
Joschka Fischer, die Wehrpflicht und die Schmuddelkinder

Aus Rache ist er reich geworden in der Oberstadt
dort hat er sich ein Haus gebaut, nimmt jeden Tag ein Bad.
Franz-Josef Degenhardt, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern
Von Dagmar Henn
Wenn Joschka Fischer jetzt eine Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland nicht nur toleriert, sondern fordert, entbehrt das nicht der Logik – wie anders sollte jemand reagieren, der schon auf dem Schoß von Madeleine Albright saß? Aber Fischer, der symbolisch für eine ganze Generation steht, ist damit auch wieder in die alte Spur zurückgekehrt.
Es gibt dieses Lied von Degenhardt über die Schmuddelkinder, das zu der Zeit, als Fischer noch als Rebell die Frankfurter Innenstadt unsicher machte, sehr beliebt war. Der Held, das Kind einer wohlhabenden Familie, streunt anfangs mit den armen Kindern herum; wird dann aber "domestiziert", woraufhin ihn seine ehemaligen Spielkameraden verspotten. Dann wendet er sich gegen sie. Nicht nur, dass er in die Oberstadt zurückkehrt, er reißt die Kaninchenställe ab, in denen er als Kind gespielt hat, und setzt an deren Stelle ein Immobilienprojekt. Bis zu diesem Punkt erzählt das Lied irgendwie auch von Fischer, obwohl sein Vater, der Metzger war, eigentlich nicht zur "Oberstadt" gehörte. Nur das Ende, das unterscheidet sich.

Aber es ist gerade die Tatsache, aus einer nicht so wohlhabenden Familie zu stammen, die Fischer so sehr zum Symbol einer Generation werden ließ. Zwischen 1960 und 1975 studierte diese eine Generation, die in der Bundesrepublik tatsächlich einen sozialen Aufstieg erreichte. Übrigens nur deshalb, weil es durch die Schließung der Grenze der DDR unmöglich wurde, sich fertig ausgebildete Akademiker einfach von dort abzuwerben. Fischer hat selbst zwar die Schule noch vor dem Abitur abgebrochen, aber das waren die Kreise, in denen er verkehrte: diese jungen Leute, die nicht nur in ihrer sozialen Zusammensetzung eine Öffnung darstellten, sondern auch politisch kritischer waren.
Das konnte man zumindest denken. Der Vietnamkrieg war das große Thema, das alles andere überstrahlte, aber von dort aus führten viele Wege in allerlei verschiedene radikale Gruppen. Das Kabinett der Regierung Schröder war voller Vertreter dieser Generation; Schröder selbst eingeschlossen, der vor seiner Bekehrung zum braven rechten Sozialdemokraten einst als Juso zum Stamokap-Flügel gehörte. Für Außenstehende verkörperten sie die Hoffnung auf eine menschlichere Politik, zumindest bis zum Tag nach der Wahl. Und dann erwies sich, dass sie alle längst beschlossen hatten, ihr Haus in der Oberstadt zu errichten.
Wenn es eine Gestalt gibt, die für den Wandel der Grünen von einem wilden Durcheinander aus Pazifisten, den Überresten der verschiedensten K-Gruppen und Anarchisten zur Partei der schärfsten Kriegstreiber steht, dann ist es Fischer, der sie 1999 beim Angriff auf Jugoslawien persönlich umdrehte; der als Erster die Rhetorik der vermeintlich für die Menschenrechte erforderlichen Kriegshandlungen in die deutsche Politik eingeführt hat, die dann Schritt für Schritt weiterführte. Von der Nähe zu ukrainischen Nazis bis hin zur "Kriegstüchtigkeit".
"Der Personalbestand der Bundeswehr ist verdammt niedrig. Wenn wir abschreckungsfähig werden wollen, wird das ohne eine Wehrpflicht nicht gehen", erklärt er in einem aktuellen Interview im Spiegel. Und: "Beide Geschlechter sind gefragt. Entweder wir haben die Gleichstellung, oder wir haben sie nicht."
Und wenn man abmessen will, wie tief er gesunken ist, genügt dieser Wortwechsel:
"Spiegel: Trauen Sie Friedrich Merz zu, Deutschland kriegstüchtig zu machen?
Fischer: Es gibt keinen anderen."
Nein, man muss nicht näher ausführen, wie er all die NATO-Sprechblasen zu Russland wiederholt. Das mit dem Haus in der Oberstadt, das war eigentlich schon an dem Tag fest vereinbart, als er im Dezember 1985, im Alter von 37 Jahren, in Hessen die berühmte Szene einer Ministervereidigung in Turnschuhen lieferte. Schließlich waren das nicht irgendwelche Turnschuhe, sondern Nike. Und seine Teilnahme an einer Demonstration gegen den NATO-Aufrüstungsbeschluss lag bereits zwei Jahre zurück.
Eigentlich ist es fast unvorstellbar, dass der Mann, der als Außenminister den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr, die Bomben auf Belgrad, aber auch die Bundeswehr in Afghanistan mitzuverantworten hatte, heute nicht für die Wehrpflicht eintreten könnte. Schließlich war es irgendwie die Kernaufgabe seiner politischen Existenz, den deutschen Militarismus wieder aus der Mottenkiste zu holen, in den ihn in der westlichen Republik vor allem seine eigene Generation verbannt hatte. Die mit Vietnam, dem ersten im Fernsehen übertragenen Krieg, genug gesehen hatte, sodass die Zahl der Kriegsdienstverweigerer kontinuierlich zunahm. Im Jahr 1968 waren es 11.952; 1972 waren es bereits 33.792, 1977 waren es 69.969 und 1991 waren es 151.212. Die sozialdemokratischen Regierungen vor Helmut Kohl bemühten sich auch, das Gespenst der Naziwehrmacht in der Bundeswehr mit Konzepten wie "Staatsbürger in Uniform" zumindest etwas zurückzudrängen (wenn man heute sieht, mit welcher Begeisterung das aktuelle Personal, wie General Christian Freuding, in das alte Lied vom Ostlandritt einstimmt, nur mit sehr begrenztem Erfolg).
Die SPD hätte es alleine nicht schaffen können, die Reste der Friedensbewegung der 1980er zu zerschlagen. Das konnten nur die Grünen, und Fischer war geradezu prädestiniert, der Turnschuhminister, der den Aufstieg dieser Generation am klarsten verkörperte. Und er lieferte – gnadenlos. Die Bomben auf Belgrad 1999 brachten ihm auf dem nächsten Parteitag seiner Partei einen Farbbeutel ein, aber kein Karriereende. Als die Regierung Schröder 2005 wieder abtrat, die mit Hartz IV ganz nebenbei auch noch den Sozialstaat auf neoliberal getrimmt hatte, war Frieden für die Grünen kein Thema mehr und die ganze Partei fest in transatlantischer Hand.

