
Wie Lanz und Precht stets einen Schritt vor der Wahrheit kehrtmachten – Des Schauspiels erster Akt

Von Anton Gentzen
Sie ist ein unerklärliches Mysterium: Die sture Weigerung deutscher und sonstiger westlicher Intellektueller (ob mit, ob ohne Anführungszeichen), Offensichtliches zu begreifen.
Aus der Geschichte ist eine solch totale Denk- und Erkenntnisverweigerung, wie wir sie in der Ukraine-Krise seit nun 12 Jahren erleben, eher unbekannt. Gewiss, es gab düstere Zeiten, aber selbst da fanden sich in jeder Lage und jeder Nation Intellektuelle, die das Geschehende in seinem Wesen erfassten und auf den Punkt brachten. Und sei es auch nur aus dem Exil.

Wo sind heute die Intellektuellen, die keine Propagandafloskeln sprechen und nicht stumpf die Narrative des gleichgeschalteten Mainstreams nachbeten? Die zu den Ursachen des aktuellen russisch-ukrainischen, russisch-europäischen Konflikts vordringen?
Der Glaube eines Wissenschaftlers
Es gab viele Erlebnisse in den letzten Jahren, nach denen es mir in den Fingern juckte, diese oder ähnliche Zeilen zu schreiben. Da war beispielsweise vor kurzem ein US-amerikanischer Professor, ein gewisser Matt Duss, der in einem Rededuell gegen Jeffrey Sachs antrat. Als es darum ging, dass die Ukraine und Russland im März 2022 einem Friedensschluss nahe waren, stritt Duss dies mit dem "Argument" ab, er "glaube" nicht daran, dass Putin so kurz nach dem "Überfall" seine Truppen wieder aus der Ukraine abgezogen hätte – Zeitstempel 23:40 in diesem Video.
Nun behandelt von allen Wissenschaften nur die Theologie den Glauben, und Theologe war der Mann nicht, sondern "Nahostexperte". Alle anderen Wissenschaften gleichen ihre Hypothesen mit Beobachtungen und Erkenntnissen aus der physischen Welt ab. Weiß Herr Professor nicht, dass Putin in der realen Welt genau das, woran er nicht glaubt, getan hat? Nämlich, dass er "seine Truppen" Ende März 2022 – und damit kurze Zeit nach dem "Überfall" – aus drei ukrainischen Gebieten (Kiew, Sumy, Tschernigow) abzog. Als "Geste guten Willens" im Vorgriff auf ein Friedensabkommen.
Dabei handelt es sich um eine Tatsache, die nicht nur von russischen Sendern berichtet wurde, sondern sogar in der englischsprachigen Wikipedia festgehalten ist. Also kaum anzunehmen, dass sie Herrn Professor entgangen sein kann. Offensichtlich hat es einen anderen Grund, dass er sich so leicht widerlegbar in die Nesseln setzte.
Es ist ein altes und aus vielen Zusammenhängen bekanntes psychologisches Phänomen: Wenn eine Tatsache der vorgefassten Überzeugung oder dem gehuldigten Glauben so eklatant widerspricht, dass sie die Überzeugung oder den Glauben ins Wanken bringen könnte, dann verdrängt sie das Gehirn nach Kräften aus dem Bewusstsein, egal wie allgemein bekannt und evident die Tatsache ist.
Leichter funktioniert es freilich, wenn man die den vorgefassten Glaubenssätzen widersprechenden Tatsachen auch noch irgendwie entwerten kann. Am besten tötet man den Boten, wie es derzeit Millionen tun, indem sie erst alle Informationen aus russischen Kanälen nach dem Motto "Der Russe lügt immer" zur "russischen Propaganda" (Propaganda kann übrigens auch wahr sein, aber das kann man dem durchschnittlichen Deutschen aktuell gar nicht erklären) und dann im zweiten Schritt schlichtweg alle nicht ins Narrativ passenden Informationen zur selbigen "russischen Propaganda" erklärten. Kommt die Information nicht aus russischen Kanälen, wird sie trotzdem entwertet: "Er plappert die Kreml-Narrative nach", heißt es in diesem Fall. Kriterium der Wahrheit sollte die Lebenswirklichkeit sein, nicht die Nationalität des Boten, aber Hauptsache, die eigene Seelenruhe und der eigene Glaube bleiben intakt.
