Meinung

Biden: "Ja", Scholz: "Nein"

Im Konflikt um den Einsatz weitreichender Waffen gehen die Standpunkte innerhalb der NATO immer weiter auseinander. Biden hat nun den Einsatz der Waffen durch die Ukraine erlaubt, Scholz lehnt die Lieferung von Taurus weiterhin ab. Was hat zu Bidens Gesinnungswandel geführt?
Biden: "Ja", Scholz: "Nein"Quelle: Gettyimages.ru © Maja Hitij/Getty Images

Von Rüdiger Rauls

Abgesang

Mit Biden und Scholz stehen zwei bedeutende Führungskräfte des politischen Westens vor dem Ende ihrer Regierungszeit. Biden wurde abgewählt, auf ihn wird im Januar 2025 Donald Trump als neuer Präsident im Weißen Haus folgen. Scholz hat mit dem Austritt der FDP aus der Ampelkoalition keine Mehrheit mehr im Bundestag. Deshalb will er am 16. Dezember die Vertrauensfrage stellen, um den Weg für Neuwahlen im Februar 2025 freizumachen. Beide sehen also dem Ende ihrer Regierungszeit entgegen. Angesichts seines Alters wird es für Biden vermutlich keine weitere Amtszeit mehr geben.

Teilen Biden und Scholz in ihrem Abgang von der Macht in der näheren Zukunft auch ein ähnliches Schicksal, so treffen sie doch für ihre Zukunft vollkommen unterschiedliche politische Entscheidungen. Diese hängen sicherlich auch mit ihren weiteren Perspektiven zusammen. Biden weiß, dass sein Abtreten von der Macht endgültig ist. Scholz rechnet sich sicherlich noch eine politische Zukunft nach seiner Vertrauensfrage aus. Solche Erwägungen könnten auch die Entscheidungen über den Einsatz westlicher Raketen in der Tiefe Russlands mitbestimmt haben.

Bei dem scheidenden US-Präsidenten hat das so kurz vor dem Torschluss zu einer Entscheidung geführt, die mit einer Haltung zu vergleichen ist, die zum Aufbau des Volkssturms führte. Man wirft alles, was noch überhaupt verfügbar ist, in die letzte Schlacht, auch wenn immer deutlicher wird, dass die Niederlage nicht mehr abgewendet werden kann. Dahinter steht die spärliche Hoffnung, dass man den eigenen Zusammenbruch so lange hinauszögern kann, dass der Gegner vielleicht vorher das Handtuch wirft.

Das war beim Volkssturm genauso unrealistisch wie beim Krieg in der Ukraine. Aber anscheinend will man in Washington nichts unversucht lassen, ehe Trump an die Macht kommt und der Ukraine den Geldhahn abdreht. Bevor man all die Milliarden abschreibt, die man bisher in den Krieg investiert hat, versucht man das letzte Aufgebot zu mobilisieren. Das besteht in dem bisher verweigerten Einsatz der Langstreckenraketen gegen Russland. Eine wirkliche militärische Wende bestünde nur in der Unterstützung der Ukraine durch eigene Truppen, was sich im Moment aber weder die USA noch die Europäer trauen.

Viele Experten, sogar amerikanische Offiziere, rechnen nicht damit, dass der Raketeneinsatz in der Tiefe Russlands eine Änderung an der Front im Donbass bringen wird. Aber vielleicht geschieht ja noch ein Wunder und die Russen geben auf oder Putin tritt ab oder noch besser, das russische Volk erfüllt die stille Hoffnung des politischen Westens und jagt ihn aus dem Amt. Denn "solange in Russland das von Wladimir Putin geschaffene Regime – mit ihm oder ohne ihn – an der Macht ist, wird es in Europa keinen stabilen Frieden geben". Darin schwingt noch immer die Hoffnung auf einen Regime-Change in Russland.

Und Scholz?

Geht in vielen NATO-Staaten mit Bidens Gesinnungswandel nun auch ein Stimmungswandel einher – von der Verzweiflung zur Zuversicht, so schüttet die Haltung von Kanzler Scholz Essig in den Wein der Begeisterung. Er weigert sich weiterhin, der Ukraine die Taurus für den Einsatz gegen Russland zur Verfügung zu stellen. Da sind zum einen die grundsätzlichen Überlegungen, dass es mit der Lieferung der Taurus allein nicht getan ist. Für ihren Einsatz bedarf es deutschen Personals, was die Sichtweise der Russen nicht als abwegig erscheinen lässt, dass damit Deutschland direkt am Krieg beteiligt wäre. Das ist ein Unterschied zur Lieferung von Waffen, die von ukrainischen Soldaten selbst bedient werden können.

