Töten im Staatsauftrag: Zur Geschichte des israelischen Auslandsgeheimdienstes
von Jürgen Cain Külbel
Seit Montag ist das Buch Der Schattenkrieg. Israel und die geheimen Tötungskommandos des Mossad im Handel. Autor des Werks ist Dr. Ronen Bergman, ein 45 Jahre alter Israeli, Chefkorrespondent für Militär- und Geheimdienstthemen der Tageszeitung Yedioth Ahronoth. Der ausgebildete Jurist, der auch für den israelischen Generalstaatsanwalt arbeitete, hatte 2007 an der Universität Cambridge seinen Doktor mit einer Arbeit über den Mossad gemacht.
Für sein jüngstes Buch, „das erste über den Mossad oder den israelischen Geheimdienst, das auf autorisierten Interviews und vorher nicht veröffentlichten Dokumenten basiert“, so Bergman gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, habe er mit rund 1000 Menschen gesprochen – darunter sechs frühere Mossad-Chefs, sechs ehemalige israelische Ministerpräsidenten wie Ehud Barak und Ehud Olmert sowie der amtierende Regierungschef Benjamin Netanjahu. Seine Recherchen ergaben, dass die israelischen Geheimdienste seit ihrem Bestehen mehrere Tausend Menschen getötet haben:
Alles in allem reden wir über mindestens 3000, darunter nicht nur die Zielpersonen, sondern auch viele Unschuldige, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Allein während der zweiten Intifada gab es Tage, an denen in der Befehlszentrale vier bis fünf ‚gezielte Tötungen‘ angeordnet wurden, in der Regel gegen Hamas-Aktivisten.
An seinem Buch hat Bergman ganze sieben Jahre gearbeitet. Darin beschreibt er chronologisch die Entwicklung des Mossad bis zum Herbst 2017. Er beleuchtet verschiedene „Missionen“ des Auslandsgeheimdienstes, die allerdings großenteils bekannt sind, sowie die dahinterstehenden politischen Entscheidungsprozesse. Als Grund für den Aufbau der israelischen Geheimdienste und deren unorthodoxes Vorgehen, „politische Konflikte auf blutige und rechtlich umstrittene Weise lösen zu wollen“, nannte Bergman gegenüber dem Spiegel, dass „einige der frühen Zionisten desillusionierte Revolutionäre aus Russland waren. Sie hatten das Konzept der politischen Morde aus ihrer Heimat mitgebracht und gründeten 1907 die erste bewaffnete zionistische Einheit in Jaffa“.
Sodann zogen die Juden die Lehre aus dem Holocaust, „dass wir ein eigenes Land als Schutzraum für Juden brauchen und dieses Land gegen zahlreiche Feinde verteidigen müssen - mit allen Mitteln. Und jeder dieser Feinde wurde mit Hitler gleichgesetzt: Nasser, Arafat, Saddam Hussein, Ahmadinedschad. Gegen solche Leute galt es als legitim, sich über alle internationalen Normen und Gesetze zu stellen. Das ist die Geisteshaltung, bis heute.“
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Benjamin Netanjahu dirigiert Mordkommando
Beseelt von einer solchen Geisteshaltung checkten im September 1997 die „kanadischen“ Staatsbürger – der 28-Jährige Shawn Kendall und der acht Jahre ältere Barry Beads – im luxuriösen Intercontinental-Hotel in Jordaniens Hauptstadt Amman ein. Am 25. September nahmen sie den damaligen Befehlshaber der Hamas in Jordanien ins Visier. Sie folgten dem 41-Jährigen Khaled Meshal heimlich auf seinem Weg ins Büro. Kaum hatte der den Flur des Gebäudes betreten, sprang ihn einer der „Kanadier“ von hinten an und stach ihm einen Gegenstand ins linke Ohr, aus dem Gift austrat. Die beiden Attentäter flüchteten, drängten sich in ein wartendes Auto und rasten davon. Meshals Bodyguard flitzte hinterher, stoppte ein Privatauto, schlüpfte hinein und gab ordentlich Gas. Schließlich gelang es dem Kampfkunst-Experten, die beiden fliehenden Männer auf der Straße zu stellen. Jordanische Sicherheitskräfte kamen hinzu und brachten die „Kanadier“ auf die Wache. Dort gaben sie hastig zu, Israelis zu sein und für den Mossad zu arbeiten.
In der Zwischenzeit wirkte das Nervengift. Im Krankenhaus fiel Meshal in eine tiefe Bewusstlosigkeit und musste bald künstlich beatmet werden. König Hussein von Jordanien rief den damaligen (wie auch heutigen) israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu an und forderte die Herausgabe eines Gegengiftes. Er drohte zudem, sollte Meshal sterbe, würden die beiden Mossad-Agenten öffentlich aufgeknüpft. Zudem werde Jordanien die diplomatischen Beziehungen zu seinem Nachbarland abbrechen. Doch Netanjahu lehnte ab. Der Monarch wandte sich sodann an den damaligen US-Präsident Bill Clinton und forderte diesen auf, Netanjahu das Gegengift abzupressen. Netanjahu knickte schließlich vor Clinton ein, woraufhin ein israelisches Ärzteteam mit dem Gegengift im Gepäck in die jordanische Hauptstadt flog.
Clinton, so wird kolportiert, wütete nach dem Gespräch mit Netanjahu: „Ich kann mit dem Mann nichts anfangen. Der ist unmöglich.“ Ein ranghoher Beamter im Weißen Haus wurde deutlicher: „Wir verabscheuen ihn.“ Am nächsten Tag, so die Legende, flog Netanjahu in geheimer Mission nach Amman, um die Freilassung der Agenten einzufordern. König Hussein ließ ihn gar nicht erst vor. Über seinen Bruder, Kronprinz Hassan, forderte er vor Übergabe der Mossad-Agenten die Freilassung des in Israel zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten „geistigen Führers“ der Hamas, Scheich Ahmed Yassin, sowie anderer Aktivisten der Organisation. Gesagt, getan. Tausende Hamas-Anhänger konnten den Scheich bald im Gazastreifen begrüßen.