Lanz und Precht – Ein sportlich-erotisches Schauspiel in zwei Akten
Neulich stieß ich auf eine andere Art von Denkblockade. Zwei Intellektuelle (ja, Deutschland, das sind deine Intellektuellen, "andere habe ich nicht für euch", wie Stalin sagen würde) versuchten da in mehreren Anläufen, den Ukraine-Konflikt zu lösen. Dabei machten sie jedes Mal genau einen halben Schritt vor Erkenntnis der Wahrheit kehrt. Es war fast schon amüsant zu beobachten, in welchem Tempo zwei gestandene Mannsbilder vor dem Begreifen wegrannten: So wie ein Arachnophobiker aus dem Bad stürmt, wenn darin eine Spinne auftaucht. Oder ist es Angst vor dem Blick in den Spiegel?
Die Rede ist, der Leser ahnt es bereits, von Markus Lanz und Richard David Precht (wenn der Mann auf zwei Vornamen Wert legt, soll er sie haben). Über deren gemeinsamen Podcast stolpere ich ab und zu auf YouTube. Meistens bereue ich die sinnlos verschwendete Zeit und die gemeuchelten Nervenzellen. Dieses Mal komme ich mir als Zuschauer in einem Wettbewerb tolpatschiger Stabhochspringer vor: Der Athlet nimmt Anlauf, er rennt auf das Hindernis zu, das Publikum feuert ihn an, er beschleunigt, das Publikum wird frenetisch... Der Athlet rammt kurz vor dem Hindernis den Stab in den Boden und... und springt nicht.
Schalten wir doch bei Minute 10:30 in die Übertragung. Lanz und Precht hatten sich gerade mit Geplänkel über das Rasenmähen aufgewärmt, nun kommt die Rede auf das Ultimatum von Merz, Macron und Starmer. Precht nimmt Anlauf:
"So geht es ja auch nicht. Der [Putin] wird ja sofort sagen: 'Ich lasse mich nicht erpressen'. So. Macht mal einen Grundkurs zum Thema Diplomatie!"
Precht rennt:
"Also erstmal die gute Nachricht. Ich gehörte zu denjenigen, die im Sommer 2022 in der Zeit einen Aufruf zu Friedensverhandlungen unterzeichnet haben und gesagt haben, dieser Konflikt kann nur diplomatisch gelöst werden. Darauf gab es dann sehr viel Häme und sehr viel Kritik, die da in die Richtung ging, (a) mit Putin kann man nicht verhandeln, aus moralischen Gründen, und (b) der will auch gar nicht verhandeln. Dass wir jetzt einen neuen Bundeskanzler haben, der gesagt hat, wir müssen sofort in Verhandlungen treten [...], das ist die gute Nachricht."
Keine Ahnung, wo ausgerechnet Ultimaten-Fritz das gesagt haben soll, aber sei es drum. Schönheitsfehler des Athleten, wie auch seine Vergesslichkeit. Als es für die Ukrainer gerade etwas besser zu laufen schien, revidierte Precht seine Unterschrift wieder.
Precht beschleunigt:
"Wunderbar, dass das funktioniert. Und wir sehen ja auch, die Russen hören ja auch zu. Und es gibt die eine oder andere Aussicht, jetzt mal ins Gespräch zu kommen."
Precht rammt den Stab in den Boden:
"Das Schlechte ist, wenn man Friedensverhandlungen machen will, dann haben sowohl auf der einen Seite jetzt gerade die vier genannten, also Merz und Co., wie vorher Donald Trump, eindrucksvoll gezeigt, wie es nicht geht. Ich frage mich, was ist das für ein Spitzenpersonal, das nie in seinem Leben gelernt hat, wie man vernünftig verhandelt."
Das Publikum hält den Atem an und...
