schmocks übersehen geflissentlich, dass sie den „öffentlichen Druck“ ohne dessen tieferliegenden  Ursachen vermelden, ihn aber selbst kräftig verstärken.

Die Wirkung ist allemal: Sinkende Umfragewerte für die politisch Verantwortlichen. Die haben das zwar verdient, aber nur zum geringsten Teil wegen des Maaßen-Skandals. Sie reagieren, aber zu spät und auf den unwichtigsten Reiz, dafür jedoch vollkommen verstiegen.

Die Unverhältnismäßigkeit des Affentheaters um Maaßen angesichts der realen Nöte und Bedrängnisse in diesem Staat registriert keiner. Nach der systemstützenden Wirkung und den langfristigen Strategien hinter dem aktuellen Budenzauber fragt erst recht niemand. Der Spitzenqualitätsjournalismus macht wieder mal Pleite, merkt es aber nicht. Er erkennt den Fall Maaßen nicht als das, was er ist: eine reichlich unbedeutende Begleiterscheinung beim Eindampfen unserer Republik auf eine Parteienoligarchie, in der die wahre Macht bei den Milliardären liegt.

Die Tagesschau bedient mit ihren diversen Nachrichtenangeboten täglich mindestens elf Millionen Zuschauer. Ihrer Aufgabe als somit wichtigste Informationsquelle der Republik wird sie jedoch immer weniger gerecht. Verflachung, Verzerrung und Emotionalisierung sind Stilmittel ihrer Berichterstattung. Sie muss mit dem Boulevard-Journalismus um Zuschauer konkurrieren und praktiziert ihn deshalb gleich selbst. Die aufgeblähte Berichterstattung über den Fall Maaßen zeigt entsprechend unseriöses und indiskutabel mieses Nachrichtenniveau. Gniffke und Seinesgleichen setzen gezielt die falschen Akzente.

Die dunkle Arbeit des Geheimdienstmannes Maaßen und ihren Nutzen für den Machterhalt unserer Plutokraten nehmen sich diese „Qualitätsjournalisten“ nicht ausgiebig vor. In seiner Verantwortung lagen: Verstrickung des Verfassungsschutzes in die Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrundes“, NSU; systematische Auskunftsverweigerung gegenüber dem Parlament; offenbare Falschaussagen; Vereitelung der Strafverfolgung von Mördern und neonazistischen Terroristen; personalstarke Verankerung in den Führungskadern der NPD; Verbrechen der Spitzel-Seilschaften; Vertuschungsmanöver inklusive Aktenvernichtung; Versagen vor und nach dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, im Fall Amri...

Nichts Erhellendes über Maaßen, der den Verfassungsschutz wie seine Vorgänger als Staat im Staate führte. Der nicht Diener des Volkes war, sondern es indoktrinierte und ausspionierte. Die oberflächlichen Sendungen der ARD-aktuell skandalisieren bloß, dass der Mann mit Rechtsextremen kungelte und der Kanzlerin in einem Bild-Zeitungsinterview beweislos zu widersprechen wagte. Eine „Majestätsbeleidigung“, zur nicht geringen Freude der AfD und rechtsradikaler Kreise allerdings, denen er zu Diensten war.

Mit der vom Kern ablenkenden Schwerpunktsetzung hält Gniffkes Qualitätsjournalismus die AfD und deren fremdenfeindliche, rechtsextreme Zielsetzung ständig auf der Tagesordnung. Absicht oder nicht: Die Tagesschau unterstützt damit, dass antisoziale, inhumane und illiberale Signale auf die Politik einwirken, während die realen Gebrechen der Gesellschaft und die feindseligen Aktivitäten der Regierung aus dem Diskurs weitgehend herausgehalten werden. Mithilfe der ARD-aktuell festigt sich stattdessen das Trugbild, dass Migration, Desintegration, Flüchtlingsprobleme und die Kooperation der AfD mit rechtsextremen und neonazistischen Kräften die großen Schicksalsfragen Deutschlands seien.

Unbeachtlich sind sie nicht. Aber die Bevölkerung hält andere Probleme aus rationalem Grund für wichtiger. Kontext: Das Integrationsklima in Deutschland, sagt der Vorsitzende des „Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration“, Prof. Dr. Bauer, ist stabil positiv. Der Klima-Index liege über der Grenzmarke 50 mit real 64 Punkten deutlich im positiven Bereich. Der Widerspruch zum AfD-Alarmismus könnte kaum größer sein.

Eine aktuelle Meinungsumfrage zeigt, dass die meisten Deutschen den Kampf gegen Altersarmut und für Gleichheit der Bildungschancen als die wichtigsten politischen Aufgaben der Gegenwart ansehen. Nach nennenswerten Anstrengungen des Gesetzgebers, den Problemen abzuhelfen und den Muskel- und Knochenschwund der siechen Solidargemeinschaft aufzuhalten, sucht man vergebens. Nach journalistischer Ursachenrecherche und Kritik der Versäumnisse allerdings ebenso.

Stattdessen wird der „Fall Maaßen“ zur wochenlang schwelenden Staatsaffäre, weil der Mann auf seine 140.000 Euro Jahresgrundgehalt noch mal 25.000 Euro draufgelegt bekommt und nicht in die Wüste geschickt werden sollte. Angeblich kapiert das keiner mehr. Wird es denn verständlicher, weil Maaßen jetzt bloß „Sonderbeauftragter“ wird, dem Seehofer möglicherweise aus „Sondermitteln“ den Hintern vergolden darf? Sind uns wirklich alle Maßstäbe flöten gegangen? Ist eine Hirnriss-Epidemie ausgebrochen? Leben wir nicht in einem perversen kapitalistischen System, das sowieso die größten Versager auf die dicksten Geldsäcke hievt?

