Erdgas wird das neue Erdöl – und Zankapfel der Geopolitik
Von Igor Perewersew
Länder mit großen Erdgasreserven werden in den kommenden Jahrzehnten unweigerlich unter starkem Druck des Westens stehen. Die Situation erzwingt dies schlichtweg. Denn jede drastische Veränderung der Energiebilanz führt immer auch zu einer Veränderung der Machtverhältnisse in der Geopolitik.
Kein Weltuntergangsszenario
Wenn Sie einem Ölarbeiter erzählen, dass das Öl zur Neige geht, wird er höchstwahrscheinlich entweder anfangen, sich über Sie lustig zu machen – oder Ihnen mit Statistiken über das Förderungswachstum seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts, als das Thema der etwaigen Endlichkeit dieses Rohstoffs erstmals an Popularität gewann, vor der Nase herumwedeln. Wenn Sie jedoch einen Geologen, der an der Erkundung beteiligt ist, nach dem gleichen Thema fragen, wird er wahrscheinlich nicht lachen. Und die Förderungsstatistik wird ihn auch nicht beeindrucken.
In den 1960er-Jahren wurden zweieinhalb Dutzend riesige Ölfelder entdeckt, deren Gesamtreserven sich auf 56–57 Milliarden Tonnen beliefen. Schon in den 1970er-Jahren jedoch wurden lediglich neun solcher Lagerstätten mit Gesamtreserven von etwa 20 Milliarden Tonnen gefunden. Und je später, desto weniger große Ölfelder wurden oder werden entdeckt. Im laufenden Jahrzehnt etwa haben Geologen kein einziges Riesenölfeld gefunden.
Was ermöglicht also, die Förderungsraten trotzdem aufrechtzuerhalten? Erstens Förderungsbeginn auch auf kleineren Ölfeldern. Zweitens hat man in der Förderungsindustrie gelernt, das Erdöl aus den alten Feldern besser zu gewinnen. Spezialisten erstellen dreidimensionale Modelle, suchen nach Punkten, an denen sie Begleitgas oder Wasser in die Öl tragende Schicht pressen können – und so den Lagerstättendruck erhöhen. Drittens hat die "Schieferrevolution" mit der bekannten Technik des Frackings ihren Beitrag geleistet. Und viertens begann man, auch die in widrigen Umgebungen liegenden Lagerstätten auszubeuten – im Ozean, in großen Gesteinstiefen, in der Arktis. Jetzt pumpt man sowohl extrem zähflüssige Ölsorten aus dem Boden als auch solche mit hochaggressiven Beimischungen, welche die Bohr- und Pumpanlagen sowie die Rohrleitungen angreifen. Sprich, gefördert wird heute auch unter Bedingungen, auf die sich einzulassen früher niemandem auch nur einmal in den Sinn gekommen wäre.
Die Ölarbeiter sind stolz auf all diese Erfolge – und zwar mit vollem Recht. Tatsächlich geht es hier jedoch um so etwas wie eine Verbesserung der Technik, die Reste der Zahncreme aus der Tube zu drücken. Wenn Ihnen das sehr gut gelingt, könnte der Eindruck entstehen, als könnten noch Unmengen der Paste aus der Tülle kommen. Die Realität jedoch ist grausam. Eines Tages wird die Paste aufgebraucht sein. Sogar Saudi-Arabien, dem Allah flüssige Kohlenwasserstoffe von ausgezeichneter Qualität keineswegs vorenthalten hat, hat kürzlich angekündigt, sein "Plateau" der Förderung werde im Jahr 2027 überschritten – woraufhin die Förderung also zurückgehen werde.
Es gibt keine von allen Wissenschaftlern vollständig akzeptierte Theorie zur Erklärung des Vorkommens von Erdöl in der Natur. Aber selbst im besten Fall, also falls es in der Tiefe des Erdballs irgendwie "von selbst" entsteht und dann in Richtung Oberfläche fließt, pumpen wir es viel schneller aus, als es dort unten heranreift. Wenn die Tube leer ist, hilft die Technik nicht mehr. Keine 3D-Modelle, kein hydraulisches Fracking – nichts.
