Meinung

Russlands Reaktion auf US-Angriffe ist begrenzten Optionen im Poker um Syrien geschuldet

Dass Russland die US-geführten Luftschläge gegen Syrien nicht militärisch beantwortet hat, wird vielerorts als Zeichen der Schwäche interpretiert. Eine realistische Betrachtung zeigt jedoch: Moskaus Hauptinteresse in Syrien ist keine unbegrenzte Eskalation.
Russlands Reaktion auf US-Angriffe ist begrenzten Optionen im Poker um Syrien geschuldetQuelle: Reuters © Ali Hashisho

von Zlatko Percinic

In den vergangenen Tagen erreichten mich viele Mails, aber auch Fragen aus dem Bekanntenkreis, ob denn mein Artikel "Russlands Armee hat Amerika den Zahn gezogen" nicht im krassen Gegensatz zu der russischen Reaktion auf die Luftschläge der Amerikaner, Briten und Franzosen auf Syrien, stehe. Insbesondere verweisen viele auf die vollmundigen Drohungen einiger Politiker und des Botschafters im Libanon, man werde jede Rakete und deren Abschussplattform abschießen, sollte Syrien angegriffen werden.

Nun, der Angriff fand statt. Und er war völkerrechtswidrig, wie ein vom Bundestag in Auftrag gegebenes Gutachten feststellte, dem sich auch andere Völkerrechtler anschlossen. Für Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen scheinen solche Überlegungen allerdings nur eine Randnotiz darzustellen; sie hätte nur zu gern Deutschland 73 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einen erneuten Aggressionskrieg geführt, der immerhin als "höchstes internationales Verbrechen" gilt.

Kündigung eines Vertrages blieb einziger tatsächlicher Schritt

Und wie reagierte Russland darauf? Mit einer Verurteilung, bei welcher sich der UN-Sicherheitsrat erneut als unfähig präsentierte, selbst für die eigenen Maßstäbe laut UN-Charta einzustehen, und mit dem Entschluss, den Vertrag mit der NATO über die Antonow-124-Großraumtransportflüge nicht mehr zu verlängern. Das war's. Die in Syrien stationierten russischen Einheiten haben nicht eine einzige Luftabwehrrakete abgefeuert, nicht eine einzige Abschussplattform wurde abgeschossen, wie es verkündet wurde.

Nun fragen sich viele, ob denn der russische Bär nicht doch eher ein zahnloser Tiger ist, der zwar laut brüllt, aber eben keine Gefahr darstellt. In einer Zeit, in der die Wahrnehmung von einem Gegner ebenso wichtig ist wie das reale Potenzial, war das Ausbleiben einer militärischen Antwort eine Katastrophe für die Selbstdarstellung Russlands. Auf der einen Seite sehen sich jene bestätigt, die - abgesehen von den Nuklearwaffen - ohnehin nichts von der russischen Armee hielten und sich jetzt nur noch stärker dazu angestachelt fühlen, eine direkte Konfrontation mit Moskau zu suchen. Auf der anderen Seite gibt es jene, die gehofft haben, dass Russland dieser westlichen Aggression endlich Einhalt gebietet und sich den Angreifer in den Weg stellt. Sie sind enttäuscht und fühlen sich verständlicherweise von Präsident Putin verraten. Nicht ganz unähnlich war die Situation in den selbstausgerufenen Volksrepubliken von Donezk und Lugansk, wo sich die Menschen ebenfalls mehr Hilfe aus Moskau erhofft haben, nachdem sie sich gegen die ukrainische Offensive im Jahr 2014 gestemmt hatten.

Während also die einen die Luftschläge als Sieg feiern, was in der Wahrnehmung aus ihrer Sicht sogar stimmt, fragen sich die anderen, weshalb der vermeintliche Heilsbringer klein beigegeben hat. Die korrekte Frage sollte aber lauten: Was hätte Russland tun können?

Schlechte Optionen in Syrien

Nur weil Moskau über Technologien verfügt, die den riesigen Kriegsschiffen und Flugzeugträgern der Amerikaner, Briten und Franzosen tatsächlich "den Zahn ziehen können", bedeutet das aber noch lange nicht, dass man diese Waffen auch überall einsetzen wird. Man muss sich klarmachen, dass Syrien für Russland in vielerlei Hinsicht wichtig ist. Aber nicht überlebenswichtig! Des Weiteren muss man sich klarmachen, mit wie viel Mann Russland eigentlich in Syrien involviert ist. Obwohl das Verteidigungsministerium in Moskau keine Angaben dazu macht, bewegen sich die Schätzungen anhand der Zahl der Wahlzettel für die letzten Präsidentschaftswahlen zwischen 4.000 bis 7.000 Mann. Dazu zählen sämtliche Angehörige des Militärs, also Infanterie, Piloten, Köche, LKW- und Panzerfahrer, Artilleristen, Marine, Lageristen usw.