Schon bei der Lieferung von Panzern hatten die Amerikaner die Deutschen vorgeschickt, um die Reaktion der Russen abzuwarten. Die US-Panzer trafen erst Monate später ein, als erkennbar war, dass deren Lieferung ohne Konsequenzen vonseiten Russlands blieb. Ähnlich war auch das Gerangel um die Raketen. Erst als die Briten und Franzosen ihre geschickt hatten, trafen die amerikanischen ein. Diese aber waren in ihrer Reichweite beschränkt worden, weil die Amerikaner befürchteten, sonst ins Visier russischer Raketen zu kommen.

Nun also hat Biden die Reichweitenbegrenzung gelockert. Aber auch das scheint noch nicht ganz klar zu sein, wenn auch die Ukrainer bereits erste ATACMS über die russische Grenze geschossen haben sollen. Denn es wäre nicht die erste Aufhebung dieser Beschränkung, die später wieder teilweise zurückgenommen wurde. Bereits im Sommer dieses Jahres hatte Biden eine erste Freigabe erteilt, die später wieder auf das Gebiet Charkow beschränkt wurde. Man wolle den russischen Aufmarsch gegen diese Stadt behindern, aber keinen Beschuss in der Tiefe Russlands.

Die Unsicherheit der Europäer über die Zuverlässigkeit der amerikanischen Entscheidung bleibt weiterhin bestehen. Denn im Moment wisse man laut Aussagen des litauischen Außenministers Landsbergis nicht genau, "wie viele ATACMS-Raketen Kiew bekomme und wie weit Amerika die Beschränkungen aufhebe".  Kein Wunder also, dass Scholz sich diesem Vorgehen nicht anschließt – zumindest vorerst.

Das dürfte nicht zuletzt auch zusammenhängen mit seinen Erfahrungen, die er mit der amerikanischen Politik gemacht hat, die die Europäer immer wieder gerne als Testballon benutzt. Dieses Risiko scheint er nicht eingehen zu wollen. Hinzu kommen vermutlich auch Überlegungen über seine Aussichten und die seiner Partei bei den anstehenden Neuwahlen. Dabei können nur Vermutungen angestellt werden, weil Scholz selbst keine öffentlichen Aussagen zu seinen Überlegungen macht, aber sein Handeln berechtigt zu solchen Überlegungen.

Während die Grünen, die CDU und die FDP darauf drängen, der Ukraine den Taurus zu schicken, sich also als Hardliner profilieren wollen, scheint Scholz den Friedenskanzler geben zu wollen. Er verweigert nicht nur die Zustimmung zur Raketenlieferung, die Deutschland direkt zum Ziel russischer Raketen machen könnte. Er suchte auch nach zwei Jahren das Gespräch mit Putin. Das Telefonat war schon länger angekündigt, passte nun aber ganz gut, um die Hoffnungen all jener Menschen in Deutschland zu bedienen, die auf eine diplomatische Lösung statt die weitere Eskalation setzen.

Sicherlich ist Scholz nicht so naiv zu glauben, dass Putin seine Forderungen erfüllt, die sich nicht von dem unterscheiden, was der politische Westen seit dem Beginn des Krieges mantraartig von Russland fordert: die Einstellung der Kampfhandlungen, den Rückzug der russischen Truppen aus dem Donbass und die Rückgabe der Krim an die Ukraine. Nichts anderes scheint nach den weitgehend übereinstimmenden Erklärungen aus Moskau und Berlin ausgetauscht worden zu sein. Aber Scholz kann sich im bevorstehenden Wahlkampf auf die Fahne schreiben, das Gespräch mit Putin gesucht zu haben, um dem Frieden eine Chance zu geben.