Wohl wahr, den USA und Kanada ist es gerade dank dem Hydraulic Fracturing gelungen, die Förderung von Schieferöl zu etablieren. Und fast scheint es, als sei das Ende der Ära der flüssigen Kohlenwasserstoffe auf unbestimmte Zeit hinausgezögert worden. Über diese Illusion hilft jedoch die Lektüre der Jahresberichte jener Unternehmen, die Schieferöl fördern – und zwar dort der Abschnitt "Risiken". Die Spezialisten schreiben ehrlich: Hydraulisches Aufbrechen der Öl tragenden Schichten führt zur Grundwasserverseuchung mit Öl und/oder der jeweils verwendeten hydraulischen Mischung, sodass es unmöglich wird, in der Umgebung zu leben. Die Förderunternehmen kaufen deshalb auf eigene Kosten Immobilien für die Bewohner der jeweils betroffenen Gegenden und siedeln sie um. Ganz zu schweigen davon, dass die Schiefergesteine innerhalb von fünf bis zehn Jahren erschöpft sind – und dann alles wieder von vorn losgeht, einschließlich Verlegung von Pipelines zum neuen Schieferölfeld.
All dies erklärt, warum die richtig großen transnationalen Ölkonzerne im Schieferölsektor kaum vertreten sind. Es erklärt auch, warum Schieferöl zum Beispiel in Polen nicht gefördert wird, wo es reichlich vorhanden ist: Polen ist nämlich im Gegensatz zu Kanada viel dichter besiedelt.
Öl wird "nur" teurer
Geht uns also das Öl aus? Nein, ach wo! Die Ölförderung wird noch über Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte fortgesetzt werden können. In großen Gesteins- und Ozeantiefen, in der Arktis, irgendwann wohl auch in der Antarktis. Auch "superschweres" Öl und Öl mit allen möglichen üblen Verunreinigungen wird dann gefördert.
Mit einem ist jedoch zu rechnen: In den 40er- und 50er-Jahren des laufenden Jahrhunderts werden die Förderungskosten die Grenze überschreiten, bis zu der es noch sinnvoll ist, Fahrzeuge mit Erdölprodukten zu betanken. Oder würden Sie den Tank Ihres Autos mit Benzin oder Diesel füllen, wenn der Preis – und das aus völlig objektiven Gründen! – jenseits der fünf Euro pro Liter beträgt? In 15 bis 20 Jahren wird der Ausruf Mendelejews "Erdöl verbrennen ist wie den Ofen mit Geldscheinen heizen" Wirklichkeit werden. Diese Förderungskosten werden aus Sicht der Industriezweige, die Nicht-Treibstoff-Petrochemikalien herstellen und verwenden, weiterhin akzeptabel sein. Aber nicht für die Ölraffination zu Verbrennungszwecken. Sprich: Kunststoff wird zwar teurer, er wird dann seltener verwendet, sodass Holz und Metall überall wieder stärker zum Einsatz kommen werden. Doch im Allgemeinen werden die Polymere natürlich nirgendwo verschwinden. Für viele Branchen sind sie zu bequem. Aber Benzin, Diesel und Bunkeröl in Motoren verfeuern? Vergessen Sie's!
Verzicht auf Erdöl wird Westen am härtesten treffen
Welche Folgen wird der Kostenanstieg (und damit der Rückgang) der Ölförderung haben? Heute macht Öl etwa ein Drittel im globalen Energiemix aus (zur Klarheit: Energie meint hier nicht bloß elektrischen Strom), was einen riesigen Anteil darstellt. Interessanterweise hat Erdöl in den sogenannten Industrieländern einen höheren Anteil am Energiemix als in Entwicklungsländern. In den Vereinigten Staaten werden 35,9 Prozent der gesamten Energie aus Öl gewonnen, und die Europäische Union liegt trotz aller Bemühungen zur CO₂-Neutralität mit 34,2 Prozent nicht allzu weit hinter den USA zurück. Im Vergleich: 59 Prozent aller Energie wird in China aus Kohle gewonnen. Und in Russland ist der wichtigste Primärenergieträger Erdgas mit 53,7 Prozent.
Dementsprechend wird die Streichung von Erdöl aus der Liste der Energiequellen gerade dem Westen den größten Schaden zufügen. Doch auch für andere Regionen der Welt wird die Abkehr von Erdöl keine einfache Aufgabe sein, und schon jetzt muss sich die ganze Welt Gedanken machen, wo und wie man Erdöl ersetzen kann.
Spitzenreiter im Transportwesen
Klar, vom Öl wird man in vielen Abschied nehmen müssen. Aber seine Bedeutung gerade für das Transport- und Verkehrswesen ist kaum zu überschätzen. Hier finden Sie beispielsweise Transportstatistiken in den Vereinigten Staaten für das Jahr 2022 hinsichtlich dessen, womit Mensch und Gut in den USA fortbewegt wird.