Als VW-Chef Winterkorn abserviert wurde, warf ihm sein teilweise in staatlichem Besitz befindlicher Konzern elf Millionen Euro Boni hinterher. Ein Berliner Bürgermeister, der statt eines Flughafen-Neubaus ein Milliardengrab hinterließ, darf fröhlich seine satte Frühpension verleben und durch die Salons der Haute volée tingeln. Olaf Scholz, mitverantwortlich dafür, dass die Steuerzahler Hamburgs und Schleswig-Holsteins das Milliarden-Desaster der HSH Nordbank bezahlen müssen, wurde mit dem Aufstieg zum Vizekanzler belohnt. Ronald Pofalla, bereits als CDU-Generalsekretär die Witzfigur ungezählter Satiresendungen, stieg zum Kanzleramtsminister auf; als er da nicht mehr zu halten war, durfte er Bahn-Vorstand werden und streicht jetzt mehr das Dreifache seines früheren Ministergehalts ein, jährlich gut 600.000 Euro.

Was denn, was denn? Mehdorn, Riester, Steinbrück, von Klaeden, Kleinfeld, von Pierer, Wiesheu, Nonnenmacher, Wissmann, Breuer, Grube, Fischer, Scharping, Ackermann, Oettinger ... Meterlang ist die Liste der Namen von Abgreifern, deren Treiben in den Mainstream-Medien (ARD-aktuell eingeschlossen) allenfalls die Lebensdauer von Eintagsfliegen hatte. Das Mediengeschrei über die Besoldung Maaßens gaukelt bloß vor, der Qualitätsjournalismus erfülle seinen Kontrollauftrag gegenüber der politische Klasse und widerlege, was – nicht nur – die AfD von ihm behauptet: der Lügenpresse zu dienen.

Machen wir einmal selbst „Faktenfinder“: Die Internetseite tagesschau.debietet seit August 2018 knapp 300 Berichte zu Maaßen, null (!) Nachrichten zu Bildungschancen, zwei zur Altersarmut und drei zur Kinderarmut. Noch Fragen, Otto?

Ähnlich die Berichterstattung über die Außenpolitik. Während der Fall Maaßen genüsslich breitgetreten wurde, unterließ ARD-aktuell Informationen über neuerlich todbringende Waffengeschäfte mit Saudi-Arabien und mit dem Emirat Katar. Entgegen dem Regierungsversprechen, den Waffennachschub für den Krieg gegen Jemen zu stornieren, dürfen jetzt hocheffiziente Artillerie-Ortungssysteme an die Despoten in Riad geliefert werden. Sie können alsbald für die Erfassung von Zieldaten im Jemen verwendet werden, damit die Drohnen der Westlichen Wertegemeinschaft punktgenau ihre Opfer finden. Die Bundesregierung und ihre Parlamentsmehrheit sind Handlanger bei schwersten Kriegsverbrechen; der Mitwisser Tagesschau schweigt darüber.

Auf der anderen Seite: Oscar Wildes Aphorismus wird versimpelt zur Leitlinie oberflächlicher Politik: „Besser, es wird schlecht über uns geredet als gar nicht.“ Im Sinne dieses „Wirkprinzips“ ist die Tagesschau ein erfolgreicher Förderer der AfD und deren neonazistischer Kumpanei. Die regelmäßige Übernahme der Themen und Perspektiven jener Reaktionäre sowie die kritiklose Verbreitung hysterischer Bedrohungsszenarien dienen dem rechtsradikalen Lager und der deutschen Waffenindustrie gleichermaßen. Sie tragen zur schleichenden Formierung einer autoritären Gesellschaft bei, zur zunehmenden Polizeistaatlichkeit, zu gesteigerter Militarisierung und Aggressivität unserer Politik.

Der Tag scheint nicht allzu fern, da die Unionsparteien sich ausreichend an der AfD abgearbeitet haben werden, ihr den Status der „Regierungsfähigkeit“ nicht mehr bestreiten und anschließend mit ihr koalieren. Einige Unionspolitiker reden schon heute davon.

Dr. Gniffkes „Macht um acht“ ist nicht auf Seiten der einsturzgefährdeten Demokratie. Vielmehr bewährt sich die ARD-aktuell als Komplizin bei den Manövern der politischen Rechtsausleger. Chef Dr. Gniffke streicht übrigens nach NDR-internen Informationen 3.000 Euro mehr Monatsgehalt ein als der Beinahe-Staatssekretär Maaßen bekommen hätte. Über Fragen nach der Verhältnismäßigkeit mag da wirklich keiner mehr diskutieren.

RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln. 

Das Autoren-Team:

Friedhelm Klinkhammer, Jahrgang1944, Jurist. 1975 bis 2008 Mitarbeiter des NDR, zeitweise Vorsitzender des NDR-Gesamtpersonalrats und des ver.di-Betriebsverbandes sowie Referent einer Funkhausdirektorin.

Volker Bräutigam, Jahrgang 1941, Redakteur. 1975 bis 1996 im NDR, zunächst in der Tagesschau, von 1985 an in der Kulturredaktion für N3. Danach Lehr- und Forschungsauftrag an der Fu-Jen-Uni in Taipeh. 

Anmerkung der Autoren:

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