Während also die anderen Parteien den Konflikt verschärfen wollen, bemüht er sich um dessen friedliche Beilegung. Dass das Gespräch so angelegt war, dass nichts dabei herauskommt, geht im Seufzer der Erleichterung in der deutschen Bevölkerung unter. Scholz kennt sicherlich die Stimmung im Lande und weiß, dass immer mehr Menschen des Krieges und seiner Kosten überdrüssig sind. Vielleicht hofft er, mit diesem Telefonat, das ihn nichts gekostet hat und bei dem er nur gewinnen konnte, auch den anderen Parteien Stimmen an den Wahlurnen zu nehmen: dem BSW und der AfD, die mit ihrem Kurs gegen den Krieg immer mehr an Sympathie in der Bevölkerung gewinnen.

Risiken und Nebenwirkungen

Wenn auch sowohl Scholz' als auch Bidens Entscheidung der Erfolg bisher versagt bleibt, so sind diese schon gar nicht ohne Risiken. Dieses Mal stehen besonders die Amerikaner unter russischer Beobachtung. Putin hat klar gesagt, dass man gegen die Staaten Maßnahmen ergreifen wird, die diese Raketen zur Verfügung stellen. Das sind im Moment nur die USA und Frankreich. Zwar hat auch das Vereinigte Königreich den Ukrainern weitreichende Geschosse zur Verfügung gestellt, doch deren Einsatz ist von der Zustimmung der USA abhängig.

Zudem verfügen die britischen Storm Shadows über italienische Komponenten, sodass auch die Italiener deren Einsatz zustimmen müssen. Diesen wollen sie aber nur gegen russische Truppen auf ukrainischem Boden zulassen. Damit liegen die Italiener eher auf der Linie von Scholz. Einzig die Franzosen scheinen neben den Amerikanern niemanden um Erlaubnis bitten zu müssen, um ihre SCALP-Raketen auf russisches Territorium abfeuern zu lassen. Auch sie haben schon ihre Bereitschaft zur Zustimmung angedeutet, aber anscheinend noch nicht endgültig erteilt.

Somit stehen allein Frankreich und die USA im Fadenkreuz russischer Vergeltungsschläge. Alle anderen NATO-Staaten wären in diesem Falle aus dem Schneider. Es stellt sich auch die Frage, ob sich die übrigen Staaten unter Berufung auf die Beistandsverpflichtung aus dem Artikel 5 des NATO-Vertrags in einen Konflikt mit Russland ziehen lassen. Die Entscheidung wird auch deshalb schon schwierig werden, weil selbst in den USA das Außen- und Verteidigungsministerium nicht geschlossen hinter diesem Schritt zu stehen scheinen.

Ob die Verbündeten einem US-Präsidenten folgen werden, der aus einem Akt der Verzweiflung oder einem Mangel an Zurechnungsfähigkeit zu handeln scheint, dürfte fraglich sein, wenn die Gefahr eines Dritten Weltkrieges im Raum steht. Zudem hat Biden nur noch wenige Wochen im Amt und schon einen Nachfolger im Nacken, der eine ganz andere Politik gegenüber der Ukraine verfolgen dürfte. So lange werden die anderen NATO-Staaten sicherlich ihre Zustimmung hinauszögern können. Die USA stehen also vorerst allein da – eine Situation, die sie bisher immer zu vermeiden gesucht hatten. Insofern stellt diese Entscheidung auch eine schwere Belastung für die Geschlossenheit des Bündnisses dar.

Ob für Olaf Scholz die Rechnung aufgehen wird, in deren Zentrum sein Image als Friedenskanzler steht, wird sich zeigen. Was aber, wenn er bei der Vertrauensfrage mit den Stimmen von AfD und BSW bestätigt wird? Es sei nur an die Wahl des FDP-Politikers Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen im Jahre 2020 erinnert. Dieser wurde entgegen allen politischen Planspielen und Rechenkünsten der Altparteien mit den Stimmen der AfD gewählt, was niemand auf dem Schirm gehabt hatte.

Sollte Scholz wirklich im Schilde führen, dem BSW und der AfD  durch sein Friedensengagement Stimmen abzuluchsen, um deren Einfluss zu schmälern, dürfte er sich sicherlich verwundert die Augen reiben, wenn er gerade durch diese beiden an der Macht gehalten wird. Mit wem will er dann regieren, oder wirft er dann auch hin wie weiland Kemmerich? Dann doch lieber Weltkrieg als mit der Unterstützung von AfD oder BSW an der Macht, um ihn zu verhindern?

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den BlogPolitische Analyse.

Mehr zum Thema - Gibt es noch ein positives Szenario für Deutschland und Europa?

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.