Erdölprodukte: 86 Prozent
Biodiesel: sechs Prozent
Erdgas: fünf Prozent
Elektro und alle anderen: drei Prozent
Und diese 86 Prozent werden mit irgendetwas ersetzt werden müssen. Aber womit?
Das Erste, was hier einfällt, ist der aus Batterien gespeiste elektrische Antrieb, den uns die üblichen Verdächtigen schon jahrzehntelang einzureden versuchen. Die Lösung scheint offensichtlich: Denn Elektroautos zum Beispiel haben weniger Bauteile und Baugruppen, was sich in weniger Pannen und Ausfällen niederschlägt als bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren. Aus demselben Grund müssten sie auch billiger sein. Allein, es hinkt bisher an einem: den Batterien. Obwohl in den letzten Jahrzehnten Milliarden und Abermilliarden Euro in die Entwicklung von Stromspeichertechnologien gepumpt wurden, wurde bisher nichts Besseres als Lithium-Ionen-Zellen gefunden. Zwar werden fast jedes Jahr neue, potenziell sensationelle Speichermittel vorgestellt – wie Graphitbatterien oder andere –, aber weiter als zu Präsentationen kommt es bisher nicht. Entweder sind neue Batterietypen nicht zyklusfest genug, halten Erschütterungen oder Temperaturschwankungen nicht gut stand oder sind zu teuer.
Was die mittlerweile klassischen Lithium-Ionen-Akkus betrifft, so ist ihre Aufladung trotz großer Fortschritte in ihrer Weiterentwicklung immer noch sehr langsam. Wenn wir eine Situation simulieren, in der der gesamte Verkehr von Benzin, Diesel und Kerosin auf Strom umgestellt wird, würde es so etwas wie "Elektrotankstellen" definitiv nicht geben – denn der Ladevorgang wäre mitnichten mit einer Betankung vergleichbar. Selbst eine "ultraschnelle" Aufladung dauert nämlich eine halbe Stunde – im Vergleich zu drei Minuten zum Abfüllen eines Pkw-Tanks. Das heißt, wir müssen die Zahl der Ladegelegenheiten um eine Größenordnung erhöhen. Folglich müsste man gewährleisten, dass solche Autos auf Parkplätzen, am Straßenrand, auf Supermarkt- oder Büroparkplätzen und so weiter aufgeladen werden können. Dies wiederum erfordert einen vollständigen Austausch aller bestehenden Stromnetze auf der Welt gegen weitaus leistungsfähigere; was voraussetzt, riesige Mengen Kupfer zu verbauen, das allerdings erst gefördert werden muss. Doch auch davon hat die Menschheit nicht mehr wirklich genug – zufällig ganz genauso wie vom Öl. Natürlich kann man auf Aluminiumdrähte mit größerem Querschnitt umsteigen, aber auch das ist nicht einfach.
Und als Sahnehäubchen: Die für ein Elektrofahrzeug erforderliche Menge an Seltenerdmetallen und -elementen wiegt sehr viel; auch sind sie teils sehr energieintensiv und umweltschädigend in der Förderung. Und das alles, bevor wir an die notwendige Steigerung der Stromerzeugung auch nur denken. Die Anzahl der auftretenden Probleme ist zu groß.
Elektroautos wären eine hervorragende Lösung, wenn sie mit flüssigem Elektrolyt betrieben würden, der nach alter Tankstellen-Manier schnell in einen Tank oder direkt in die Batterie gefüllt würde. Der Elektrolyt wiederum würde im Kernkraftwerk aufgeladen, wenn es gerade einen Verbrauchseinbruch gibt. Damit wäre auch das Problem des Erzeugungsausgleichs gelöst – eine ewige Quelle der Kopfschmerzen für Energietechniker. Ein solches Kraftfahrzeug wurde sogar schon gebaut – von deutschen Ingenieuren. Es lief mit Vanadium-Elektrolyt und zeigte ausgezeichnete Leistungsdaten. Leider stellte sich heraus, dass Vanadium-Elektrolyt ungeheuerlich krebserregend war.
Welche weiteren Möglichkeiten gibt es? Alle möglichen exotischen Sachen. Zum Beispiel die Hydrierung von Kohle, auf die die Nazis im Zweiten Weltkrieg zurückgriffen. Denn Kohle ist wirklich reichlich da; beim derzeitigen Verbrauch reicht sie noch für siebenhundert Jahre. Die Möglichkeit einer wirklich massenproduktionstauglichen Umwandlung von Kohle in Kohlewasserstoffe wurde jedoch noch nicht ernsthaft diskutiert. Auch wären Biotreibstoffe denkbar – ein Thema, das Anfang der 2000er-Jahre äußerst in Mode war und dann fast überall ausgestorben ist. Fruchtbare Böden sollten dann doch immer noch lieber für den Anbau von Nahrungsmitteln genutzt werden als für Rohstoffe zur Herstellung von Ethanol und Biodiesel.
