Meinung

Russlands Schweizer "Niederlage"

Auf den ersten Blick waren die Ergebnisse der Schweizer Friedenskonferenz dürftig. Westliche Medien versuchten im Anschluss, das Ereignis schönzureden. Wie verzerren solche Wunschbilder das eigene Verhältnis zur Wirklichkeit?
Russlands Schweizer "Niederlage"Quelle: AFP © Dimitar DILKOFF

Von Rüdiger Rauls

Auf den ersten Blick waren die Ergebnisse der Schweizer Friedenskonferenz dürftig. Westliche Medien versuchten im Anschluss, das Ereignis schönzureden. Wie verzerren solche Wunschbilder das eigene Verhältnis zur Wirklichkeit?

Fehlannahmen und Tatsachen

Über 160 Staaten weltweit waren in die Schweiz eingeladen worden. Die Front gegenüber Russland sollte ausgebaut und gefestigt werden. Es ging auch um mehr Geld und Waffen. Klar war für die Veranstalter von Anfang an, dass Russland nicht teilnehmen sollte. Es schien das Anliegen Selenskijs und des politischen Westens zu sein, am Bürgenstock möglichst viele Unterstützer hinter sich scharen zu können. Vielleicht hat das Schweizer Treffen die Erwartungen erfüllt, aber auf dem Weg zum Frieden ist man keinen Schritt weiter gekommen.

Frieden stand offensichtlich gar nicht auf der Agenda. Dazu wäre es unabdingbar gewesen, auch Russland als die entscheidende am Konflikt beteiligte Partei einzuladen. Wie soll es ohne die Einbeziehung des militärischen Gegners zu Verhandlungen über die Einstellung der Kampfhandlungen kommen? Russlands Teilnahme war nur vorgesehen unter der Bedingung, dass es Selenskijs Friedensplan akzeptierte. Das aber hätte Kapitulation bedeutet. Angesichts der Kräfteverhältnisse, die sich immer mehr zum Nachteil der Ukraine entwickeln, sieht man in Moskau dazu keinen Grund.

Ähnlich sahen das auch viele der Geladenen, darunter China. Sie sagten ihre Teilnahme ab. Damit hatte anscheinend im politischen Westen niemand gerechnet, und entsprechend nervös wurde man. Diese Absagen stellten noch deutlicher die Frage in den Vordergrund, was bei einer Konferenz herauskommen soll, bei der entscheidende politische Kräfte nicht anwesend sind. Aber gerade deshalb musste die Konferenz trotzdem stattfinden. Denn anderenfalls hätte man sich mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass Russland nicht so isoliert ist, wie man sich immer wieder selbst versichert.

Nun begann das interessante Spiel mit der Verdrehung der Tatsachen. Wenn diese schon nicht geleugnet werden können, so müssen sie doch wenigstens passend umgedeutet werden. Das ist eine Aufgabe für die Meinungsmacher in Medien und Politik. Dass Russland nicht eingeladen worden war, wurde nun so begründet, dass es ohnehin nicht teilgenommen hätte, weil Russland ja keinen Frieden wolle.

In dieser Sichtweise blendet man kurzerhand alle Erklärungen Moskaus aus, auch die praktischen Handlungen wie die Konferenz in Istanbul im Jahre 2022 oder auch die Minsker Abkommen in den Jahren vor dem Kriegsbeginn, die alle getragen waren vom Interesse am Frieden. Um Recht zu behalten, zieht man es vor, Teile der Wirklichkeit unter den Tisch fallen zu lassen. Man schränkt die eigene Sicht immer weiter ein und nimmt sich damit die Möglichkeiten, die Wirklichkeit selbst mit zu gestalten. Der politische Westen manövriert sich selbst in die Defensive.

Umdeuten der Wirklichkeit

Alle diese Tatsachen bedeuten aber nichts gegenüber der verblüffenden Argumentation Selenskijs: "Wenn Russland am Frieden interessiert wäre, gäbe es keinen Krieg." Diese scheinbar logische Sichtweise griff der britische Telegraph gerne auf, ebenso wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die beide – vermutlich nicht als einzige – ihren Lesern diese Sichtweise Selenskijs als Deutung anbieten. Es wird also aus einer Behauptung eine Tatsache gemacht, nur um den Tatsachen selbst nicht Rechnung tragen zu müssen. Dieses Vorgehen ist kein Einzelfall. Auf diesem Muster beruhen viele jener Weltbilder, die die westlichen Medien schaffen oder verbreiten.

Annahmen werden zu Tatsachen aufgebaut, auf denen weitere Erklärungsversuche aufsetzen für die Vorgänge in der Welt. Der Pferdefuß an diesem Vorgehen aber ist, dass die aus diesen Annahmen entstandenen Weltbilder ein vollkommen falsches Bild von der Wirklichkeit abgeben. Dadurch werden die Vorgänge immer weniger verständlich und widersprüchlicher. Andererseits müssen auf diese Weltbilder auch immer weitere mehr oder weniger realitätsferne Erklärungen aufgesetzt werden, um die eigenen Theorien wieder in die Vorgänge in der Welt einpassen zu können.

