Meinung

Europa hat Angst, dass Russland seinen Platz einnimmt

Schon zu Zeiten des Römischen Reichs waren weite Strecken Nordafrikas Teil der europäischen Zivilisation. Doch nun beklagt der EU-Außenpolitiker Borrell eine Annäherung vieler Staaten an Russland, auch in der Sahelzone, und zunehmenden Kontrollverlust westlicher (ehemaliger Kolonial-)Mächte.
Europa hat Angst, dass Russland seinen Platz einnimmtQuelle: Sputnik © Alexei Druzhinin

Von Pjotr Akopow

Die europäische Einstellung gegenüber Russland war schon immer sehr widersprüchlich: Zum einen wurden wir zu einer Bedrohung für Europa erklärt (und das unter jedem Regime – ob imperial, kommunistisch oder gegenwärtig), und zum anderen blickten sie auf unsere Territorien auf der Suche nach einem Lebensraum für die europäischen Völker. Der Konflikt um die Ukraine ist nur das aktuellste Beispiel für den "Drang nach Osten": Europa erklärte einfach jenen Teil des russischen Landes zu seinem Besitz, der eine "europäische Wahl" getroffen hatte, mit der ebendieses Europa einfach rechnen und diese Wahl gegen die russischen Imperialisten verteidigen musste. Durch die Konzentration auf die Ukraine verlor Europa jedoch anderswo an Einfluss – und zwar an Orten, die es traditionell als seine eigenen betrachtet hatte.

"Russland nimmt unseren Platz ein, was uns Unbehagen bereitet", sagt Josep Borrell, der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Worüber spricht er? Über Afrika und den Mittelmeerraum: "Wir sollten uns Gedanken darüber machen, was in Afrika passiert. Als ich zum ersten Mal nach Brüssel kam, gab es in Libyen Franzosen und Italiener. Sie sind nicht immer miteinander ausgekommen, aber sie waren da. Heute gibt es keine Europäer mehr in Libyen – nur noch Türken und Russen. Und an der libyschen Küste gibt es eine Kette von Militärbasen, aber es sind keine europäischen Militärbasen, sondern türkische und russische. Das ist nicht diejenige Ordnung, von der wir im Mittelmeerraum geträumt haben."

Borrell trat seinen Posten in Brüssel vor knapp fünf Jahren an. Heißt das also, dass Russland (und die Türkei) die Europäer in dieser Zeit aus Libyen vertreiben konnten? Und in den letzten Jahren auch aus Westafrika, denn in Mali, Niger und Burkina Faso kamen antifranzösische Militärs durch Putsche an die Macht und baten Russland um militärische Unterstützung (einschließlich Militärberatern und privaten Militärunternehmen). Wurde Afrika also, wie Le Monde neulich feststellte, zu einer neuen Frontlinie zwischen Russland und dem Westen?

Jein. Zum einen, weil es schwierig ist, diese als neu zu bezeichnen, und zum anderen, weil Europa in Afrika nicht in erster Linie von Russen, sondern von Afrikanern selbst bekämpft wird. Diese wissen sehr gut, was es heißt, unter "europäischer Führung" zu leben.

Borrell hat sicherlich recht, wenn er sagt, dass die Europäer sich Sorgen machen sollten über das, was in Afrika, insbesondere in Nordafrika, geschieht. Wie auch in der angrenzenden Sahararegion – schließlich ist die südliche Mittelmeerküste seit der Römerzeit eine europäische Priorität und mitunter Teil der europäischen Zivilisation. Im 19. Jahrhundert übernahm Europa die Kontrolle über Nordafrika – und dann über den gesamten Kontinent. Die Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete nicht den Rückzug Europas – es kontrollierte beispielsweise immer noch das Finanzsystem Westafrikas. Doch in den 50er und 60er Jahren hatte Europa einen mächtigen Gegner in Afrika – die Sowjetunion, die innerhalb von dreißig Jahren ihren Einfluss in Afrika von praktisch null auf ein riesiges Ausmaß ausbaute. Nachdem die Russen Afrika nach dem Zusammenbruch der UdSSR verlassen hatten, begannen sie bereits in den Nullerjahren, dorthin zurückzukehren. Und in den letzten Jahren wurde unsere Präsenz (auch militärisch) auf eine Reihe neuer Länder ausgedehnt, die zuvor als eindeutig pro-französisch galten. Doch Europa selbst half uns dabei – es waren nämlich die Europäer, die in Libyen intervenierten, was enorme Auswirkungen auf die gesamte Region hatte.

Wenn Borrell die Franzosen und Italiener in Libyen im Jahr 2019 erwähnt, erklärt er nicht, wie sie dorthin gelangten – nach der Invasion des Westens in das Land im Jahr 2011. Es gäbe jetzt keine russischen oder türkischen Stützpunkte in Libyen, wenn Sarkozy und Obama nicht beschlossen hätten, Gaddafi zu stürzen. Und die Zentralafrikanische Republik, Mali, Niger und Burkina Faso wären nicht so sehr auf Russland ausgerichtet, wenn der Westen nicht durch die Zerstörung des einheitlichen libyschen Staates zur Stärkung islamistischer und separatistischer Bewegungen in der gesamten Region beigetragen hätte.

Einer der Hauptvorwürfe des Westens gegen Gaddafi war seine panafrikanische Politik: Der Oberst trug viel zum Integrationsprozess der afrikanischen Staaten bei, was natürlich weder Europa noch den USA gefiel. Ebenso wenig waren sie mit dem wachsenden Einfluss Chinas in Afrika und der damals beginnenden Rückkehr Russlands in diese Region zufrieden.

Mit dem Sturz Gaddafis und der Desintegration Libyens verschlechterte der Westen jedoch nur seine eigene Position, und zwar in jeder Hinsicht: von dem Andrang von Millionen von Migranten bis zur Enttäuschung der Eliten der westafrikanischen Staaten. Wie im Falle der Aggression gegen Afghanistan und den Irak, wo der Westen sich eigenhändig riesige, langanhaltende Probleme schuf, ohne daraus einen geopolitischen Vorteil zu ziehen, schadete das libysche Abenteuer der Position des Westens in einem großen Teil der Sahara und der Sahelzone. Dies erleichterte den Einstieg Russlands in die Region – und dafür kann sich Borrell nur bei Europa bedanken, das den Traum von einem geeinten Mittelmeerraum durch eine militärische Intervention verwirklichen wollte.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 27. August 2024 zuerst auf RIA Nowosti erschienen.

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