Als Basis dienen den Russen lediglich der Luftwaffenstützpunkt von Hmeimim bei Latakia, nur fünfzig Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, und der noch aus der Sowjetzeit stammende Hafen von Tartus. Auch die Anzahl der Kampfjets der russischen Luftwaffe zeugt von einer von Anfang an eng begrenzten Aufgabe, nämlich der Zerschlagung des sogenannten Islamischen Staates und des Schutzes der russischen Basen. Zu keinem Zeitpunkt befanden sich mehr als 35 Kampfjets in Syrien im Einsatz, die unter dem Schutz der modernen Luftabwehrsysteme S-300, S-400 und Pantsir operierten. Bis Ende 2017 flogen diese drei Dutzend Kampfjets an die 7.000 Einsätze in Syrien.

Im Vergleich dazu haben allein die Amerikaner mehr als zehn Basen in Syrien errichtet und zwei Luftwaffenstützpunkte in Besitz genommen. Um Syrien herum haben die USA rund 54.000 Mann in verschiedenen Ländern stationiert. Tausende weitere kommen dazu, die sich mit den diversen Flottenverbänden der Briten und Franzosen im Mittelmeer vereinigt haben. Dazu hunderte Kampfjets, ballistische Raketen und Torpedos, nicht weit vor den syrischen Gewässern in bedrohlicher Formation.

Auch wenn Russland über hochmoderne und in manchen Bereichen sogar den Amerikanern überlegene Waffensysteme verfügt, so kann man dann doch anhand dieser Infografik das uralte Gesetz der Kriegsführung erkennen: Bei statischen Schlachten entscheidet (meistens) die schiere Übermacht an Soldaten und insbesondere der Feuerkraft.

Russland hat sich geweigert, Truppen vor Ort zu verheizen

Hätte also Russland die Drohung wahrgemacht und auch nur ein einziges Flugzeug der Angreifer abgeschossen, oder sogar ein Kriegsschiff oder einen Flugzeugträger angegriffen, dann wäre sprichwörtlich die Hölle losgebrochen und wir könnten das Jahr 2018 als das Jahr in die Geschichtsbücher eintragen, in welchem die Vereinigten Staaten von Amerika sich im offenen Krieg mit Russland befinden. Die Reaktion der US-Streitkräfte wäre mit Sicherheit nicht ausgeblieben. Ein massiver Beschuss hätte die russischen Basen in wenigen Stunden dem Erdboden gleichgemacht und es hätte nichts, aber auch rein gar nichts gegeben, was Moskau dagegen tun hätte können. Syrien liegt über 1.000 Kilometer von der nächstgelegenen russischen Basis entfernt, es gäbe keinerlei Nachschub für die Truppen, die den ersten Schlag der Amerikaner überlebt hätten.

Wladimir Putin hätte dann entweder mit gesenktem Haupt die Niederlage in Syrien und Vernichtung der russischen Präsenz eingestehen müssen, was ihm das Volk zuhause niemals verziehen hätte, oder aber er hätte mit weiteren Mitteln reagiert, die aber allesamt sein Land ins Verderben gestürzt hätten.

Deshalb hat Russland beim Angriff der Amerikaner, Briten und Franzosen nicht militärisch reagiert, weil einfach keine Aussicht auf irgendeinen positiven Abschluss der Aktion bestand. Moskau blieb nichts anderes übrig als die Hoffnung zu hegen, dass sich in Washington doch noch ein paar rationale Köpfe finden, die den kriegslüsternen Neocons die Konsequenzen ihrer Pläne aufzeigen, russische und iranische Truppen anzugreifen. Der 14. April hat gezeigt, dass sich diese Köpfe dieses Mal durchsetzen konnten und "nur" einen limitierten Schlag - der deshalb nicht weniger ein Verbrechen war - durchführen.

Ob das bei einem nächsten angeblichen Giftgasanschlag gelingen wird, wenn Medien und Politiker wieder Blut geleckt haben und es nicht abwarten können, weitere Bomben und Raketen in einem Akt der Aggression auf Syrien abzuwerfen, bleibt fraglich. Und schon eilte der israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman nach Washington, weil sich die Regierung in Jerusalem über den limitierten Luftschlag der Angreifer enttäuscht zeigte, um für ein erneutes Eingreifen gegen iranische Truppen in Syrien zu werben.

Für Moskau bedeutet das, dass man nur zwischen schlechten und sehr schlechten Optionen wählen kann. Der einzige realistische Weg ist auch gleichzeitig der, den Putin bereits fährt: die Zerstörung der dschihadistischen Netzwerke in Syrien; der Zusammenhalt der Syrisch Arabischen Republik, wie wir sie heute kennen; die Bewaffnung der syrischen Streitkräfte mit modernen Waffen zur Selbstverteidigung; und ein politischer Prozess, gegen welchen sich insbesondere die Westmächte und Israel zur Wehr setzen. In einem außergewöhnlich ehrlichen Moment hieß es diesbezüglich in der israelischen TageszeitungHaaretz am 18. Dezember 2017:

Nachdem die Karte des syrischen Konflikts entscheidend zugunsten von Präsident Baschar al-Assad neu gezeichnet wurde, wollen seine russischen Verbündeten, einschließlich des Irans, die militärischen Errungenschaften in eine Beilegung [der Krise] umwandeln, die die zerrüttete Nation stabilisiert und ihre Interessen in der Region sichert: eine Aussicht, der die israelische Regierung stark widerspricht.

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