... und sieht, wie Precht den Stab wegwirft und gemütlich zurück zum Start wackelt:
"Also bei Trump war es ja so, der hat hier Nikolaus gespielt, hat den Sack aufgemacht und hat Putin gesagt: 'Was willst du alles haben? Du willst die Ostgebiete der Ukraine haben? Ja, ja, die kannst du haben. Du willst keinen NATO-Beitritt haben? Ja, das kannst du haben. Alles, was der andere will, kriegt er, und dann braucht man auch nicht lange verhandeln."
In Russland sagt man dazu auch: "Er begann den Trinkspruch mit 'Lang lebe!' und beendete ihn mit 'Ruhe in Frieden!'" Für eine Minute schien es, als hätte Precht begriffen, dass der Frieden bislang an der Verweigerungshaltung und zuletzt an der Stümperhaftigkeit des westlichen Spitzenpersonals scheiterte. Er will die Stümper bereits auf die Diplomatenschule schicken, erschrickt aber vor dem eigenen Mut und macht nur Trump und nur das Einzige zum Vorwurf, was dieser richtig gemacht hat: die wahren Ursachen des Kriegs aus dem Weg zu räumen. Lanz brachte gar noch die Krim ins Gespräch, über die es nun wahrlich keine Verhandlungen mehr geben wird.
Dabei weiß Precht bestens, was es noch zu verhandeln gibt:
"Putin sagt ja jedes Mal, ich rede mit euch über Frieden, aber lasst uns mal darüber reden, wie soll denn eigentlich nach Beendigung des Krieges die europäische Friedensordnung aussehen?"
Mit diesem Satz hätte der Sprung im ersten Anlauf gelingen können... Schade.
Precht nimmt neuen Anlauf:
"Russland hat eine Riesenangst davor, dass der Krieg zu Ende geht, und das Nächste, was dann passiert, ist, dass der Westen die Ukraine bis an die Zähne aufrüstet und die Ukrainer sich ihre im Krieg geklauten Gebiete wiederholen wollen."
Aha, also versteht er, was einem dauerhaften Frieden im Weg steht. Sehen wir ihm gar das "geklaut" nach, zweiter Schönheitsfehler. Russlands Angebot, über eine für alle Seiten befriedigende europäische Sicherheitsordnung zu reden, wurde im Dezember 2021 von USA, NATO und den Europäern brüsk zurückgewiesen, als nur die russische Krim "geklaut" war. Russland habe nicht darüber mitzuentscheiden, was an seinen Grenzen geschieht, hieß es damals.
Precht beschleunigt:
"Und umgekehrt haben die Ukrainer eine Riesenangst davor, dass Putin [...] die nächste Gelegenheit nach ordentlicher Aufrüstung nutzt, um sich mehr zu holen. Auf diese beiden Ängste, auf diese beiden Bedrohungsszenarien, dafür muss eine Lösung gefunden werden."
Ob er jetzt gesprungen wäre, bleibt für immer sein Geheimnis, denn nun wirft sich Lanz ihm vor die Füße:
"Der Erpresser sitzt immer in Moskau. Wir sagen: Wir stellen ein Ultimatum, wir wollen, dass es aufhört, wir drohen dir für den Fall, dass du es nicht endlich beendest [...]. Das finde ich erstmal eine richtige Ansage. [...] Das hat etwas mit den Russen gemacht, damit haben sie nicht gerechnet [...] und die haben den ganzen Tag gebraucht, Samstag bis Sonntagmorgen um drei oder um zwei, bis sie dann klar hatten, was ihre Position ist. Diese Art von Erpressung, wie du es nennst, hat auf jeden Fall funktioniert."
Markus, der Kreml-Insider ... Und wir dachten alle, dass Putin den ganzen Tag damit beschäftigt war, sich mit den ausländischen Gästen zu treffen, die zum Achtzigjährigen angereist waren. Von Putins gesamtem Tagesablauf an jenem 10. Mai 2025 sind maximal zwei Stunden nicht dokumentiert und von Fernsehkameras erfasst, aber Markus weiß es halt immer besser.