Anhand solcher zu Tatsachen umgemünzten Annahmen hat sich in den Köpfen westlicher Meinungsmacher unter anderen die Vorstellung verfestigt, dass Putin keinen Frieden, er vielmehr die Sowjetunion wieder erstehen lassen will und darüber hinaus sogar plant, die Ukraine insgesamt zu erobern und auf NATO-Gebiet vorzudringen. Was in dieses Bild nicht passt, wie die Absagen Putins an diese Pläne, wird ausgeblendet oder aber umgedeutet. Damit wird es dann wieder stimmig. So werden die Grundlagen des eigenen Weltbildes geschützt, und die eigenen Sichtweisen müssen nicht in Zweifel gezogen werden. Das ist durchgängig.

Niederungen westlichen Denkens

In diesem Stil berichtet beispielsweise die FAZ ausführlich über den Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin bei seinem nordkoreanischen Kollegen Kim Jong-un. Der Verfasser des Beitrags, Jochen Stahnke, erwähnt, dass Putin mit mehrstündiger Verspätung in Pjöngjang eintraf. Den Grund dafür erfährt der Leser nicht, er scheint auch den Autor nicht zu interessieren, aber Stahnke bietet gleich eine Deutung des Vorgangs an: "Putin erkennt Nordkoreas Diktator nicht als gleichwertig an." Er überträgt seine eigenes, westliches Herrschaftsdenken auf den russischen Präsidenten. Seine Begründung für die Verspätung gilt als Tatsache und wird dann auch nicht mehr in Frage gestellt.

In diesem Zusammenhang und auf der Grundlage desselben Denkens wird eine Erklärung für Putins Besuch in Nordkorea vom amerikanischen Außenminister Antony Blinken zitiert: "Der Russe handle aus Verzweiflung, indem er Beziehungen zu Staaten wie Nord-Korea vertiefe." Wie Blinken darauf kommt, steht in den Sternen, ebenso wie die Behauptung, dass Nord-Korea "mehr als elftausend Container mit Munition und dutzende Raketen nach Russland geschickt" haben soll. Südkoreas Verteidigungsminister Shin Won-sik setzt noch einen drauf und spricht sogar von "rund fünf Millionen Artilleriegeschossen".

Wenn auch diese Behauptungen bisher nie belegt werden konnten und von den beiden Staaten jedes Mal als falsch zurückgewiesen wurden, so werden sie trotzdem ständig ungeprüft wiederholt. Weil ihnen im eigenen Umfeld nicht widersprochen wird, erhalten sie den Rang einer Tatsache. Dasselbe gilt auch für Russlands angebliche Pläne, die Ukraine zu vernichten und den Westen zu überfallen. Man kann nun darüber streiten, ob es sich dabei um bewusste Täuschungen der Öffentlichkeit handelt. Wahrscheinlicher und menschlicher ist, dass die ständige Wiederholung solcher Vermutungen dazu führt, dass man am Ende selbst glaubt, was man sich eingeredet hat.

Nun könnte man so reagieren: "Sollen sie doch ihren eigenen Unsinn glauben und damit an der Wirklichkeit scheitern." Versetzte solches Denken nur den Stammtisch in Wallung, könnte es vernachlässigt werden. Auch wenn es viele der hiesigen Kritiker nicht glauben wollen, weil sie ähnlich in ihren Weltbildern verfangen sind, aber die westlichen Führungskräfte glauben tatsächlich selbst, was sie denken, und das macht ihre Selbsttäuschung gerade erst so gefährlich.

Sie sind überzeugt, dass die Bedrohung durch Russland, die sie sich einreden, tatsächlich besteht. Wer sich der Wahrheit bewusst ist, kann nicht durchgängig und dauerhaft lügen. Das kann nur, wer die eigene Sichtweise für die Wahrheit hält. Aber solche Trugschlüsse führen nicht nur zur eigenen Schwächung sondern auch zu Fehleinschätzungen, die in diesem zugespitzten Konflikt um die Vorherrschaft auf dem Planeten zu verheerenden Fehlentscheidungen führen können.

Die Auswirkungen solcher Verwirrungen sehen wir in Aussagen wie jener von Antony Blinken: "Wir werden weiterhin alles tun, …, um Ländern wie Iran und Nordkorea die Unterstützung zu entziehen." Will er nicht wahrhaben, dass das immer weniger gelingt? Sie äußern sich auch in den fortgesetzten Vorstellungen westlicher Überlegenheit, die selbst nicht vor Asiaten Halt macht. So glaubt das südkoreanische Außenministerium, Chinas Interessen besser zu kennen als die Chinesen selbst, und belehrt diese, dass "die militärische Kooperation zwischen Russland und NordKorea gegen Chinas Interessen läuft."

