Meinung

Odessa, Riga, Europa: Verbotene Straßenmusik auf Russisch

Das Ende der DDR hatte einen Auslöser. In Leipzig wollten im Sommer 1989 SED-Funktionäre Straßenmusikern ihre Auftritte verbieten, diese protestierten und bekamen Zuspruch. Einige Wochen später gab es die SED nicht mehr. Vielleicht zeichnet sich in Odessa und Riga aktuell Ähnliches ab.
Odessa, Riga, Europa: Verbotene Straßenmusik auf RussischQuelle: www.globallookpress.com © snapshot-photography/ T.Seeliger

Von Marina Achmedowa

In Lettland will man Straßenlieder in russischer Sprache verbieten.

Die lettische Dichterin Liāna Langa hat sich mit dieser Forderung an den Stadtrat von Riga gewandt. Es ist nicht das erste Mal, dass Langa, eine weitgehend Unbekannte, sich an den Stadtrat wendet. Ihre Forderung wird von Edvards Ratnieks, dem Vizebürgermeister der Stadt Riga, unterstützt. Und nun kommt es so weit, dass Straßenlieder in russischer Sprache in Lettland verboten werden, und die Letten verdanken dies der wachsamen Frau Langa, die während der "sowjetischen Besatzung" Gedichte schrieb, die niemand brauchte – und niemand hinderte sie daran, sie auf Lettisch zu veröffentlichen.

Langa hat eine geistige Zwillingsschwester in der Ukraine – die Bloggerin Julia Karawadschak, die, wie sie über sich selbst sagt, viele Jobs und verschiedene Berufe ausprobiert hat und sich im Kampf gegen die russische Sprache wiederfand.

Neulich ging Julia die Deribassowskaja-Straße in Odessa entlang, wollte eine Torte kaufen und fühlte sich glücklich. Doch plötzlich vernahm sie "schrecklichen Lärm": Straßenmusiker spielten Lieder von Wiktor Zoi auf der Gitarre. Hätte Julia nicht ihr ganzes Leben in Odessa verbracht, hätte sie gedacht, dass hier alle so abnormal sind. Ich meine, nicht so wie sie. Wie die Musiker, die Zoi singen. Wie die Leute, die seelenruhig die Deribassowskaja-Straße entlanggehen, als ob nichts Schlimmes passieren würde. Und wie die Passanten, die den Musikern Geld in den Hut werfen. Wie die Musikanten selbst – dünne Kerle, nicht im Geringsten unterscheiden sie sich von den Straßenmusikern, auf die man irgendwo am Eingang der Moskauer Metro treffen könnte.

Der Abend floss durch die Deribassowskaja-Straße, gelb im Licht der Laternen. Die Pflastersteine des Bürgersteigs glitzerten, Spaziergänger flanierten in gemessenem Tempo. Eine Gitarre wurde gezupft, ein Lied wurde gesungen. Ein so altes, vertrautes Lied, dass es egal war, in welcher Sprache es ertönt – seine Musik, seine Worte haben sich Generationen eingeprägt. Ein Lied so vertraut, dass man in ihm einen Teil von sich selbst, seiner Welt, seiner langen Erinnerung erkennt. Auch in Odessa und niemand störte sich daran.

Bis Karawadschak mit ihrem Handy auftauchte und es den Musikern ins Gesicht hielt.

"Ich erlaube nicht, mich zu filmen", sagte einer der Straßenmusikanten.

"Und ich erlaube Ihnen nicht, Lieder auf Russisch zu singen", erwiderte Karawadschak.

"Das sind ukrainische Interpreten auf Russisch", antwortete der Musiker.

"Wer?", fragte die Sprachaktivistin.

"Walentin Strykalo", antwortete der Mann. "Boombox."

"Super. Und was ist mit Zoi?", fragte Karawadschak.

"Zoi ist Sowjetbürger", antwortete ihr der Musiker.

"Und?", zischte Karawadschak aggressiv.

Karawadschak ist eine gefährliche Frau. Sie sagt, sie sei nur wegen einer Torte in die Deribassowskaja gekommen. Aber es ist nicht das erste Mal, dass sie Russischsprachige anprangert. Kürzlich besuchte ich eine Veranstaltung des Business-Coaches Witali Stupajenko, und als einer der Schulungsteilnehmer auf Russisch sprach, sprang Karawadschak mit einem Telefon auf und schrie:

"Ich verstehe den Moskal nicht!"

"Nun, ich halte Sie hier nicht auf", antwortete ihr der Referent und erntete dafür Applaus vom Publikum.

Karawadschak wurde rausgeschmissen, aber sie stellte das Video ins Internet. Und jetzt droht der oberste ukrainische Ombudsmann für Sprachen, Taras Kremin, den Business-Coaches mit einer harten Reaktion. Die Coaches hatten Angst vor Kremins Reaktion und entschuldigten sich schnell, während Karawadschak berühmt wurde und ihren Kampf gegen die russische Sprache fortsetzte, zumal er ihrem Blog, ihrer Einkommensquelle, zu mehr Popularität verhilft.

Sie hat selbst zugegeben, dass sie die Schulung nur besucht hat, um einen Skandal zu provozieren. Sie ist sicher nicht wegen einer Torte auf der Deribassowskaja aufgetaucht. Sie ist nicht die Art von Ukrainerin, die, wenn sie einen Russen hört, vor Schreck in Ohnmacht fällt und, wenn sie wieder zur Vernunft kommt, einen Skandal provoziert. Karawadschak sucht, wie ihre lettische geistige Schwester Langa, gezielt nach russischsprachigen Menschen. Dabei war sie jedoch unvorsichtig und verdeckte ihre Tattoos und Piercings nicht, an denen ukrainische Nutzer sie als das Webcam-Model wiedererkannten, das seinen Lebensunterhalt als Online-Prostituierte verdient. Sie begannen, für sie massenhaft Termine bei Gynäkologen in Kliniken in Odessa zu buchen, um zu zeigen, wie sie über ihren "Kampf" denken.

So sieht derzeit der stille Widerstand, so sieht die Verteidigung der russischen Sprache gegen Hassprediger wie Karawadschak in Odessa aus.

Marina Achmedowa ist Schriftstellerin, Journalistin, Mitglied des Menschenrechtsrates der Russischen Föderation und seit Kurzem Chefredakteurin des Nachrichtenportals regnum.ru. Ihre Berichte über die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin und ihre Reisen durch die Krisenregion kann man auf ihrem Telegram-Kanal nachlesen. 

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel wurde für den TG-Kanal "Exklusiv für RT" verfasst.

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