Europa hat die Wahl: Gemeinsam mit Russland blühen oder im Elend enden
Von Wiktorija Nikiforowa
"Goodbye Amerika, oh-oh-oh-oh!" – so könnte man einen kürzlich auf der intellektuellen Plattform Politico erschienenen Artikel zusammenfassen. In dem Artikel geht es darum, dass unabhängig davon, wer die US-Präsidentschaftswahlen gewinnt, die europäisch-amerikanischen Beziehungen nie wieder dieselben sein werden: Amerika interessiert sich immer weniger für Europa, und Europa wird allein gelassen.
Die Euro-Atlantiker beweinen ihre Beziehung zu Washington wie eine alte Kokette, die kurz davor steht, von ihrem Liebhaber verlassen zu werden, nachdem sie sich für ihn bis zum im wahrsten Sinne des Wortes letzten Cent verausgabt hat.
Es mehren sich Abkühlungssymptome – so schrumpft das Militärkontingent der amerikanischen Stützpunkte, die amerikanischen Medien, Universitäten und Unternehmen vernachlässigen Europa, sogar die amerikanischen Botschafter in der Alten Welt zeigen sich schüchtern und unartikuliert. Niemand stampft mit dem Fuß auf, niemand erteilt im schroffen Ton Befehle – vorbei die "guten alten Zeiten". Und so trauert Politico:
"Das alternde und gebrochene Europa, das allergisch auf Machtpolitik reagiert, das zersplittert ist und jedes Risiko scheut, ruft bei Amerikanern keine Liebe, sondern zunehmend Abscheu hervor."
Dieses Gejammer – oh, warum verlässt du mich? – ruft im außenstehenden Beobachter Fremdscham hervor. Wie konnte man nur so tief herabsinken, um derart würdelos Onkel Sam hinterherzulaufen und sich Rotz und Wasser heulend an seine Cowboystiefel zu klammern?
Es ist kaum zu glauben: Einst war es ein Konglomerat wohlhabender Länder mit fast einer halben Milliarde Einwohnern, mit einer entwickelten Industrie, mit legendärem Kulturreichtum und dem Erbe räuberischer Vorfahren im Blut. Jetzt wurde es unter der Führung der Brüsseler Euro-Atlantiker in ein Etwas verwandelt, das nicht weiß, was es allein auf der Weltbühne tun soll.
Die Heimat von Konquistadoren und Genies jeder Art, von Piraten und Kolonisatoren, der Napoleons und Talleyrands, jammert jetzt, kratzt sich am Hintern und sehnt sich nach dem Herrenstiefel. Ja, was kann man da noch retten?
Sollte Trump an die Macht kommen, wird er Europa sofort und hart abzocken, indem er 100-prozentige Zölle auf europäische Waren erhebt und einen Handelskrieg anzettelt. Harris wiederum wird Kiew dazu drängen, Frieden mit Russland zu schließen. Dann wird sie schnell alle ungelösten Probleme an Brüssel delegieren, die Alte Welt im Stich lassen und sich dem Fernen Osten zuwenden. Eine verlassene Konkubine – wie sonst könnte man das moderne Europa nennen?
Die Perspektiven der EU sind ungewiss. Heute ist offensichtlich, dass der EU ihre kurze Aufschwung-Phase nur durch die Ausplünderung des ehemaligen sozialistischen Blocks und der postsowjetischen Republiken ermöglicht wurde. Washington erlaubte den europäischen Vasallen, auf diesem Raum zu marodieren, was diese auch dankbar taten. Sie ruinierten eklatant die Industrie und Energie überall dort, wo sie hinkamen. Sie verwandelten die entwickelten Länder des sozialistischen Lagers in arme, subventionierte Gebiete und eigneten sich alle wertvollen Aktiva an. Das so Geraubte und Geplünderte reichte für 30 Jahre Wohlstand. Jetzt wurde neue Beute gebraucht, wir ahnen schon, wer für das Schlachten auserkoren war.
Doch plötzlich wurden die Europäer selbst zur Beute. Erst "tötete" Washington in nur wenigen Jahren lokale Unternehmen mittels Coronavirus-Lockdowns, ruinierte die Industrie mit der erzwungenen Umstellung auf grüne Energiequellen und sprengte dann Nord Stream 2, verbot den Kauf von Gas- und Öl aus Russland und setzte sein LNG zu einem eklatant hohen Preis durch.