Es gibt bereits Autos, deren Brennstoffzellen zum Antreiben von elektrischen Motoren, oder aber auch angepasste Verbrennungsmotoren, mit Wasserstoff gespeist werden – darüber wurde zum letzten Mal vor etwa einem Jahr viel geredet. Wasserstoff als Energiespeicher hat fast nur Vorteile. Sein schwerster und nahezu unüberwindbarer Nachteil ist jedoch: Das Wasserstoffmolekül ist äußerst klein und sickert durch jede Speicherwandung, sodass es schwierig ist, mit diesem Stoff umzugehen. Die Infrastruktur und die Fahrzeuge selbst können allein daher schon nicht billig sein. Auch werden Möglichkeiten angeboten, Verbrennerkraftfahrzeuge auf Ammoniak umzurüsten, das aus Methan hergestellt wird – damit zu arbeiten wäre einfacher. Aber auch Ammoniak ist äußerst giftig.
Doch Moment. Erdgas selbst ist eine durchaus realistische Option für das Transportwesen. Es sei betont: Nicht Autogas – dieses ist eine Mischung aus Propan und Butan, die beide aus Erdölbegleitgas gewonnen werden. Nein, die Rede ist konkret von Methan – Erdgas eben –, und zwar am besten von verflüssigtem. Technisch ist die Umrüstung von Kraftfahrzeugen mit Verbrennungsmotor auf Methan eine einfache Aufgabe. Der Schub des Motors ist sogar etwas höher als beim Betrieb mit Benzin oder Diesel, und die Abgase sind umweltfreundlicher. Mit einer Tankfüllung legt ein mit Erdgas betriebenes Lastwagenmodell, das in China in Massenproduktion hergestellt wird, 5.200 Kilometer zurück. Nochmals: Dieses Fahrzeug ist kein Exot, es wird in Massenproduktion hergestellt. Jetzt schon. In China war Stand Ende 2023 jeder dritte schwere Lkw ein Fahrzeug mit Flüssigerdgasantrieb.
Offensichtlich wird es auf die Herausforderung, eine Alternative zu Erdölerzeugnissen als Energiequelle für das Transportwesen zu finden, keine einheitliche Antwort für den gesamten Planeten geben. Vor allem angesichts der zunehmenden Regionalisierung. So könnten einige kleine und reiche Länder tatsächlich vollständig auf Strom umsteigen. Auch ist denkbar, dass ein Land Wasserstoff bevorzugt. Manche Länder oder Regionen könnten sich sogar erfolgreich mit Oberleitungsfahrzeugen schlagen – O-Bussen und O-Lkw, Straßenbahnen und elektrischen Zügen. Doch eines ist klar: Der Übergang der gesamten Menschheit zu batteriegespeisten Elektrofahrzeugen scheint zweifelhaft. Zudem wird es aufgrund des steigenden Stromverbrauchs durch Rechenzentren schon in den kommenden Jahrzehnten Probleme mit dem Strom geben.
Hingegen sind die Vorteile von Erdgas trotz der notwendigen erheblichen Investitionen in die kryogene Infrastruktur erstaunlich.
Konflikte um Erdgas
Wer verfügt über das meiste Erdgas? OPEC-Analysten nennen die folgenden drei: Russland (24,4 Prozent der weltweiten Vorräte), Iran (16,5 Prozent), Katar (11,5 Prozent). British Petroleum hat etwas andere Zahlen: Russland (19 Prozent), Iran (16 Prozent), Katar (12,5 Prozent), Turkmenistan (zehn Prozent).
Und in keinem dieser Länder fördern westliche Großunternehmen dieses Erdgas – außer in Katar. Doch selbst dort übersteigt ihr Anteil nicht die 30-Prozent-Marke.
Was ist die Schlussfolgerung? Länder mit großen Erdgasreserven werden in den kommenden Jahrzehnten unweigerlich unter starkem Druck des Westens stehen. Der Weltmarkt erzwingt dies einfach: Denn jede drastische Veränderung der Energiebilanz führt immer auch zu einer Veränderung der Machtverhältnisse in der Geopolitik.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad am 8. November 2024.
Igor Perewersew ist ein russischer Publizist.
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