Punktsieg für Russland

Aber trotz aller klugen Ratschläge, Drohungen und politischer Schaumschlägerei bleiben der westlichen Politik die Erfolge verwehrt – in der Ukraine und auch global. Selbst über die Wirkung der Konferenz in der Schweiz verbreitet sich allmählich Realismus, nachdem die anfänglichen Jubelgesänge verstummt sind. Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass alle Konferenzen kein Ende des Krieges bringen werden, wenn Russland nicht einbezogen wird. Russland ist nicht so isoliert, wie man es sich in Berlin, Brüssel und Washington immer wieder einreden will. Vielmehr rückt die Weltgemeinschaft zunehmend vom Westen ab.

So musste denn gar der Kommentator der FAZ, Alexander Haneke, ernüchtert feststellen: "Rund hundert Staaten, die teilnahmen, sind weit weniger als die 141 UN-Mitglieder, die noch zum Jahrestag des Überfalls einen Rückzug Russlands gefordert hatten." Von den über 160 eingeladenen Ländern waren nur 92 gekommen, davon nur 57 vertreten "durch Staats- oder Regierungschefs und Dutzende Minister". Von diesen unterzeichneten dreizehn die offizielle Abschlusserklärung zum weiteren Umgang mit Russland nicht. Die Welt hat offensichtlich andere Sorgen.

Hatte man es noch vor Beginn der Konferenz als politischen Erfolg gegenüber Russland gewertet, dass selbst russlandfreundliche Staaten wie Indien, Südafrika, Mexiko, Saudi-Arabien und andere in die Schweiz gekommen waren, so sah man am Ende viele lange Gesichter. Denn die von Russland zwischenzeitlich veröffentlichten Friedensbedingungen hatten den Versammelten am Bürgenstock ordentlich die Petersilie verhagelt.

Die Konferenz, die Putin beeindrucken sollte, machte offensichtlich überhaupt keinen Eindruck auf diesen. Seine Bedingungen für die Einstellung der Kampfhandlungen machen deutlich, dass man sich vom Westen durch solche Veranstaltungen nicht ins Bockshorn jagen lässt. Stattdessen fordert der russische Präsident gerade solche territorialen Zugeständnisse, die im Gegensatz zu allen Forderungen des Westens und Selenskijs stehen.

Russland will nicht nur behalten, was es schon hat, sondern darüber hinaus auch das, von dem man glaubt, dass es Russland zusteht. Es geht um die vier Regionen im Osten der Ukraine, deren Bevölkerung für die Zugehörigkeit zu Russland gestimmt hatte. Man fordert das gesamte Gebiet bis zu seinen Grenzen von 1991, also auch jene Teile, die bisher noch von ukrainischen Truppen gehalten werden. Darüber hinaus stellte Putin klar, dass dieses Angebot zeitlich begrenzt ist.

Die bisherige Entwicklung des Krieges hat gezeigt, dass es für die Ukraine jedes Mal vorteilhafter gewesen wäre, hätte sie Russlands Angebote angenommen. Auf diese Erfahrung scheinen Russlands Bedingungen zu setzen, aber auch auf die Erkenntnisse über die Entwicklung an der Front und die Schwierigkeiten der westlichen Unterstützung. Die Entrüstung im politischen Westen über Putins Auftreten war groß. Moskau zeigt sich von dem Konferenz-Reigen im Westen ziemlich unbeeindruckt. All das sieht nicht nach einer Niederlage Russlands am Bürgenstock aus.

Nach der ersten Empörung wird nun versucht, diese Demonstration russischer Unerschrockenheit herunter zu spielen. Die Vorschläge Putins werden in der westlichen Öffentlichkeit kaum noch behandelt. Und dennoch scheinen sie weiter zu wirken, als das Schweigen darüber im politischen Westen den Eindruck erweckt. Denn als nächster Tagungsort wird Saudi-Arabien ins Gespräch gebracht und damit ein wirklich neutraler, eher russlandfreundlicher Vertreter.

Bei der Abschlusserklärung in der Schweiz hatten sich nun auch vermehrt Gipfelteilnehmer dafür ausgesprochen, "alle Parteien – also auch Russland – einzubeziehen, um einen Frieden zu erreichen." Das ist neu und insofern wäre der Gipfel doch noch ein Erfolg gewesen, aber für Russland. Der Westen hatte sich vermutlich etwas anderes erhofft. Ihm bleibt aber nicht mehr viel Zeit. Die Front in der Ukraine wird brüchiger, Russlands Druck stärker, der Strom an Waffen und Munition aus dem Westen dünner und das Geld knapper. Das ist die Wirklichkeit, und sie passt nicht zu dem Bild, das sich die Meinungsmacher im Westen selbst zurechtbasteln. 

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

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