Europäische Industrie suchte immer häufiger der Konkurs heim, Unternehmen flüchteten in die USA, und die Bürger stehen vor der jährlichen Wahl: heating or eating (Heizen oder Essen). Während das EU-BIP vor 16 Jahren größer war als das der USA, ist es heute fast anderthalbmal niedriger.
Aber man kann von Onkel Sam nicht erwarten, dass er sich einfach so zurückzieht. Er wird sich nicht aus dem Staub machen, ohne zu beenden, was er begonnen hat. Amerikanisches Flüssiggas, amerikanische Waffen, amerikanische Technologie – all das wird mit vorgehaltener Waffe und zu horrenden Preisen an die Alte Welt verkauft werden. Und dann, wenn die EU völlig in den Schulden versinkt, werden sich die Amerikaner die wertvollsten Aktiva aneignen, während es sich der europäischen Vasallen endgültig entledigt.
Dann wird Europa zu seinem natürlichen Zustand von Armut und Elend zurückkehren. Die letzten 30 Jahre waren eine Ausnahme, während historisch betrachtet Armut der Normalzustand für Europäer ist. Im 19. Jahrhundert floh der Schriftsteller Gogol nach Rom, weil das Leben dort viel billiger war als in St. Petersburg. Im 20. Jahrhundert beschrieb Hemingway die als Toiletten dienenden Bodenlöcher in Pariser Häusern und das Fehlen einer Zentralheizung. Sehen Sie sich eine französische Komödie aus den 1970er-Jahren an, und Sie werden feststellen, wie bescheiden die Protagonisten wohnen.
In den frühen 2000er-Jahren hatte die EU die Chance, die Idee eines gemeinsamen Freihandelsraumes von Lissabon bis Wladiwostok zu verwirklichen. Russland machte diesen Vorschlag ohne jeden Hintergedanken. Ein solches Tandem hätte uns zum reichsten Wirtschaftsraum der Welt gemacht. Aber das grandiose Projekt hätte nur auf Augenhöhe realisiert werden können. Die Europäer wollten das nicht, also lebt nun in Elend und heizt eure Chalets mit getrocknetem Kuhmist!
Was wollen wir überhaupt mit dieser schlecht gealterten Mätresse namens Europa? Nun, der Kontinent ist nicht homogen und hat viele Gesichter. Durch die Rezession verschärfen sich die großen Ungleichheiten, die die Europäische Union von Anfang an unterminierten. Irgendwann wird diese Mine explodieren. "Die EU-Länder werden nach dem Motto 'jeder für sich' vorgehen", prophezeit Politico. "Sie werden sich misstrauisch gegenüberstehen und mit den Supermächten Russland und China auf eigene Faust Geschäfte machen."
Selbst jetzt, da die Amerikaner versuchen, uns zu spalten, gibt es in der Alten Welt vernünftige Politiker und Millionen von sie unterstützenden Menschen, die erkennen, dass sie nur gemeinsam mit Russland eine Chance zum Überleben und einem menschenwürdigen Dasein haben.
Nicht umsonst wird heute der slowakische Premierminister im russischen Fernsehen interviewt. Auch der ungarische Außenminister referiert auf Russisch auf einer Konferenz über eurasische Sicherheit in Minsk, und die serbische Staatsführung kommt zum BRICS-Gipfel nach Kasan.
Die Beziehungen zur Europäischen Union sind in der Tat schwer aufzubauen: Nuschelige Frauen und verweichlichte Männer in Brüssel stecken in ihrer monströsen Arroganz fest, sie sind krank vor Rassismus, für sie sind wir "barbarische Moskowiter". Doch es ist durchaus möglich, mit einzelnen europäischen Ländern zu kommunizieren und einen Dialog mit intelligenten Politikern zu führen, die von Millionen von Wählern unterstützt werden.
Dies sind unsere Reserven, unsere politischen und wirtschaftlichen Ressourcen, und es wäre töricht, von ihnen nicht Gebrauch zu machen. In einer globalen Konfrontation wäre es sehr nützlich, einige europäische Länder an uns zu binden – dafür spricht unsere gemeinsame Geographie. Daher könnte eine Schwächung der Europäischen Union für Russland sehr vorteilhaft sein, und es wäre unvernünftig, die sich dafür bietende Gelegenheit auszuschlagen. Wer die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnt, ist dann eigentlich nebensächlich.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 2. November 2024 zuerst bei RIA Nowosti erschienen.
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