Ja, an zwei Punkten ist die Geschichte, die Franz-Josef Degenhardt in seinem Lied erzählt, zu harmlos. Der Held seines Lieds geht letztlich unter, weil er die Sehnsucht nach der Freiheit zwischen den Schmuddelkindern in den Kaninchenställen nicht los wird. Fischer wurde nicht in seine Rolle gedrängt, nicht zur Korruption gezwungen; es war seine freie Entscheidung. Er hat alles abgelegt, was je im Widerspruch zur herrschenden Ordnung stand; er ist die konzentrierte Verkörperung der Tatsache, dass die meisten der 68er das, wofür sie einmal eingetreten waren, vollständig verraten haben. Es ist ein Verrat, der keine Strafe nach sich zog.
Viel ernster ist allerdings der zweite Punkt. Denn gerade Fischer hat seinen Aufstieg, sein "Haus in der Oberstadt" mit dem Blut anderer bezahlt, nicht nur mit der Vertreibung der einstigen Freunde. Seine Grünen, die Partei, die er zum politischen Arm der damals eigentlich funktionslosen NATO gemacht hatte, spielten die entscheidende Rolle dabei, den Putsch in der Ukraine als progressiv zu verkaufen und den Nazismus dort kleinzureden. Unter seiner Regie wurde jene Generation herangezogen, die heute selbst die Vorstellung eines friedlichen Zusammenlebens von Völkern und Kulturen in die Tonne tritt, die noch unter Helmut Kohl vorhanden waren; es war die Kehrtwende der Grünen, die der Zersetzung der gesamten Szene, die sich einmal links nannte, den Weg bereitete.
Im historischen Rückblick wird Joschka Fischer der Verantwortung nicht entgehen können. Auch wenn er jetzt die Wehrpflicht im Grunde nur fordert, um sein neuestes Buch besser zu verkaufen – das ist der Endpunkt einer langen Geschichte des Verrats, die die kurze demokratische Öffnung der Bundesrepublik nur als Impuls missbrauchte, um am Ende wieder beim alten Ostlandritt anzukommen und die Turnschuhe gegen Kommissstiefel zu tauschen.
Mehr zum Thema - Der Sündenfall 1999: Die NATO überfällt Jugoslawien
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.