Precht versucht noch, über den sich im Sand wälzenden ("Na ja, na ja...") Körper von Lanz zu springen:
"Aber es hätte doch auch ohne die überfällige Ansage funktioniert. Also die Russen haben das Problem: Sie dürfen sich nicht erpressen lassen, weil sie dann vor der Weltöffentlichkeit und vor allem vor der eigenen Bevölkerung lächerlich dastehen. Und auf der anderen Seite wollen sie signalisieren, dass sie an einem Friedensprozess interessiert sind. Dafür hättest du die Erpressung nicht machen müssen, du hättest genauso gut sagen können: 'Wir machen ein Treffen in Istanbul und lasst uns das endlich begradigen'. Hätte genau dasselbe Ergebnis gehabt."
Lanz greift mit einer Hand einen Fuß von Precht und holt sich mit der anderen einen auf Merz runter:
"Das mag sein, ich find aber trotzdem, dem einen Nachdruck zu verleihen, erstmal prinzipiell gut, eine neue Entschlossenheit [...] Ich fand's super, dass er [Merz] direkt... Ich mein, überleg mal, wie lange Olaf Scholz gebraucht hat, bis er das erste Mal überhaupt in die Ukraine gefahren ist."
Zwei Monate und sechs Tage. Und da lief der Krieg "nur", seit acht Jahren bereits, im russischsprachigen Donbass. Precht aber kommt ins Straucheln und stürzt:
"Da bin ich auf deiner Seite, das habe ich aber auch gesagt."
In dem sportlich-erotischen Gewälze, das nun folgt, bleibt der einzig wichtige Punkt um das Ultimatum von Merz und Co. unausgesprochen. Er, der Punkt, läuft um die sich Wälzenden herum, winkt, ruft ihnen ins Ohr: "Hier, hier bin ich doch!" Die Athleten des Geistes sind aber mit dem Austausch verbaler Zärtlichkeiten zu beschäftigt, um auf ihn zu kommen.
Was wollten "die Europäer" mit ihrem Ultimatum denn erreichen? Eine dreißigtägige Waffenruhe. Mit der durchsichtigen Absicht, Merkels und des "Normandie-Formats" Minsker Betrügereien zu wiederholen und die dem Zusammenbruch nahe ukrainische Armee zu stabilisieren, aufzurüsten und erneut in den Ring zu werfen. Was wollte Russland die ganze Zeit, und zwar schon seit dem Abbruch der Istanbuler Friedensverhandlungen durch Kiew im April 2022? Deren Wiederaufnahme. Direkte Verhandlungen mit Kiew und dies ohne Vorbedingungen – also auch ohne die Vorbedingung einer Waffenruhe. Wer hat im Ergebnis bekommen, was er forderte?
Übrigens, wer saß in Istanbul nicht mit am Verhandlungstisch und wird wohl auch weiterhin nur von außen zusehen? Richtig, die Europäer. Precht hat aber den Stab bereits gebrochen:
"Ich finde es wahnsinnig gut, dass nun Bewegung reinkommt und dass Europa dabei eine Rolle spielt. Jetzt, wo die Amerikaner weggefallen sind und Trump sich wie ein Hampelmann benommen hat in dem Versuch, da Frieden zu stiften, ist es natürlich großartig, dass die Europäer da die Initiative ergreifen und sagen: 'Wir machen das.' Ich hätte das gerne von Anfang an gewollt. Und ich finde es gut, dass mit Merz möglich ist, was mit Scholz nicht möglich war."
Ultimaten-Friedrich hat in der Kabine bereits den Oberkörper frei gemacht. An dieser Stelle wird der Wettbewerb für einen Tag unterbrochen, die Fortsetzung ist für Sonntag angekündigt.
Im Studio befragt derweil ein Moderator die führende Expertin am Stockholmer Institut für Bunte Strümpfe:
"Was sagen Sie zum letzten Satz von Richard David?"
"Zwei mal drei macht vier,
Widdewiddewitt und drei macht neune,
Ich mach mir die Welt,
Widdewidde wie sie mir gefällt ..."
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