Kronprinz Hassan flog umgehend nach Washington, wo er Präsident Clinton, seinem Vize Al Gore und Außenministerin Madeleine Albright das Videoband mit den Geständnissen der Mossad-Agenten vorspielte und an Clinton appellierte, seine Hand schützend über den „Friedensprozess“ im Nahen Osten zu halten. Der Washington Post erklärte Clinton, er fühle noch immer „Aufwallungen von Übelkeit“, wenn er an Netanjahus Aktion denke und deren mögliche Konsequenz für den Frieden im Nahen Osten. König Hussein hingegen bangte mehr um den Geisteszustand Netanjahus: „Ich kann nicht verstehen, wie der israelische Premierminister denkt; und das macht mir große Sorgen“, sagte er der Londoner Zeitung Al-Hayat.
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Der Agentenposse, die den bislang größte Reinfall in der Geschichte des Mossad darstellt, war eine Entscheidung des israelischen Kabinetts vorausgegangen. Nachdem am 30. Juli 1997 zwei Selbstmordattentäter der Hamas auf dem Mahane Yehuda Mark in Jerusalem 16 Israelis getötet hatten, trat das Kabinett zusammen und stimmte dafür, die Führer der Hamas zu jagen und aufzuspüren, wo immer sie auch sind. Der Mossad entwarf Pläne, wie er die Chefs der Palästinenserorganisation in verschiedenen arabischen Städten töten kann. Ende August 1997 präsentierte dessen damaliger Chef Dani Yatom dem Premier mehrere Attentatspläne auf Hamas-Vertreter in der syrischen Hauptstadt Damaskus und in Amman. Im September gab Netanjahu dann grünes Licht für die Aktion auf jordanischem Hoheitsgebiet.
Zweite Intifada: Die Gewalt eskaliert
Der Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 markierte den Beginn einer neuerlichen Blutorgie, die bis 2004 andauern sollte: Die Israelis brachten in jener Zeit Dutzende hochrangige Führer der Fatah, Hamas und PFLP um. So auch im März 2004 den von König Hussein freigepressten, fast blinden und an den Rollstuhl gefesselten Hamas-Führer Ahmed Yassin. Israels Armee schoss drei Raketen auf ihn ab. Einen Monat später ereilte seinen Nachfolger Abd al-Asis al-Rantissi das gleiche Schicksal; dabei wurden Dutzende Unbeteiligte als „Kollateralschäden“ getötet oder verwundet.
In Jahr 2010 sorgte Israel erneut für einen internationalen Skandal, als ein 29-köpfiges Mordkommando falsche europäische und australische Pässe benutzte, um den hochrangigen Hamas-Funktionär Mahmoud al-Mabhuh in seinem Hotelzimmer in Dubai zu töten. Die Sicherheitsbehörden der Vereinigten Arabischen Emirate fanden schnell heraus, dass der Mossad dahintersteckte und publizierten die Passfotos der Kommandomitglieder. Es dauerte nicht lange bis Dubais Polizeichef Dahi wegen seiner Rolle bei der Aufklärung des Verbrechens Todesdrohungen erhielt – wie er behauptete, vom Mossad.
Im März 2017 ermordeten die Israelis dann in Gaza-Stadt den Aktivisten Mazen Fuqaha, eine der führenden Persönlichkeiten der Hamas. Sie schossen ihm kurzerhand vier Kugeln in den Kopf. Und vor gut einem Monat, am 14. Dezember 2017, wurde der Luftfahrtingenieur Mohammed al-Zawari eliminiert. Der 49-Jährige wurde vor seinem Haus in der Nähe der tunesischen Stadt Sfax durch mehrere Schüsse getötet. Al-Zawari gehörte in den letzten 10 Jahren dem militärischen Flügel der Hamas an und war für das Drohnenprogramm verantwortlich. Der Justizsprecher aus Sfax, Mourad Tourki, teilte dem tunesischen Radio Shems FM mit, acht tunesische Staatsangehörige seien im Zusammenhang mit dem Mord verhaftet worden, so auch ein tunesischer Journalist aus Ungarn und ein Kameramann. Zwei weitere Verdächtige, darunter ein Belgier marokkanischen Ursprungs, befänden sich noch auf freiem Fuß. Die Hamas bezichtigte Israel der Ermordung.
Skrupellos verübt der Mossad seit Jahrzehnten Attentate und Bombenanschläge. Die letzte bekannt gewordene Tat ereignete sich erst Mitte Januar, als Agenten des Dienstes eine Autobombe im libanesischen Sidon zündeten. Der Geheimdienst vergiftet, erschießt oder beseitigt auf andere kreative Art und Weisen Israels Gegner in aller Herren Länder – Kollateralschäden inklusive. Und alle Welt weiß: Diese Mordpraxis wird weder von den Vereinten Nationen oder der westlichen Wertegemeinschaft ausgebremst. Ob sie jemals vor einem Internationalen Strafgerichtshof verhandelt werden wird, steht in den Sternen. Noch tötet Israel außergerichtlich und kommt regelmäßig straflos davon. Vielleicht taugt Ronen Bergmans Werk über den Mossad – selbstverständlich von ihm so nicht beabsichtigt – irgendwann als Beweismittel für einen Internationalen Gerichtshof, wenn dieser den Mut findet, ein Tribunal in Sachen (Staats-)Terrorismus und Massenmord gegen die Verantwortlichen in Tel Aviv einzurichten.
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